Das Leben der Juden von Krems

Das Leben der Juden von Krems
Für Karl Emil Franzos, der in seinem Buch „Die Juden von Barnow“ die Geschichten der Juden eines fiktiven Landstädtchens gezeichnet hat, ist die Tradition der Juden mit einem tief ins Gesicht gezogenen Hut zu vergleichen, der dem Träger die Sicht auf die Realität nimmt. Bei den Juden von Krems war der Hut zwar noch ein beliebtes Kleidungsstück, bei manchen gehörte er zur täglichen Ausstattung, mit der Tradition, der Einhaltung der Sitten und Gebräuche nahmen es aber die wenigsten genau. Es war die Generation der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts geborenen Juden, die ohne die Sitten nicht leben wollten. Abraham Nemschitz beschreibt seinen Grossvater Jakob Sachs: „Er war zwar nicht unsinnig fromm, aber man kann schon sagen traditionell eingestellt, und er ging immer zu den Gottesdiensten.“1

Der Streit um den Tempel
Ein Kristallisationspunkt des jüdischen Lebens in Krems ist damit bereits angesprochen: das Bethaus, das sich in der Dinstlstraße befand. Um den Standort des vom Wiener Architekten Max Fleischer geplanten Bauwerkes hatte es ein heftiges Tauziehen zwischen israelitischer Kultusgemeinde und dem Gemeinderat in Krems gegeben. Der Gemeinderat hatte die Ansuchen um Überlassung geeigneter Baugründe 1890 und 1892 abgelehnt. In der Gemeinderatsdebatte 1892 meinte Dr. Hermann Stingl: „Wir fussen auf christlich-germanischer Grundlage (…) Wir und meine Genossen beachten die Freiheiten des Bekenntnisses und halten diese Freiheit wie Kaiser Josef hoch (…) Gleichzeitig wehre ich mich aber entschieden dagegen, dass städtischer Grund zum Bau eines jüdischen Tempels hinangegeben werde (…) Ich bin drei Jahre in Krems und verfolge die Entwicklung der Stadt, aber eine solche Judenstadt war Krems noch nie. (…) Sie wissen ja ferner, was die religiösen Bräuche der Juden für ein Geschrei verursachen, wollen Sie nun, dass in der Ringstrasse sich dieses erhebe? (…) Ich hasse keinen Juden, aber ich sage, der Boden ist christlich-germanisch und da hat kein Jude etwas zu schaffen.“2 Der Bürgermeister der Stadt Krems, Dr. Heinemann, erwies sich als Realist und gab zu bedenken, dass der Bau einer Synagoge nicht verhindert werden könne. Im April 1892 erwarb die Kultusgemeinde ein Grundstück in der Dinstlstrasse, und am 25. Jänner 1893 wurde im Gemeinderat namentlich über den Bau der Synagoge abgestimmt. Das Ergebnis lautete 15 Pro- und acht Kontrastimmen. Etwas mehr als ein Jahr danach wurde die Synagoge eingeweiht, wenn auch die eingeladenen katholischen Geistlichen der Feier fernblieben, – sie hätten geradezu ihrer Kirche. untreu werden müssen, stellt die „Kremser Zeitung“ fest‘ – kamen immerhin der Bezirkshauptmann mit sämtlichen Beamten, der Kreisgerichtspräsident, der Kommandeur der Garnison, der Bürgermeister und die Schuldirektoren. Der Oberrabbiner Dr. Moritz Güdemann erinnerte die Anwesenden, dass „Israels Beruf“ Standhaftigkeit erfordere und mahnte beim Betreten des Tempels nicht zu vergessen, dass die Juden von Krems, die 1349 verbrannt worden waren, standhaft geblieben seien. „Dieser Tatsache müßt Ihr, meine Freunde immer eingedenk sein, wenn Ihr dieses Gotteshaus betretet. Denn Ihr würdet nicht sein, und dieses Gotteshaus würde nicht sein, wenn unsere Vorfahren nicht standhaft geblieben wären, und wie dieses Gotteshaus gleichsam ein spätes Denkmal jener Märtyrer ist, so soll es Euch in der Standhaftigkeit befestigen und zur Ausdauer befeuern, damit es von Euch immer heiße: Ihr stehet fest und wanket nicht.“ Nach dem Ersten Weltkrieg, in den zwanziger Jahren, war es nicht immer leicht für die jüdische Gemeinde, die rituell erforderlichen zehn Männer für den Gottesdienst aufzutrei-ben. Einige Tage vor dem Sabbat wurden so „Boten“ ausgeschickt. „Günstig war, daß der Neubauer zwei Buben hatte, dann waren da noch die vier Rephan“, erinnert sich Fritz Nemschitz.“ Zu den hohen Feiertagen war der Tempel voll und die Gläubigen reisten aus dem Waldviertel an. Nach dem Gottesdienst trafen sich die Juden im kleinen Park unweit der Synagoge, „zwei Reihen Kastanienbäume, und zwischen den Bäumen sind Bankerl gestanden, und vom ist eine Wiese gewesen mit einem großen Ahornbaum“5. Da der Park in unmittelbarer Nähe der Synagoge lag, wurde dieser Flecken auch Judenpark genannt. Nach dem Neubau des Hauses in der Ringstraße 26 Ende der zwanziger Jahre wurde dieser Park verbaut.

