Ein Leben mit der Erinnerung

Begegnungen mit Anna Lambert

Robert Streibel

Am Anfang stand ein Brief, eine Antwort auf ein Rundschreiben an alle vertriebenen Kremser Juden. Der Brief aus England war mit Maschine geschrieben, die Unterschrift zittrig. Anna Lambert. Nicht ganz eine Seite hatte sie sich abgerungen, denn die Hand wolle nicht mehr so richtig und die Schreibmaschine hätte sie auch schon lange nicht mehr bedient, merkte sie an. Ein Kampf für eine Seite. Doch zwischen den Zeilen Humor und ein starker Wille, sich doch nicht von den Nebenerscheinungen des Alters unterkriegen zu lassen. Anna Lambert nahm, soweit es ihre Kondition zuließ, brieflich regen Anteil an meiner Forschungsarbeit über die Juden von Krems, sie munterte mich auf und schickte mir schließlich ein englischsprachiges Manuskript: den Beginn ihrer Erinnerungen. Vor einigen Jahren habe sie begonnen, ihr Leben für ihre Kinder aufzuschreiben, ihre Kinder sollten wissen, woher sie kämen, wie sie ins Land gekommen seien, denn einmal werde sie nicht mehr sein, und dann werde niemand mehr fragen können. Erinnerungen an Krems, eine Abrechnung mit ihrem Vater. Nach der ersten Lektüre war ich verunsichert. Samuel Kohn schlägt seine Frau, tyrannisiert die Familie. In der Erinnerung von Anna war ihr Vater ein seelischer Jekill und Hyde. War diese Demaskierung eines Angehörigen der verfolgten jüdischen Bevölkerung der niederösterreichischen Kleinstadt statthaft oder Wasser auf die Mühlen Unverbesserlicher? Nach einigen Monaten und meiner Frage, ob es zu diesen Erinnerungen auch noch eine Fortsetzung gäbe, schickte mir Anna die Geschichte ihrer Flucht nach England, eine in Rückblenden geschriebene Erinnerung. Den dritten Teil ihres Lebensberichtes über ihre Ausbildung zur Krankenschwester und Hebamme und ihre Arbeit als Bezirkskrankenschwester bekam ich erst viel später, bei meinem Besuch in Poole, in England. Die Fortsetzung von Annas Leben in England kannte ich allerdings in groben Zügen bereits vor meinem Besuch bei ihr. Abraham Nemschitz, entfernt verwandt mit Anna Lambert Ëœ seine Großmutter und der Vater von Anna waren Geschwister Ëœ hatte mir geschrieben, erzählt, angedeutet und von verschiedenen Besuchen bei Anna berichtet. Nach der Lektüre des zweiten Teils der Erinnerungen, der oft nur angedeuteten Geschichte der Kinder in England, stellte sich für mich die Frage, was wohl aus dieser „Familie“ geworden war? Würden sich die Kinder erinnern können, von ihrem Schicksal, dem sie entronnen sind, wissen? Es dauerte zwei Jahre, bis ich Anna persönlich kennenlernen sollte. Anna besuchte damals mit ihrem Sohn und dessen Tochter ihre alte Heimat. Eine Wiederbegegnung mit der Heimat im Alter von 82 Jahren. Gemeinsam fahren wir nach Krems, besuchen Annas Bruder Hans. Die Geschwister haben, hoch gerechnet, höchstens acht Jahre gemeinsam verbracht. Die Mutter starb, der jüngere Bruder Richard kam in ein Waisenhaus, Hans ging als Goldschmied in Wien in die Lehre, Rosi war als Kindermädchen in Ungarn. Und Anna zerstritt sich mit dem Vater, verließ Krems, heiratete in Wien und zog zu ihrem Mann nach Bad Vöslau. Es gab einige kurze Begegnungen bei Besuchen Annas in Krems. Das letzte Treffen mit Hans fand 1938 statt, als die Nazis bereits im Land waren. Hans lebte damals in Krems mit seiner Frau Melanie zusammen, die ein Kind erwartete. Als Melanie in den Wehen lag, wollte ein SA-Mann Hans abholen, es kam zu einem Streit und zu Handgreiflichkeiten. Die Erinnerung der beiden Überlebenden unterscheidet sich in Nuancen. Hans berichtet, er habe zur Hacke gegriffen, den SA-Mann bedroht und damit in die Flucht geschlagen. Anna erzählt von einem Streit, bei dem der SA-Mann über die Treppe gestossen worden sei. In dieser Nacht war Anna jedenfalls zum letzten Mal in Krems. Gemeinsam mit dem Vater und Melanie überredete Anna ihren Bruder Hans zur Flucht aus Krems. Hans erfuhr von der Geburt seines Sohnes erst, als er bei einem Bauern in Oberösterreich Zuflucht gefunden hatte. Nach einigen Wochen holte ein Dorfgendarm Hans aber auch von dort ab, die Fahrt ging über Linz ins Konzentrationslager nach Dachau. Durch einen Zufall oder eine Verwechslung wurde Hans aber wieder freigelassen, die näheren Umstände bleiben für die Betroffenen ein Rätsel.

