Ist Krems besser als sein Ruf? Der Versuch eines Resümees

Am Ende dieser Detailstudie über die Juden der Gauhauptstadt Krems bleiben eine Menge offener Fragen. Sich dieser Tatsache bewußt zu sein, bedeutet gleichzeitig, den Prozeßcharakter der Geschichtsforschung zu akzeptieren. Neben zusätzlichen Informationen, die zu einzelnen Familien und Vorgängen noch gefunden werden können, drängt sich auch die Frage auf, inwieweit die Judenverfolgung in Krems sich von der in anderen Kleinstädten in Niederösterreich unterschieden hat. Eine Möglichkeit des Vergleichs bestünde nun in einer Untersuchung der Tatsache, wie schnell und bereitwillig die von übergeordneten Stellen angeordneten Befehle zur Verfolgung der Juden von den lokalen Behörden ausgeführt wurden, oder ob Anordnungen durch bürokratische Maßnahmen hinausgezögert wurden. Die dürftige Quellenbasis für Krems und die fehlenden Vergleichsstudien zu anderen niederösterreichischen Kleinstädten weisen dieses Vorhaben als Projekt für die Zukunft aus. Vorsichtige Rückschlüsse auf die Besonderheiten in bezug auf die Behandlung der Juden lassen die im Band "Widerstand und Verfolgung in Niederösterreich" publizierten Listen über die Vertreibung der Juden vom März 1938 bis zum Jahr 1940, die auf Angaben der Israelitischen Kultusgemeinde beruhen. Diese Daten und ihr Vergleich erscheinen als eine Möglichkeit, den Terror meßbar zu machen, denn die unterschiedliche Bereitschaft der Juden, bereits vor dem Pogrom im November 1938 die Heimatstadt zu verlassen, muß wohl auf die unterschiedliche Intensität der Judenhetze zurückgeführt werden. Die im folgenden angestellten Überlegungen mögen als Denkanstoß im Prozeß der Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus angesehen werden.

Die Vertreibung der Juden aus Niederösterreich

Gänserndorf1934 » 334 / 1938 » 120 / vertrieben » – / 1.11.1938 1 » –
Hollabrunn1934 » – / 1938 » 334 / vertrieben » rund 134 / 1.11.1938 1 » rund 200
Horn1934 » 134 / 1938 » – / vertrieben » – / 1.11.1938 1 » rund 40
Mistelbach1934 » 308 / 1938 » – / vertrieben » – / 1.11.1938 1 » 138
Waidhofen1934 » – / 1938 » – / vertrieben » – / 1.11.1938 1 » 202
Amstetten1934 » – / 1938 » 200 / vertrieben » 30 / 1.11.1938 1 » rund 170
Tulln1934 » – / 1938 » 300 / vertrieben » 49 / 1.11.1938 1 » 251
Neunkirchen1934 » – / 1938 » 141 / vertrieben » 89 / 1.11.1938 1 » 52
Stockerau1934 » – / 1938 » – / vertrieben » – / 1.11.1938 1 » 61
Krems1934 » – / 1938 » 116 / vertrieben » 51 / 1.11.1938 1 » 65
Wiener Neustadt1934 » – / 1938 » 646 / vertrieben » 231 / 1.11.1938 1 » 415

Für Niederösterreich ergibt sich in bezug auf die Vertreibung der Juden folgendes Bild, wobei auch die Tatsache zu berücksichtigen ist, daß zwischen Städten, die innerhalb des 50 Kilometer breiten Korridors entlang der tschechoslowakischen Grenze gelegen sind, und den übrigen Städten und Orten unterschieden werden muß, da die Vertreibung der Juden innerhalb der 50 Kilometerzone neben rassischen Überlegungen auch mit dem Sicherheitsfaktor begründet wurde. Demnach verließen 43,9% der Juden, die im März 1938 noch in Krems lebten, die Stadt, 40,1% die Stadt Hollabrunn und 35,7% der Juden die Stadt Wiener Neustadt im selben Zeitraum, während es in Neunkirchen 63,1% gewesen sein dürften. Die Vergleichszah-len mit anderen niederösterreichischen Städten zeigen, so weit die publizierten Listen stimmen, daß es sich dabei um Spitzenwerte handelt, denn "nur" 18% der Juden von Tulln und 15% der Juden von Amstetten entschlossen sich in diesem Zeitraum, ihre Stadt zu verlassen.

Juden in Niederösterreich im März 1940

Baden » 43
Amstetten und Umgebung » 53
Korneuburg » 6
Krems » 16
Stockerau » 4
St. Pölten mit eingemeindeten Gemeinden » 38
St. Pölten Umgebung » 58
Wiener Neustadt und Umgebung » 21
Tulln und Umgebung » 23

