35. Gabriele Anderl: Anorldstein und retour Die Flucht auf der ‚Draga‘ und der ‚Ely‘

Gabriele Anderl:
Anorldstein und retour
Die Flucht auf der ‚Draga‘ und der ‚Ely‘
Fritz und Abraham Nemschitz gelang ebenfalls per Schiff bereits im November 1938 die Flucht nach Palästina. Für Fritz Nemschitz hatte die Flucht bereits Wochen vorher begonnen und in Arnoldstein geendet, da die Italiener die Einreise verweigerten, weil das Schiff für die Weiterfahrt nach Palästina nicht bereitstand. Nach der Rückkehr nach Wien wurde die Gruppe reorganisiert und konnte schließlich noch vor dem Novemberpogrom auf zwei DDSG-Dampfern Wien verlassen. Unter den 1000 Jugendlichen befanden sich die beiden Kremser Fritz und Abraham Nemschitz. Die Hintergründe und die organisatorischen Vorbereitungen für diese von Willy Perl und der revisionistischen Jugendbewe-gung durchgeführten Transporte leuchtet Gabriele Anderl in ihrem Beitrag aus.

Nachdem Willy Perl Österreich verlassen hatte, um vom Ausland aus, weitere Palästina-Transporte zu organisieren, kam es unter den in Wien verbliebenen Mitarbeitern seines Büros zu einem Eklat: sie stießen Mosche Krivoshein (Deckname Galili), einen der Initiatoren der illegalen Alija, aus dem Unternehmen aus. Perl empörte sich, denn er schätzte Krivosheins organisatorisches Talent und seine guten Kenntnisse des Schmugglermilieus und der Verhältnisse in den Balkanländern. Paul Haller hatte den Vorfall provoziert. Auch er gehörte zum extremen Flügel der österreichischen Revisionisten und war ein brillianter Ideologe‘, besaß aber wenig praktische Erfahrung bei der Organisierung von Transporten. Er erhielt von Eichmann die Erlaubnis, zur Beschaffung von Schiffen nach Griechenland zu fahren. In Athen leistete er für den Dampfer „Socrates“ eine Vorauszahlung von 2.000 Pfund. Das Schiff sollte zu einem bestimmten Termin nach Fiume fahren und von dort 1.000 illegale Einwanderer nach Palästina bringen. Inzwischen waren 220 ideologisch gut vorbereitete Jugendliche aus der revisionistischen Jugendbewegung „Betar“ in einer dramatischen Reise mit mehreren gefährlichen Grenzübertritten aus Osteuropa, großteils aus Polen, nach Fiume gebracht worden? Perl befand sich zu diesem Zeitpunkt in London. In Wien war bereits eine weitere Gruppe von 800 Personen reisefertig und wurde von der Gestapo unter An-drohung der Einweisung in ein Konzentrationslager zur baldigsten Abfahrt gedrängt. Nun stellte sich heraus, daß Haller Gaunern aufgesessen war, die sich als Besitzer eines Schiffes ausgegeben hatten, das ihnen gar nicht gehörte. Nun waren sowohl das Schiff wie die wertvollen Devisen, die die deutsche Nationalbank für diesen Transport aufgrund einer Sondergenehmigung zur Verfügung gestellt hatte, verloren. Die in Wien wartende Gruppe, die über all diese Vorgänge nicht informiert war, wurde von Wien aus in einem Spezialzug Richtung Fiume auf den Weg geschickt. An der Grenze, in der kleinen Station Arnoldstein, wurde der Transport gestoppt: die Italiener verweigerten die Einreise, weil an der Adria kein Anschlußschiff bereitstand. Der Zug blieb in der Grenzstation etwa zwei Wochen lang stehen, Eichmann drohte täglich, den ganzen Zug nach Dachau zu leiten. Zugleich drohten die Italiener, die 220-Betar-Leute nach Polen zurückzuschicken. Es gelang Perl und seinen Mitarbeitern, einen neuen Partner aus dem griechischen Schiffsgeschäft zu gewinnen: den großen Reeder Davaris und seinen Vertreter, Constan-tine Nikolopoulos. Es wurde vereinbart, daß der Dampfer „Draga“, ein altes, aber gutes Schiff von 230 Tonnen, sofort nach Fiume geschickt würde. Darüber hinaus versprach der Reeder, sich das Geld, um das Haller betrogen worden war, von den Gaunern zurückzu-holen und die Summe als Anzahlung für die „Draga“ zu akzeptieren. Einen Tag, bevor die „Draga“ in Fiume eintraf, beorderte Eichmann