Anna floh mit ihren beiden Kindern nach England, Hans bekam ebenfalls ein Visum für England und arbeitete dort auf einer Farm. Obwohl die Geschwister nun im selben Land Zuflucht gefunden hatten, kam es nur zu seltenen gegenseitigen Besuchen, einige Bilder im Fotoalbum von Anna erinnern daran: Hans mit den beiden Kindern Freddy und Kurt. Kurt, der ältere Sohn Annas, erinnert sich an diese Begegnungen: „Einmal hat es geheißen, der Onkel Hansi kommt. Gekannt haben wir ihn nicht, aber ich dürfte gefühlt haben, wie viel dieses Treffen meiner Mutter bedeutet hat. Ich weiß noch, wir sind ihm auf der Straße entgegengelaufen. Ein Bild, das ich heute noch vor mir sehe.“ Hans kehrte 1947 nach Krems zurück, Hans und Anna blieben Geschwister auf Distanz. Sie wechselten regelmäßig Briefe, es kam zu wenigen Besuchen in regelmäßigen Abständen im Lauf der Jahrzehnte. Nun, im Sommer 1990, kam es in Krems zu einem weiteren Wiedersehen der Geschwister. Gemeinsam spazierten wir durch die Stadt. Anna erinnert sich: „Dort war die Kanzlei des Dr. Adler, am Ende dieser Gasse stand das Haus, in das mein Vater 1938 alle seine Habseligkeiten bringen mußte, weil er aus seiner Wohnung in der Schwedengasse ausziehen mußte. Die Nazis hatten angedeutet: ,Eine Jude im Haus, Herr Billek, wie sieht das aus?‚ Der Hausherr in der Schwedengasse reagierte prompt.“ Anna und Hans sind nicht mehr die jüngsten. Langsam tasten sie sich die Landstraße vor, sie erscheint ihnen so lange wie damals, als sie als Kinder um Semmeln liefen. In ihrer Erinnerung existieren noch die alten Zuckerbäcker, Gasthäuser und Textilgeschäfte, Namen, die heute den wenigsten Einheimischen etwas sagen. Dieser Spaziergang ist Vergangenheit pur, Trauer über den Verlust, Wut über die „Besudelung“ durch die Nazis. Eine Szene jedoch ohne Pathos. Kurz bevor wir das Steinertor erreichen, biegen wir in die Schwedengasse ein, wo das Haus stand, in dem Anna gewohnt hat. Im Erdgeschoß befand sich einst das Café Billek, wo der Vater jeden Abend und manchmal bereits am Nachmittag saß. Anna steht vor dem Elternhaus: ein Foto. „Ach, die Nachbarn, das waren auch Nazis“, hat sie schon vor zehn Minuten festgestellt. Ein Mann lehnt am Fenster. Eine Gesprächsanknüpfung auf offener Straße. „Können Sie sich vielleicht an diese Frau erinnern?“ Sie komme ihm schon bekannt vor, meint der Mann im Fenster, ob sie nicht vielleicht „eine Kohn“ sei? Der Samuel Kohn habe doch bei seinem Vater in der Fleischhauerei geschächtet. Anna beteiligt sich, soweit sie mit ihrem Hörapparat die Nebengeräusche der vorbeifahrenden Autos ausschalten kann, an der Konversation. Als wir wieder gehen, meint sie im Weggehen: „Ein netter Mensch, wer war das?“ Es ist ein Sohn jener Familie, die „auch alle Nazis waren“, erinnere ich Anna. „Na sowas, das hätte ich nicht geglaubt, so ein netter Mensch.“

Nach Erscheinen meines Buches „Plötzlich waren sie alle weg“, sichte ich jene Unterlagen, die nicht mehr in das Buch über die Kremser Juden aufgenommen hatten werden können. Die Erinnerungen von Anna sind darunter. Sie sind lückenhaft, die fehlenden Lebensabschnitte müßten durch Interviews ergänzt, Details geklärt werden. Ich rufe in Poole an. „Ich komme nächste Woche, wenn Sie wollen“. „Kommen Sie!“, ist ihre Antwort, so als hätte Anna auf meinen Besuch seit Jahren gewartet. Einige Tage später vergewissert sich ihr Sohn nochmals. Die Mutter habe von einem Telefonat erzählt, wann ich denn kommen wolle, alle würden sich freuen. Wenige Tage später, Ende November 1991, reise ich also nach Poole. Kurt und Freddy holen mich ab, gemeinsam besuchen wir Anna, die in einer Wohnhausanlage für Senioren lebt. Überzeugungsarbeit für mein Projekt muß fast keine geleistet werden. Einige Ausflüchte: „Aber mein Leben ist doch uninteressant, ich glaube nicht, daß das wirklich ein Buch wird.