Der Reiz des Tempelhofes
Der Tempelhof diente den Kindern der jüdischen Familien, aber nicht nur ihnen, als Spielplatz. Besonders interessant war es immer dann, wenn Kantor Samuel Neubauer geschächtet hat. „Die Frauen haben die Hendeln und Kleintiere gebracht. Da sind dann die

Die Dinstlstraße mit Synagoge auf einer Postkarte
vom Bahnhof aus gesehen

Franz und Anna Rephan:
Die letzte Hochzeit im jüdischen Bethaus
im Jahr 1937

Federn herumgelegen. Größere Tiere wurden vom Kantor in der Fleischhauerei Merkel in der Schwedengasse geschächtet.“6 Das Schächten von Tieren wurde von selbsternannten Tierschützern als besonders grausam empfunden, die Tierliebe, mit einer gehörigen Portion Antisemitismus vermischt, eignete sich besonders gut für Plakataktionen an den Tempelwänden und an den Portalen von jüdischen Geschäften? Für Herta Sacher, die in der Nähe des Tempels großgeworden ist, war es keine Frage, dort zu spielen. „Wir sind dort aufgewachsen, tagtäglich, wenn er offen war, waren wir drinnen, und zu Ostern haben wir immer auf das Mazza-Brot gewartet, solche Stöße haben wir bekommen und sind damit heimgerannt.“‚ Gewisse Sudetendeutsche, wie zum Beispiel die Besitzer eines Petroleumgeschäfts, bei denen das Bekenntnis zum Deutschtum eine Abneigung, ja Haß, gegen Juden inkludierte, quittierten diese Vorliebe der Kinder immer mit einem Satz: „Habt’s es notwendig, daß in den Judentempel einigehts?“ Einen Eindruck über das Innere des Tempels liefert ebenfalls Herta Ziskovsky: „Und zwar waren ein paar Stufen, dann war eine Glastür, mir hat dieses Milchglas mit den schönen israelischen, mit den jüdischen Zeichen so gefallen. Und dann ist man wieder Treppen hinaufgegangen, dann war soetwas wie ein Altar, und dann sind hinten die Sitze gewesen. Sehr dunkel. Sehr mystisch. Und das ist ja das, was uns Kinder da gereizt hat.“9 Eine andere Zeitzeugin kann sich noch an die Zehn Gebote erinnern, die von der Kanzel herunterhingen, „goldbestickt auf blauem Grund.“ Die letzte Hochzeit im Tempel fand im Jahr 1937 statt, als Franz Rephan und Anna Wagner, die zum Judentum übertrat, heirateten. Traude Tauber war bei dieser Hochzeit als junges Mädchen dabei: „Mein Vater ist auf jeden Fall bei den engsten Angehörigen gesessen, und das übrige Volk war oben am Balkon. Da war ein großer Balkon. Ich war zehn Jahre alt, ich fand das schon lustig, weil alle mit dem Hut unten gesessen sind, und wie die zum Singen angefangen haben, da ist der Oberrabbi von Wien gekommen und so – das war halt so lustig. Und mein Vater ist unten gesessen, der hat sich so geniert, weil ich hab mich gar nicht halten können, der hat allerweil so hinaufgedeutet mit der Faust. Wissen S‘ eh, mit zehn Jahren ist ja sowas lustig, wenn die singen und jageln“.“ Sonst ist Traude Tauber, so banal es klingen mag, im Zusammenhang mit dieser Hochzeit nur eine „Beule“ in Erinnerung: „Da waren ja viel Neugierige dort, und die Rephans waren ja bekannt, und ein bißerl kriselt hat’s auch schon zu der Zeit, und ich bin vor lauter Freud, weil ich das erste Mal mit einem Taxi fahren hab dürfen, halt recht hoffärtig eingestiegen und bin voll angerannt. Dann hab ich so eine Beule gehabt. Die Tafel war dann im Brauhaus, das war eine sehr große Hochzeit, muß ich eigentlich sagen.“12 Nicht ganz ein Jahr später tritt Franz Rephan wieder durch die Tür des Tempels, und wieder warten Schaulustige in der Dinstlstraße, als er im September 1938 von SA-Männern gezwungen wird, den Tempel auszuräumen.