den Zug von Arnoldstein zurück nach Wien, um, wie er es genannt haben soll, „die Komödie zu beenden“.3 Nach ihrer Rückkehr wurde die Gruppe für einen neuen Transport reorganisiert, nachdem die Gestapo einem weiteren Auswanderungsversuch zugestimmt hatte. Die „Draga“ kam am 20. September 1938 in Fiume an. Die 220 Jugendlichen aus Polen, Litauen und Lettland gingen gemeinsam mit 26 weiteren jüdischen Flüchtlingen an Bord. Auf dem Schiff, das nur zur Hälfte gefüllt war, befand sich auch ein junger, schweigsamer Mann, der sich „Johnny“ nannte. Erst als sich das Schiff der palästinensischen Küste näherte, gab er seine Identität preis. Er war in Wirklichkeit Schmuel Tagansky, gebürtig in Palästina und der Vertreter der Landeorganisation, des Irgun Zwai Leumi (der revisionistischen Untergrundarmee in Palästina). Tagansky übernahm nun das Kommando über das Schiff. Während der Reise stellte die Crew Forderungen nach höherer Entlohnung, was Davaris zunächst verweigerte. Das Schiff ankerte daraufhin vor einer kleinen griechischen Insel. Wasser und Vorräte wurden knapp. Davaris mußte letztlich aus Rücksichtnahme auf die Passagiere nachgeben. Durch diese Verzögerung verfehlte die Draga das Landungsschiff „Artemissia“ an dem vereinbarten, etwa 20 Meilen von der Küste entfernten Treffpunkt. Dieses kleine Schiff hatte wieder und wieder die britische Blockade durchbrochen und wurde, wie Perl behauptet, zum meistgejagten Schiff im östlichen Mittelmeer. Auch der zweite Versuch eines Rendezvous‘ klappte nicht. Zwei als Araber verkleidete Reiter und Leute mit Signallampen standen schon an der Küste in Wartestellung. Einige Eged-Busse (bis heute die nationale Bus-Gesellschaft) warteten in der Umgebung auf die Flüchtlin-ge. Die Landung fand erst am Jom Kippur-Tag statt. Perl reiste kurz nach der Abfahrt der „Draga“ von Fiume nach Athen, wo er Davaris und seinen Vertreter kontaktierte. Er arrangierte die sofortige Rückkehr der „Draga“ nach Erfüllung ihrer ersten Mission und die Beschaffung eines weiteren Schiffes, der „Ely“, und veranlaßte die Umgestaltung der beiden Frachtschiffe für den Transport von Perso-nen. Davaris verlangte einen Preis von 12 Pfund pro Passagier. Nach wie vor war die Frage der Transit-Visa ungeklärt. Ein Wiener Mitarbeiter von Perl, der Historiker Dr. Paul Diamant, hatte die Idee, die Donau, die aufgrund einer internatio-nal ratifizierten Konvention als freier Wasserweg galt, zu benutzen. Die „Draga“ sollte nach Galatz in Rumänien, mehr als 100 Kilometer stromaufwärts von Sulina, fahren. 1.000 Flüchtlinge sollten von Wien nach Galatz kommen, die 800 „Arnoldsteiner“ plus 200 weitere. Einige Mitarbeiter Perls machten inzwischen die Leute für die Abfahrt am 1. November reisefertig. Wenige Tage vor dem Novemberpogrom traf sich die auf 1.090 Menschen angewachsene Gruppe, bestehend hauptsächlich aus Jugendlichen, alle mit Rucksäcken ausgerüstet, bei der Reichsbrücke. Mit zwei DDSG-Raddampfern unter Hakenkreuzfahne, der „Minerva“ und der „Grein“, fuhren sie Richtung Donaudelta ab.4 Während die beiden Schiffe unterwegs waren, wurden in Rumänien hektische Vorberei-tungen getroffen: die Schiffe wurden umgestaltet, Vorräte beschafft. Die behördliche Genehmigung zur Umschiffung der Passagiere mitten auf der Donau mußte besorgt werden. Unter den Flüchtlingen auf der „Minerva“ und der „Grein“ befanden sich auch 150 Häftlinge aus Dachau, deren Freilassung Perl unter der Garantie, sie in seinen nächsten Transport einzureihen, erwirkt hatte. In Rumänien kamen noch weitere 60 Juden hinzu, 46 davon vom „Betar“. Die übrigen stammten aus anderen Ländern und waren in rumänischen Gefängnissen gesessen, weil sie ohne Pässe und Visa die Grenze überschrit-ten hatten, um von Rumänien nach Palästina weiterzufahren. „Johnny“ Tagansky war im Auftrag des Irgun an Bord der „Draga“ geblieben. Die „Draga“, ein 230-Tonnen-Dampfer, sollte dieses Mal 550 Passagiere transportieren. Die Bedingungen auf der „Draga“ und „Eli“, besonders die Raumnot, waren noch nicht so kraß wie bei den meisten späteren Transporten. Die Reise verlief ohne Schwierigkeiten. Bei der Ankunft sollte erstmals ein neuer Landeplatz benutzt werden. Der Strand von Tantura bei Benjamina wurde bereits von der Polizei überwacht. Der neue Platz war in Natanya, eine rein jüdische, damals noch kleine Stadt 20 Meilen nördlich von Tel-Aviv. Der Strand, der von der Stadt aus nicht sichtbar war, lag günstig. Ein Kinobesitzer stellte seinen Saal als Versteck für die Einwanderer nach der Landung bereit. Die Landung der „Ely“ und der „Draga“ funktionierte jedoch nicht reibungslos. Ein Artikel in einer rumänischen Zeitung hatte die Abreise der „Draga“ publik gemacht, womit das Schiff stärker als die „Ely“ exponiert war. Die beiden Schiffe fuhren deshalb getrennt. Die „Draga“ änderte ihren Namen auf „Libertad“ und fuhr, statt unter paname-sischer unter spanischer Flagge. Das Schiff traf die „Artemissia“ am vereinbarten Platz. Wie immer stiegen Frauen und Kinder zuerst um, dann kamen die „älteren“ Leute (bei diesem Transport war noch kaum jemand über 30). Während die „Artemissia“ 300 der 544 Passagiere der „Draga II“ an Land brachte, wurde die „Draga II“ von einem britischen Kriegsschiff entdeckt und mußte sofort losfahren. Obwohl sie sich außerhalb der Dreimei-lenzone befand und infolgedessen nicht angehalten werden konnte, folgte ihr das Kriegsschiff. Der Kapitän der „Draga“ entfernte sich im Zickzack von der Küste. Die Flucht vor dem viel schnelleren Kriegsschiff war aussichtslos, aber zumindest konnte die Aufmerksamkeit von der „Artemissia“ abgelenkt werden, die sich bereits innerhalb der Dreimeilenzone befand. Das Kriegsschiff verfolgte die „Draga“ zwei Tage lang, offenbar damit ihr die Kohle ausgehen und sie einen türkischen Hafen anlaufen würde. Die Briten besaßen zu dieser Zeit gute Kontakte zur Türkei und damit Möglichkeiten, eine Beschlagnahmung des Schiffes zu veranlassen. Die Türken allerdings waren wenig an der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge interessiert. Als das Schiff zwei Tage in einem türkischen Hafen stand, tauchte unerwartet – veranlaßt durch Davaris – die „Ely“ auf und ankerte an der Seite der „Draga“. Obwohl die „Ely“ noch alle 620 Passagiere an Bord hatte, wurden die restlichen 250 von der „Draga“ auf die „Ely“ umgeschifft. Zwei Tage später gelang allen Passagieren der „Ely“ – wieder mit Hilfe der „Artemissia“ – die unbemerkte Landung in Natanya.

Anmerkungen
1 Paul Haller hatte auch ein Buch geschrieben, das kurz vor dem „Anschluß“ erschienen war: Nationalrevolutionärer Zionismus. Untersuchung und Proklamation, Wien 1938.
2 Dort war der junge Menachem Begin, später ein prominenter israelischer Politiker, gerade Kommandant des Betar geworden und hatte selbst die Auswanderergruppe zusammengestellt.
3 Perl berichtet in seinem Buch davon, daß die Gruppe gehungert und gedurstet habe, sich rund um den Zug stinkende Haufen von Exkrementen und Abfällen angesammelt hätten und die Jugendlichen kurz vordem Selbstmord gestanden seien, Paul Haller und sein Bruder Heinrich hätten sich vor physischen Attacken schützen müssen. Teilnehmer des Transportes bestreiten dies. Ihren Berichten nach wurden sie von der einheimischen Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgt und lebten beinahe wie in einem Jugendlager, mit Zählappellen etc.(Perl 1983, S. 96).
4 Perl berichtet, die SS habe bis zur Abreise gedroht: „Sie [die Flüchtlinge] gehen entweder auf die Donau oder in die Donau“. Eichmann soll auch bei der DDSG interveniert haben, um sie zur tatkräftigen Unterstützung der „Entjudungsmaßnahmen“ zu motivieren.

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