“ Die Arbeit hat begonnen. Die Annäherung an die Geschichte von Annas Leben. Die Rollen in den folgenden dreieinhalb Tagen wechseln wie die Sitzgelegenheiten. Dreieinhalb Tage Interview. Schaukelstuhl, Fauteuil, Bank oder Sessel. Frage, Erzählung, Kommentar. Am Schluß der Interviews sind wir bei Annas unglücklichen Lieben angelangt. Phasenweise sind Anna und ihre beiden Söhne gemeinsam dem eigenen Leben auf der Spur. Entdeckungen im Dreiergespräch. In den mehr als fünf Jahren, in denen Anna ihre Ausbildung zur Krankenschwester und Hebamme absolvierte, waren die Kinder bei Pflegeeltern und in Internaten untergebracht. Manchmal waren Besuche nur in Abständen von drei Monaten möglich. Für den Älteren, Kurt, war diese Zeit besonders schlimm, denn er hatte in Österreich schon ein normales Familienleben erlebt. Auf den Bildern im Familienalbum sieht man Kurt die Lebensumstände dieser Jahre an. Erst 1945 lachte er wieder. Dieses Jahr hatte nicht nur die weltpolitische Entscheidung gebracht, sondern es Anna auch ermöglicht, nachdem sie als Bezirkskrankenschwester in St. Osyth begonnen hatte, ihre Kinder zu sich zu holen. „Wir waren wieder eine Familie“. Über die Situation in den Internaten will Kurt nichts erzählen, es käme ihm vor wie eine unzulässige Beschmutzung des Landes und seiner Werte. „Uns wurde so viel geholfen in diesem Land, es wäre nicht richtig, darüber zu sprechen.“ Es bleibt vorerst bei Andeutungen. Die Härte des britischen Erziehungssystems ist sprichwörtlich. Als Freddy zum Interview in Annas Wohnung kommt, ist eine seiner ersten Fragen an Kurt, ob er auch die Geschichten vom Internat erzählt habe. Freddy sieht einige Szenen vor sich, als ob es gestern gewesen wäre: „Wenn jemand ausgerissen ist oder gegen die Regeln des Hauses verstoßen hat, ist es zu öffentlichen Disziplinierungen gekommen. Im Schulhof standen die Kinder im Quadrat, der Delinquent in der Mitte.“ Die Prügelstrafe als Schauspiel, auch Schläge mit dem Schlüsselbund sollen keine Seltenheit gewesen sein. Anna sind diese Szenen neu: „Das habt ihr mir nie erzählt, das höre ich heute zum ersten Mal, ich habe nie gewußt, wie schwer euch das Leben in den Internaten gefallen ist.“ Kurt meint zu dieser „Verschwiegenheit“: „Wir wußten, wie schwer es unserer Mutter fiel, wir wollten sie nicht belasten, und als alles vorbei und wir wieder eine Familie waren, war dieses Kapitel abgeschlossen, warum daran rühren?“ Die Erinnerungen an den Vater sind bei Kurt aufgesplittert auf einige wenige Szenen: eine Fahrt in der Nacht auf dem Kindersitz des Fahrrades, während in der Ferne ein Zug vorbeifährt und die Funken sprühen; das letzte Weihnachtsfest in Österreich mit einem Spielzeugpanzer, der ebenfalls Funken sprühte; und dann der Einmarsch der deutschen Truppen, bei dem überall gelbe Flugblätter durch die Luft wirbelten. Für Kurt in der Erinnerung ein lustiges Bild. Es war der Vater, der den verstörten Dreijährigen zurückriß, als er eines der Flugblätter erhaschen wollte, so energisch, als würde er in den Schmutz oder Kot greifen. Anna zeichnet sich heute nicht nur durch den Mut, ihr Leben im Alter nochmals mit der Heimat zu konfrontieren, aus, sondern auch durch die Haltung der Chronistin, die zumindest für die eigene Familie ihr Leben aufzeichnen wollte. Diese Haltung ist ein Versuch, mit dem Leben fertigzuwerden. Anna trug ihre Vergangenheit mit sich, und nicht nur in Form ihrer Erinnerungen und ihrer Fotos. Das Hauskleid, das sie sich anfertigen ließ, und das dem ihrer Mutter glich, ersetzte den Verlust der Geborgenheit in der Familie, die einzig durch die Mutter verkörpert wurde. Der frühe Tod der Mutter