Sterben, das einzige Geschäft
Die finanzielle Situation wurde für die israelitische Kultusgemeinde Krems durch die Abwanderung zahlreicher Familien in den dreißiger Jahren immer dramatischer, wodurch sich die Verantwortlichen der Kultusgemeinde veranlaßt sahen, die nachlässige Zahlungsmoral einiger Gemeindemitglieder durch Exekutionsdrohungen zu beflügeln. So wurden auf diesem Wege von Jakob Schafranek aus Etsdorf die Begräbniskosten (ÖS 379,90) für Ernestine Schafranek, die Begräbniskosten (ÖS 200.-) von Frau Josefa Trachtenberg, von Josef Blau aus Horn (ÖS 403,40) und für das Begräbnis von Pauline Aufwerber aus Spitz eingefordert. Die Exekutionsdrohungen richteten sich selbst an Leopold Kohut, der bereits in Wien wohnte und unter Geldnot litt.“ Im Jahr 1935 wurde von der Kultusgemeinde bei der Bezirkshauptmannschaft um die Exekution der Kultussteuer von Alois Kolb (ÖS 70.-), und Jakob Schafranek aus Etsdorf (ÖS 222,23) angesucht. Im Jahr 1936 wurden Rudolf Wasservogel und abermals Jakob Schafranek an ihre Zahlungen erinnert. Die Restschulden waren auch im Februar 1937 noch nicht beglichen.“ Die chronische Geldnot veranlaßte die Kultusgemeinde auch Gebühren einzuhe-ben, die im Statut nicht ausdrücklich genannt waren, da sie nur so in der Lage war, ihren Bestand aufrecht zu erhalten.` Da sich die Betroffenen dagegen zur Wehr setzten, entwickelte sich in einigen Fällen ein reger Aktenlauf. Im Fall des Begräbnisses von Karoline Aufwerber verrechnete die Kultusgemeinde dem Sohn Alfred Aufwerber in Spitz ÖS 140.- an Überführungstaxe, obwohl diese nicht durch die Gemeinde durchge-führt worden war, und begründete diesen Satz damit, daß dadurch die Gebühren abgegol-ten wären, um die die Kultusgemeinde durch ein Begräbnis außerhalb ihres Einflußberei-ches gebracht worden sei. Die Bezirkshauptmannschaft gab dem Beschwerdeführer Alfred Aufwerber Recht, da im Statut der Kultusgemeinde nur eine Gebühr für die Tätigkeit ihrer „Funktionäre, Beamten und Beauftragten“ vorgesehen sei. Im Fall des Fabrikanten Adolf Schulz, der seine Fabrik in Imbach, den Wohnsitz jedoch in Wien hatte, versuchte die Kultusgemeinde in Krems aus der für die Jahre 1927, 1928 und 1929 geleisteten Kultussteuer ein Gewohnheitsrecht abzuleiten, das auch die Forderung nach der Kultussteuer im Jahr 1930 als angebracht erscheinen ließ. In diesem Rechtsstreit über die Kultussteuer und die Frage, ob bereits die geleisteten Zahlungen unrechtmäßig seien, kam es zu der Situation, daß beide Konfliktparteien von jüdischen Rechtsanwälten vertreten waren. Die Kultusgemeinde war durch Dr. Paul Brüll und Adolf Stulz durch Dr. Richard Adler vertreten. l‘, Die Besteuerung ließ die Kultusgemeinde auch rechtlich nicht haltbare Schreiben ausschicken, in denen es hieß, daß „ein Rechtszug gegen die Entscheidung derselben (Kultusgemeinde Anm. R.St.) in Kultusangelegenheit nicht vorgesehen“ ist und lediglich hinsichtlich der Höhe die Anrufung eines Schiedsgerichtes „frei gelassen ist“, wie es im Schreiben an die Gebrüder Dr. Leo Stern, Holzhandel in Mährisch Ostrau, die ein Gut in Mitter-Arnsdorf bei Spitz hatten, und zur Zahlung der Kultussteuer in der Höhe von ÖS 175.- für das Jahr 1931 verpflichtet wurden. Da die Kultusgemeinde in diesem Fall auf die „zwangsweise Einbringung“ verzichtete, sah sich die Bezirkshaupt-mannschaft Krems nicht genötigt, die Frage zu prüfen, ob Dr. Leo Stern und Franz Welwart als Mitglieder der Kremser Kultusgemeinde anzusehen seien. 17 Einen beinahe schon makaberen Fall stellt der Tod des Bürgermeisters von Guttenbrunn Siegmund Mahler dar, der ertrunken war und bei Krems aus der Donau gefischt wurde. Die Rechnung der Kultusgemeinde an die Erben enthielt neben der bereits erwähnten Überführungstaxe auch die Kosten für die rituelle Waschung, durchgeführt von vier Personen, sowie eine Funktionsgebühr für den Kantor und einen 50% Zuschlag, da Mahler nicht Mitglied der Kremser Kultusgemeinde gewesen sei. Dies ergab einen Betrag von ÖS 298,-, den die Kultusgemeinde im September 1927 forderte. In seinem ersten Schreiben erinnert Julius Mahler, daß die Beerdigung „nie im Bereich der Kultusgemeinde stattgefunden hatte“, der Bruder zur „Veraschung nach Wien überführt“ worden sei.` Im Dezember belehrte die Bezirkshauptmannschaft Julius Mahler, daß seine Ansicht irrig sei, da die rituelle Waschung durchgeführt und die Gebete vom Kantor Samuel Neubauer gesprochen worden seien. Der Erbe wollte sich jedoch damit nicht zufriedengeben und erinnerte nun im Februar des kommenden Jahres daran, daß ein Bruder des Verstorbenen vor Zeugen gebeten habe, eine rituelle Zeremonie zu unterlassen, weil der Verstorbene freidenkerisch eingestellt war. Weiters wurde nun die Überlassung der Leibwäsche des Verstorbenen als Ersatz für die rituelle Waschung als „Gegenpost“ gesehen. Die Kultusgemeinde sah darin ein „sehr frivoles Verschleppungsmanöver der Zahlungsverpflichteten“. Die Annäherung an die tatsächlichen Vorgänge und Totenrituale erfolgte nur schrittweise, und dies dürfte nicht so sehr in der freidenkerischen Haltung als in der Tatsache der „Überschuldung“ des Erben von Siegmund Mahler gelegen haben. Die Kultusgemeinde beharrte auf der Bezahlung des gesamten Betrages und gab sich auch nicht mit den bereits gezahlten 100 Schilling zufrieden. Im Ausgleichsverfahren, das gegen Julius Makler eröffnet wurde, wurden der Kultusgemeinde letztlich 45 Schilling für die angelaufenen Unkosten zugesprochen.19

