Sie sind noch immer und schon wieder unter uns

Anna Elisabeth Haselbach

Der 9. November ist ein Tag, der in uns so vieles wachruft, so vieles aufwühlt, nämlich selbst Erlebtes, Schmerz über selbst Erlittenes und Trauer, Verzweiflung und Beschämung über das was geschehen konnte. Den Initiatoren für die Errichtung des Denkmales am jüdischen Friedhof ist aufrichtig zu danken für ihren Einsatz, denn sie haben sich zu einem eminent wichtigen Grundsatz bekannt. Dem Grundsatz: Niemals vergessen! Das Geschehene ist so grauenhaft, in seiner Dimensionen so unfaßbar, daß das Begreifbarmachen eine große Herausforderung ist. Sie haben diese Herausforderung angenommen. Dafür danke! 129 Menschen, die hier in dieser Stadt gelebt haben, gearbeitet haben, geliebt haben, traurig waren, fröhlich waren, Hoffnungen und Wünsche hatte, so wie alle Menschen, sie hatten auf einmal einen grell leuchtenden Stern an ihrer Brust und man machte sie zum Freiwild für jene, die bösen Willens waren und zum Freiwild für die, die verführt waren. Die meisten dieser Gejagten lebten doch seit Generationen unter uns als Gleiche unter Gleichen ˆ und plötzlich sollten sie verstehen, daß sie Aussätzige, Unerwünschte, Geächtete waren. Die Frage, wie sollen und werden künftige Generationen diesen Tiefstand jemals begreifen können, muß allen Verantwortungsträgern immer gegenwärtig sein, denn für alle Zeiten wird in den Geschichtsbüchern stehen, daß Verfolgung und Mord begangen wurden, im 20. Jahrhundert von Menschen, die behaupteten, Träger einer neuen Kultur zu sein. Daher war die Initiative für die Errichtung dieses Denkmals so wichtig, denn damit wurde in der Vorbereitungszeit Bewußtsein geschaffen. Nur das richtige Bewußtsein, die eigene Betroffenheit kann uns befähigen, heutigen widerwärtigen Erscheinungen entgegenzutreten. Sie sind noch immer und schon wieder unter uns: die Vereinfacher, die Ausgrenzer, die Verhetzer, die rechten Populisten. Diejenigen, die durch Worte den Boden bereiten für die Entfesselung des Unmenschlichen. Diejenigen, die sich, wenn ihre Saat mörderisch aufgeht, zurücklehnen, ihre Hände in Unschuld waschen, um dann daranzugehen, ihr politisches Süppchen ˆ ein widerwärtiges Gebräu ˆ weiterzukochen. Durch die Errichtung dieses Denkmals und durch unser Hiersein geben wir in aller Öffentlichkeit das Bekenntnis ab: Niemals wieder darf Faschismus ˆ ganz gleich in welcher Ausformung ˆ in unserem Land eine Chance erhalten. Niemals wieder dürfen Antisemitismus, Nationalismus und Rassismus die Hirne der Menschen vernebeln und ihre Herzen versteinern. Statt Verhetzung muß der Geist der Toleranz und des demokratischen Verhaltens Grundsatz der Gesellschaft sein. Erteilen wir den Angstmachern, den selbsternannten Schutzpatronen, den Ausmistern eine deutliche Absage, indem wir unermüdlich Aufklärungsarbeit leisten. Wir wissen es doch aus dem Leiden in der Vergangenheit: Unkenntnis verschlimmert Angst, Unkenntnis macht die unsinnigsten Behauptungen und unüberlegtesten Projektionen möglich. Im Niemandsland des Wissens gewinnen nicht die Verteidiger der menschlichen Werte, sondern ganz offensichtlich die Zauberlehrlinge. Diese Herausforderungen, gilt es zu erkennen und anzunehmen! Bei der Vorbereitung auf das heutige Bedenken bin ich auf ein Dokument eines Wiener Kaufmanns im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom gestoßen. Es hat mich durch seinen Knappheit besonders berührt, weil zwischen den Zeilen die ganze Tragödie herausschreit.

„An die Vermögensverkehrsstelle in Wien: Unter Hinweis auf meine im Juli d. J. dortamts eingebrachte Vermögensaufstellung gebe ich höflich die Veränderung bekannt. Am 10. November 1938 wurde mir aus meinem versperrten Geschäftslokal in Wien XIV., Reindorfgasse 32 die Ware beschlagnahmt und weggeschafft. Der Wert dieser Ware beträgt ca. RM 2.300. Ich bitte nun diese Mitteilung gefälligst zu Kenntnis nehmen zu wollen. Hochachtungsvoll. Leopold Blumenschein.“

Auch dieser Raub war der Auftakt für systematisches, organisiertes Verbrechen und Morden. Raub, Bedrohung und Mord schändeten diese Novembernacht. Das Erinnern daran erfüllt uns mit Abscheu und Zorn, aber ˆ und das möchte ich hier vor Ihnen sagen: Die Erinnerung erfüllt mich auch mit einer unendlichen Liebe und Verehrung zu den Menschen, die unerträgliches Leid mit Würde getragen haben, die nicht nach Rache gerufen haben, sondern die durch Mahnungen und Aufklärung dazu beitragen, daß uns und unseren Kindern ähnliches erspart bleibt. Das Leben und Leiden der Juden muß uns ein immerwährendes Vermächtnis sein! Wir müssen und werden bereit sein, all unser Wissen, unser Können, unsere Fähigkeiten einzusetzen für die Menschlichkeit und die Unverletzlichkeit der Menschenwürde. Das, wollen wir heute hier versprechen!

Anna Elisabeth Haselbach war 1995 die geschäftsführende Präsidentin des österreichischen Bundesrates