Werden nun die Zahlen der Statistik der Kultusgemeinde Wien über die im März 1940 noch in Niederösterreich lebenden Juden in Vergleich gesetzt zum Wochenbericht der Kultusgemeinde vom 1. November 1938 so kommt man zum Schluß, daß von den beim "Anschluß" in Wiener Neustadt lebenden Juden nur mehr 3,2% noch in der Stadt und in der Umgebung anzutreffen waren, während es in Krems immerhin noch 10% der Juden waren. Noch eklatanter wird der Unterschied, wenn man von den Anfang November in der Stadt lebenden Juden ausgeht. Von den 65 Juden in Krems lebten im März 1940 immerhin noch 24,6% in der Stadt, während es vergleichsweise in Wiener Neustadt nur 5% waren. Ist die Gauhauptstadt Krems, das Zentrum der illegalen Bewegung, besser als ihr Ruf? Einen Beleg für diese Nachlässigkeit, was das Streben der Gauhauptstadt, judenfreie Stadt zu werden, betrifft, kann auch in der Land-Zeitung gefunden werden, wenn zum Beispiel der Stadtarchivar Dr. Plöckinger in einem Artikel über die historische Vertreibung der Juden aus der Stadt geradezu nostalgisch zu dem Schluß kommt: "wie einig war man sich im Mittelalter in der Freude über die Entfernung des Volksfeindes."2 In dieselbe Richtung zielt auch die Ankündigung einer Wanderausstellung des rassenpolitischen Amtes in Krems Anfang des Jahres 1939, in der es hieß: "daß es den Gegener des Nationalsozialismus noch vielfach gelingt, auf dem Gebiet der Rassenlehre und der nationalsozialisti-schen Rassenpolitik die Dinge und Begriffe zu verwirren und oft sogar bis in unsere Reihen hinein Unheil zu stiften."3 Nach der Erfassung der "Glaubensjuden" im Jahr 1940 wurden auch die restlichen Juden aus Krems geholt und nach Wien gebracht. Durch die Tatsache, daß in Krems kein Büro der Gestapo untergebracht war, wurden, soweit bisher bekannt ist, von Krems nur in einigen wenigen Fällen Personen direkt in ein Konzentrationslager gebracht. Die Juden mußten Krems verlassen und nach Wien übersiedeln, von wo sie dann deportiert wurden, sofern ihnen nicht die Ausreise, beziehungsweise Flucht geglückt ist. Verhaftungen wie noch im Jahr 1942 in Wiener Neustadt "wegen aufreizenden Verhaltens gegenüber der arischen Bevölkerung" wie dies im Fall der vier Familienmitglieder der Familie Ignaz Seckl für Wiener Neustadt belegt ist, gibt es in Krems nicht. Somit muß, auf der Grundlage der bislang zugänglichen Materialien, eine differenzierte Bewertung der Judenverfolgung in Krems angestellt werden. In Krems erreichte der brutale, handgreifliche Antisemitismus vom März bis zum November 1938 ein derartiges Ausmaß, daß mehr als 40 Prozent der Juden die Stadt verließen, nach dem Pogrom im November dürfte den verbliebenen Juden kein großes Augenmerk mehr geschenkt worden sein. Ob diese Zahlen bereits Rückschlüsse auf die Politik der lokalen NSDAP-Führer und der Stadtverwaltung erlauben, kann nicht gesagt werden, da für diese Zurückhaltung, die mangelnde Freude über die Vertreibung, wie sie im Artikel in der "Donauwacht" angesprochen wurde, sonst keinerlei Hinweise gefunden wurden, auch die Interviews in dieser Richtung keine Aufschlüsse erlauben. Eine Variante, die auch noch in Betracht gezogen werden müßte, ist die Tatsache, daß es sich bei den verbliebenen Kremser Juden um Personen handelte, deren Durchschnittsalter bei über 60 Jahren lag, wobei 85 Prozent Frauen waren, die in der Stadt nicht so bekannt waren wie die vertriebenen Geschäftsleute. Ob hier Nachlässigkeit oder Vergeßlichkeit am Werk war, bleibt dahingestellt, jedenfalls wurden alle Juden nach der verordneten Erfassung durch die Kultusgemeinde aus Krems deportiert, während in Wiener Neustadt noch im Jahr 1942 Juden anzutreffen waren. Während bislang nur die Vertreibung der Juden nach dem "Anschluß" untersucht wurde, darf jedoch nicht vergessen werden, daß der Antisemitismus kein Importprodukt aus Deutschland war, sondern zu einem Markenartikel Österreichs zählte. Für Krems kann in diesem Zusammenhang festgestellt werden, daß mehr Juden die Stadt vor dem Einmarsch der Deutschen verließen als im Zeitraum von März bis November 1938, denn seit 1930 waren 55 Juden ausgewandert oder vorwiegend nach Wien übersiedelt, während die Terrorpolitik des Nationalsozialisten "nur" 51 Juden aus der Stadt vertreiben konnte. Aufgeschlüsselt nach Jahren ergibt sich folgende Verteilung des Exodus der Juden von Krems vor 1938, wobei die Prozentzahlen immer den Anteil der Juden angeben, die der Stadt Krems den Rücken kehrten, kehren mußten.

Flucht der Juden aus Krems 1930 – 1937

1930 » 3,6%
1931 » 5,4%
1932 » 14,5%
1933 » 21,8%
1934 » 20%
1935 » 9%
1936 » 12,7%
1937 » 12,7%

So verließen im Jahr 1930 3,6 Prozent der in der Stadt lebenden Juden ihre Heimat. Im Vergleich mit den Jahren vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich stechen besonders die Jahre 1932-1934 ins Auge. In diesen Jahren emigirierten vor allem jene Familien nach Palästina, wie die Interviews zeigten, die durch ihre im Geiste der zionistischen Jugendbewegung erzogenen Kinder motiviert waren.

ANMERKUNGEN

1 Diese Angaben beziehen sich auf den "Wochenbericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien betreffend Kultusgemeinden in Niederösterreich am 1. November 1938."
2 Donauwacht 11.11.1939.
3 Donauwacht 6.1.1939.