Das Zionistische Heim in Krems
Der zweite bauliche Fixpunkt für das Leben der Juden in Krems war das zionistische Heim in der Eisentürhofgasse. Ursprünglich war dies ein Möbellager von Otto Adler gewesen, das etwas adaptiert den jüdischen Familien als Veranstaltungsort diente. Bei einem Besuch in Krems konnte Robert Kohn den Platz des Heims, gleich neben dem Gasthaus Zum goldenen Kreuz, wiedererkennen. Herta Ziskovsky war auch noch der Türschmuck, ein Zionstern, in Erinnerung.“ Die Frauen machten Kaffee und brachten Kuchen mit. Purim, Sylvester, Geburtstage und Hochzeiten wurden ebenso gefeiert, wie der Abschied, wenn eine Familie Krems verließ („Zum Beispiel die Abschiedsfeier der Karpfen“).“ In den besseren Tagen wurde in diesem Heim auch Theater gespielt. Die Stücke, die hier zur Aufführung gebracht wurden, hatten wenig mit dem jüdischen Leben zu tun. Gespielt wurde Nestroy, das Stück „Die Vorlesung bei der Hausmeisterin“ und ein satirisches Stück über „Schmul, den Schnorrer“, einen jüdischen Heiratsvermittler. Die Hauptrolle im letztgenannten Stück spielte Marion Karpfen (geborene Wasservogel). „Ich weiß nur noch, ich hatte ein blaues Kleid mit einem roten Gürtel an, meine Mutter hat gesagt: `Ich hätte dich runterreißen wollen von der Bühne, du bist ja unmöglich.` Regie führten meist David Bass und Samuel Geiduschek. Weiters ist noch ein Stück mit einem Sedlacek belegt, eine Parodie auf ein Wiener Kaffeehaus, hier spielte Robert Kohn die Hauptrolle und einige andere Männer Frauenrollen, „das hat zum Witz der ganzen Sache gehört.“23 Insgesamt sollen an die acht Stücke zur Aufführung gebracht worden sein, die verschie-denen Rezitations- und Musikabende nicht eingerechnet. Der Tanz der kleinen Kinder in den Biedermeieranzügen ist durch ein Foto von Fritz Nemschitz und Herta Adler belegt.