war für die 16-jährige ein Schock, der sie auf sich alleine zurückgeworfen hatte. Rückblickend ist Anna heute entsetzt, wie wenig sie über ihre Geschwister und deren Leben sagen kann. Auf den Boden blickend, nicht nach links und rechts schauend, so beschreibt Anna ihren Gang zum Friedhof. Der Weg zum jüdischen Friedhof ist somit typisch für die persönliche Situtation und Annas Verhältnis zur Umwelt. Erst die Bekanntschaft mit Franz läßt sie aus ihrem Gefängnis aus Trauer und Unglück ausbrechen. Die eigene verlorene und früh vermißte Geborgenheit will Anna mit Franz ihren Kindern bieten. Vielleicht war es gerade das Wissen um die eigene Geschichte, das sie besonders hellhörig und sensibel machte für Entwicklungen, die den möglichen Verlust dieser Gemeinsamkeit bedeuten konnte. Diese Angst ließ sie auch die Kraft aufbringen 1939, gegen den Willen ihres Mannes, die Ausreise mit zwei Kleinkindern zu betreiben, in ein Land dessen Sprache sie nicht beherrschte und wo sie lediglich einen Menschen kannte, den sie bei einem flüchtigen Gespräch im Kurpark in Baden kennenglernt hatte und dessen Visitenkarte sie sich aufgehoben hatte. Nachdem Anna in St. Osyth beruflich Fuß gefaßt hatte, ordnete sie ihre Familienfotos. Das erste Fotoalbum beginnt programmatisch, über der ersten Seite steht in weißer Tinte geschrieben „My Mother“. Zu sehen sind zwei Bilder der Mutter im Alter von 10 und 19 Jahren, selbst die verblassenden Fotografien lassen die Schönheit der Frau erahnen. Die zweite Seite, „My Father“, zeigt ein Paßbild, den schlafenden Vater auf der Ofenbank, den Vater mit seiner Kakteenzucht sowie zwei Aufnahmen von blühenden Kakteen. Die Szenen, in denen der Vater im Fotoalbum präsentiert wird, lassen nichts Ëœ können auch nichts Ëœ von den Konflikten vermitteln, die das Leben der Mutter und der Kinder geprägt haben; es ist alleine die Präsenz des Vaters, die symbolisch für die Allgegenwart durch die Jahrzehnte steht. Den Haß auf den Vater nahm Anna selbst noch nach England mit. Im Zusammenhang mit diesen Vaterbildern sind es zwei Bilder in ihren Fotoalben, die eine andere Kontinuität andeuten. Die Erklärung zu den Detailaufnahmen von zwei blühenden Kakteen lieferte Anna im Interview, ein Kaktus gehörte ihr. Die einzige gemeinsame Unternehmung von Vater und Tochter sei das Heraus- und Hereinholen der Kakteen vom Blechdach im Haus Schwedengasse Nummer 2 gewesen. Jahrzehnte später steht in Annas Haus in St. Osyth wieder ein Kaktus in der Veranda. In ihrer kleinen Wohnung in der Schwedengasse in Krems war es nur ein Blechdach gewesen, das zum Garten umfunktioniert wurde, in ihrem Haus in St. Osyth und im Haus des Sohnes, mit dem sie lebte, verwendete Anna jede freie Minute für die Gestaltung des Gartens. Den Gedanken, daß die Liebe zu Blumen und Kakteen eigentlich durch ihren Vater beeinflußt sein mußte, wollte Anna im Interview nicht gelten lassen.

Die Präsentation ihres Buches „Du kannst vor nichts davonlaufen. Erinnerungen einer auf sich selbst gestellten Frau“ im Wiener Picus Verlag in Krems war für Anna Lambert die Gelegenheit seit Jahrzehnten wieder einmal mit ihren beiden Söhnen gemeinsam in die Heimat zu kommen. Eine Fahrt in die Vergangenheit, in die Schwedengasse nach Krems, nach Baden wo sie ihren Retter Lord Locker-Lampson kennengelernt hatte, nach Bad Vöslau, wo ihr Mann noch immer im selben Haus wohnt. Die Ehrung durch den Bürgermeister der Stadt Krems war für sie mehr als nur eine Geste, wie ein Traum. Daß es für Anna Lambert eine große Kraftanstrengung bedeutet hatte die Fahrt nach Österreich anzutreten, mit den Erinnerungen, der Aufregung, den Interviews und den Gesprächen merkte man ihr nicht an. Wenige Monate später verstarb sie im Frühjahr 1993 in Poole.