Der verlorene Lebenstraum

Anna Lambert

Wir hatten unser Leben fest im Griff, und alles ging seinen geordneten Lauf. Doch am Horizont zogen Gewitterwolken auf, die nicht nur mich persönlich bedrohten, sondern die ganze Welt. Der Nationalsozialismus hatte sein zweigesichtiges monströses Haupt erhoben und spie giftiges Feuer über Europa. Es brachte auch meine kleine Seifenblase zum platzen. Es war ein strahlend sonniger Tag im Februar 1939. Die Luft war frisch und belebend und die Sonnenstrahlen so lieblich und umschmeichelnd, daß es einem das Herz brechen konnte. Ich stand wie angewurzelt, blickte auf den Hang des bewaldeten Hügels, zu dessen Füßen unser Haus inmitten der Weingärten stand. Ich war damals 32 Jahre alt. Es schien mir, als wäre ich eben erst aus einem bösen Traum erwacht. Mein Herz war schwer, all der betäubenden Pracht um mich zum Trotz. Mein Mann wartete. Er hatte das Haustor und das Gartentor abgeschlossen und das Gepäck auf einen kleinen Wagen geladen, der an das Fahrrad montiert war. „Beeil dich, Mami, wir kommen zu spät!“ drängte mein vierjähriger Sohn Kurt lebhaft. Mechanisch legte ich den elfmonatigen Manfred in seinen Kinderwagen. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ich in diesem Augenblick dabei war, alles hinter mir zu lassen, was mir über zehn Jahre so lieb geworden war: Meine Ehe und all die glücklichen Jahre, meine kleine eigene Welt, das Haus, das wir unter vielen Opfern und mit harter Arbeit errichtet hatten. Diese Erkenntnis traf mich mit aller Wucht. Ich mußte den letzten Rest von Willenskraft mobilisieren, um die vordergründige Gleichgültigkeit, mit der ich diesen Augenblick vorbereitet hatte, aufrecht erhalten zu können. Nacht für Nacht hatte ich gegen das Flehen meines Mannes anzukämpfen gehabt, dessen unkontrollierte Tränen der Verzweiflung mich beinahe umgestimmt hätten. All diese Nächte in den letzten Monaten war Franz neben mir gelegen und hatte geweint und auf mich eingeredet: „Du mußt dableiben, du darfst nicht weggehen, es ist Blödsinn, was die Zeitungen schreiben, das ist alles übertrieben. Du weißt doch, die Zeitungen lügen immer, es wird sich schon alles beruhigen.“ Ich ließ ihn reden und flehen und antwortete ihm nur: „Ich gehe nach England“. Ich vermute, er hat es bis zur letzten Minute nicht geglaubt, daß ich wirklich wegfahre. Aber ich hatte nur einen Gedanken: die Kinder müssen raus. Ich wußte nichts über England und kannte nur einen Namen: Lord Locker-Lampson. Wie ich ihm geschrieben habe, weiß ich heute nicht mehr, vermutlich erreichte ihn mein Brief auf dem Umweg über die Quäker, die Details sind mir nur mehr verschwommen in Erinnerung. Ich hatte jedenfalls nur eines im Sinn: mit den Kindern hinaus ˆ und sonst kümmerte ich mich um nichts anderes mehr. Nur der Gedanke an meine Kinder und die Vorstellung, was ihre Zukunft sein würde, gaben mir die Kraft, durchzuhalten. Jetzt war es endlich so weit! Ich war dabei, meinen Mann, mein Haus, mein Familienleben, mit all dem gemeinsamen Lachen und Weinen, meine Freunde hinter mir zu lassen… wofür? Ich hoffte auf Freiheit in einem gesunden Land und auf physische Sicherheit für meine Kinder. Die Kinder! Sie waren das Motiv, das mich antrieb und stärker war als alle anderen Gefühle und Gedanken. Sie mußten heraus aus diesem Pfuhl der Entwürdigung und der Angst, sie mußten gerettet werden vor den Angriffen auf ihre unschuldigen Herzen, mußten davor geschützt werden, zu Werkzeugen gegen ihre eigenen Eltern und Freunde geformt zu werden, mußten vor der Idee des „Heldentums“ bewahrt werden, die darin bestand, darauf stolz zu sein, dem „Führer“ zu dienen, auch wenn das die Verfolgung Unschuldiger zur Folge haben und Verheerung unter Freunden und Verwandten anrichten sollte… Es war sonnenklar, es gab keinen anderen Weg… auch wenn ich zuvor Österreich noch nie verlassen hatte und weder die Sprache kannte noch sonst etwas von dem Land wußte, in das ich strebte… Wäre ich unter normalen Umständen mit meiner Familie ausgewandert, hätte ich mich sicherlich bemüht, etwas über das Land zu erfahren, seine Sprache zu lernen. Aber ich hatte ja nicht die Absicht gehabt, mein geliebtes Österreich zu verlassen, sondern war von Parasiten, von dieser Pestepidemie, die uns vernichtet hätte, vertrieben worden. Ich hatte ein Angebot, die Einladung Lord Locker-Lampsons, die er Jahre zuvor bei einer Plauderei im Kurpark von Baden ausgesprochen hatte. An diese Einladung klammerte ich mich tapfer, wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm. In diesen unruhigen Zeiten, in denen man von einem Tag zum nächsten nicht wußte, was auf einen zukommen würde, war es für mich undenkbar, erst einen Kontakt herzustellen und auf eine Antwort zu warten. Darum wollte ich mich dann kümmern, wenn alles andere mehr oder weniger fixiert war. Wenn ich nur rechtzeitig hinauskäme! Ich rechnete ständig mit einem Überraschungsbesuch der Nazi-Schergen.

Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und antwortete dem Kind: „Ja, Schätzchen, ich bin soweit“, und schon ging es los. Vor Aufregung über die lange Zugfahrt, die uns erwartete, sprang Kurt unruhig vor uns herum, während das Baby in seinem Wagen eingeschlafen war. Wir mußten etwa einen halben Kilometer zum Bahnhof zu Fuß gehen. Wir nahmen den Feldweg, um jedes unnötige Zusammentreffen zu vermeiden. Mein Mann war schrecklich aufgeregt, und nach einer Weile blieb er stehen. Er wandte sich zu mir und meinte: „Willst du keinen letzten Blick zurückwerfen?“ Aber ich traute weder mir noch meinem Mann, der den leisesten Anschein einer Schwäche meinerseits genutzt hätte, um mich davon zu überzeugen, daß das Land nur in vorübergehenden Schwierigkeiten steckte und sich schon bald alles normalisieren würde. Ich entgegnete ihm: „Wozu die Agonie verlängern? Es ist doch nur für ein paar Monate!“ Es sollte überzeugend klingen, aber mir selbst war nie zuvor so klar gewesen, daß dies das Ende einer weiteren Episode meines Lebens war. Wir sprachen kein Wort mehr, und für einen Augenblick mußte ich zurückdenken, an einen anderen Wendepunkt meines Lebens. Ich war damals, 1914, gerade sieben Jahre alt gewesen und kam am Beginn des Ersten Weltkriegs in die Schule. Es war das Ende meiner unbeschwerten Kindheit. Danach waren nur mehr Traurigkeit, Unsicherheit, Angst, Hunger und Leiden für viele Jahre gefolgt… Wir erreichten den Bahnhof, und ich hatte alle Hände voll damit zu tun, auf die Kinder und das Gepäck zu achten, während mein Mann die Fahrkarten nach Wien besorgte. Von dort sollte es mit dem Nachtzug nach Hamburg weitergehen. Die Reise schien endlos. Ich hatte die Kinder gut versorgt, und sie schliefen fest. Wir hatten ein ganzes 2.-Klasse-Abteil für uns allein. Mein Mann saß mir gegenüber und starrte in die Nacht. Ich konnte meine eigenen Gefühle nicht interpretieren, ich war emotional wie leergepumpt und stand gleichzeitig unter größter Anspannung. Ich würde mich nicht entspannen können, bis wir uns auf dem Meer befänden. Erst dort würde ich sicher sein, nichts würde mehr dazwischen kommen oder uns aufhalten können. Der Schritt, den ich gewagt hatte, würde unumkehrbar sein. Ich sah hinüber zu meinem Mann. Sein Gesicht war so blaß, so gezeichnet, so hoffnungslos. Es tat mir im Herzen weh. Mir war in diesen qualvollen Wochen nicht aufgefallen, wie verzweifelt er wirkte. Ich hatte bei jeder Gelegenheit alle Kraft benötigt, ihn davon zu überzeugen, daß er seine Kinder, wenn er sie liebte, gehen lassen mußte. Wenn er recht damit hatte, daß der derzeitige Wahnsinn und die Brutalität nur Exzesse von Extremisten waren und Recht und Ordnung bald wieder hergestellt sein würden, nun, dann würden wir ohnehin bald zurück sein… Er sah so verletzlich aus, ich wußte, wie sehr er uns brauchte. Ich war sein Rückgrat, ich war die Stärkere von uns beiden, was würde mit ihm geschehen? Wie sollte er ohne mich mit sich selbst zurecht kommen? Ohne die Kinder? Er war von Natur aus ein Familienmensch. Er liebte sie, hingebungsvoll und völlig kritiklos, und er war so unglaublich stolz, ihr Vater zu sein, daß sie ihm schrecklich fehlen würden! Heute, mehr als fünf Jahrzehnte später, kann ich ihm seine Schwäche nicht verzeihen. Er hat uns gehen lassen und ist hoffnungsvoll daheimgeblieben. Es stimmt, daß er kein Ausreisevisum bekommen hätte, da er im wehrpflichtigen Alter war. Wir wußten, daß der Krieg kommen würde, auch wenn keiner gedacht hätte, daß er so nah war. Aber hätte er, wie viele andere in seiner Situation, sich ein wenig bemüht und wäre in den Untergrund gegangen, dann hätte er als Flüchtling nach England kommen können. Zu dieser Zeit wäre das noch relativ einfach gewesen, noch dazu, da er nur auf sich selbst gestellt war, ohne Sorge um seine Kinder. Ich traf im Laufe der Jahre viele Männer und Frauen, die das gewagt hatten, als sie dazu gezwungen gewesen waren, in einer Zeit, als die Flucht den Tod oder Schlimmeres bedeuten konnte und die Erfolgsaussichten fast null waren! Aber er hatte sich einfach nicht vorstellen können, alles aufzugeben, der Realität in die Augen zu sehen und einen klaren Bruch herbeizuführen. Er zog die österreichische Methode vor, machte einfach weiter und betrog sich selbst. Aber das ersparte ihm die Realität nicht, und er sollte seinen Teil des Leids noch ertragen müssen. Ich schloß die Augen und tat, als schliefe ich, wenn mir auch nichts ferner lag. Mir war, als würde das monotone Geratter des Zuges ständig wiederholen: Was wird passieren? Was wird passieren?… Hatte ich voreilig und verantwortungslos gehandelt? War ich illoyal? Doch dann rief ich mir eine Szene nach der anderen in die Erinnerung zurück, die mich bewogen hatten, die Freiheit in der Ferne zu suchen…

Aus: Du kannst vor nichts davonlaufen. Erinnerungen einer auf sich selbst gestellten Frau. (Herausgegeben von Robert Streibel) Wien Picus Verlag 1992, 188 Seiten.