Rede zur Eröffnung der Synagoge in Krems

Die Festrede hielt der Oberrabiner Dr. Moritz Güdemann:

Der diesemalige Wochenschnitt beginnt mit der Ansprache unseres Lehrers Moses an Israel: Ihr steheht heute allesamt vor dem Ewigen, Eurem Gotte. (V.B.M. 29,9). Als Moses diese Worte sprach, stand Israel im Begriffe, in das gelobte Land aufzubrechen. Diesen Augenblick hielt Moses für geeignet, dem Volke noch einmal seine Aufgabe, seine Sendung ans Herz zu legen.

Ähnliche Bedeutungen hat für Euch meine Freunde, der gegenwärtige Augenblick. Es ist ein gelobtes Land, das sich Euch geöffnet, und ich meine, die mir übertragene Aufgabe, es einzuweihen, nicht bessere erfüllen zu können, als in dem ich, dem Beispiele unseres größten Lehrers folgend, dem Beruf Israel Euch auseinandersetze. Denn mit der Erkenntnis dieses Berufes hängt ja die Erkenntnis von dem Werte und der Bedeutung des Gotteshauses aufs Innigste zusammen. Man kann aber den Beruf Israels nicht kürzer und genauer angeben, als es Moses getan: Ihr stehet heute allesamt vor dem Ewigen, Eurem Gotte.

Israels Beruf fordert vor allem Standhaftigkeit. Es hat vielleicht niemals eine Gemeinschaft gegeben, die so viel Veranlassung hatte, wankend in ihren Grundsätzen und Zielen zu werden, und dennoch so viel Ausdauer und Standhaftigkeit bewiesen hat, wie die Bekennerschaft unseres Glauben. Wir sind.
Der Name Gottes ist Friede: möge denn dieses Gotteshaus das Wahrzeichen des unter Auch waltenden Friedens sein!
Vor seinen Pforten müssen Hader und Uneinigkeit, Trotz und Eigenwille zurückweichen … Wir wollen einig sein und bleiben. Wir halten schon deshalb zusammen, weil wir aufeinander angewiesen sind….

Wir gedenken der frommen Märthyrer, deren Blut einst den Grund und Boden dieser Stadt gefärbt hat, aber wir gedenken ihrer ohne Groll und Haß, gegen diejenigen, die das Blut vergossen haben. Ihr Blut ist nicht umsonst geflossen, es hat als ein kostbarer Thau das Erdreich befruchtet für das allmelige Wachstum einer freisinnigen, humanen Denkungsart, das trotz aller Versuche, es zurückhalten, dennoch, ja vielleicht eben deswegen, um so kräftiger sich entwickelt und fortschreitet. Keine Klage über das, was wir gelitten haben und noch leiden, soll in dieser Stunde über unsere Lippen kommen.

Lenken wir unseren Blick aus trüber Vergangenheit in die freundlichere Gegenwart, und segnen wir dann erfüllten Herzens das Haupt unseres vielgeliebten Kaisers und Herrn, der mit gleicher Liebe alle seine Untertanen zu umfassen erst kürzlich Kundgebung durch die Tat zu beweisen. Als eine Wirkung seines erhabenen Vorbildes dürften wir es ansehen, daß die oberste Militär- und Zivilbehörden dieser Stadt an der gegenwärtigen Feier teilnehmen und deren Bedeutung durch ihre ehrende Gegenwart erhöhen. Wir danken ihnen, in dem wir für sie, für diese Stadt und all ihre Einwohner den Segen Gottes erbitte. Und wie wir dankbar des verstorbenen Wohltäters gedenken, der durch seine großmütige Spende die Inangriffnahme des Baues dieses Gotteshauses allererst ermöglicht hat, so erflehen wir den Segen Gottes für alle die Wohltäter, die zu dem Bau dieses Gotteshauses beigetragen, für denjenigen, der kunstverständig den Bauplan ersonnen und entworfen, wie für alle, welche an seiner Ausführung mitgewirkt haben.