Teddybärterzett anläßlich der Feier zu Purim
im zionistischen Heim in Krems 1929
(v.l.n.r.) Erna Schlesinger, Bär (?), Marion Wasservogel

Theateraufführung des Stücks vom jüdischen Heiratsvermittler
im zionistischen Heim in Krems
(v.l.n.r.) Peter B. Neubauer, Robert Kohn, Marion Wasservogel, Sigi Neubauer

Auch das Largo von Händel kam zur Aufführung: auf dem Harmonium Marion Karpfen, an der Violine Robert Kohn, wer die beiden restlichen Instrumente beherrschte, kann heute nicht mehr gesagt werden. Mitte der zwanziger Jahre spielten aber auch die Eltern von Marion Karpfen noch Theater. „Mein Vater war auch dabei, er wird so 35 Jahre alt gewesen sein. Ich habe mich damals gewundert, daß diese älteren Leute noch Theater spielen.“24 Neben dem geselligen Teil beherbergte das zionistische Heim auch die einzige schlagende jüdische Studentenverbindung Makkabi. Diese Tradition, die von der Vätergeneration, hier vor allem Ignaz Rephan (geboren 1864) gepflegt worden war, gruben die Jugendlichen in den zwanziger Jahren wieder aus. Paul Pisker ging bei Rephan in die Schule, „der hat mich Fechten gelehrt, der hat uns auf die Finger geklopft, das tat weh, aber man mußte es sich gefallen lassen`. Juden schlagen „Deutsch hoch“ im zionistischen Heim Anfang der dreißiger Jahre, eine verrückte Welt.

Geheimsprache Hebräisch
Für die Jugendlichen war klar, daß die Verbindung zum Judentum auch in ihr Spielen Eingang fand. Beim Fußballspielen oder „Abschießen“ reklamierte jedes der Kinder einen Verein für sich. „Hakoah war stark umstritten, weil’s nur einen gegeben hat, alle wollten eben Hakoah sein. Ich bin entweder Rapid gewesen, oder sonst irgendwas.“26 Die hebräische Schrift beherrschte Fritz Nemschitz so recht und schlecht, für ihn war dies im Unterricht eine Art Geheimsprache, um mit seinem jüdischen Klassenkameraden Kurt Karpfen Briefe auszutauschen. „In der christlichen Religionsstunde sind wir immer sitzen geblieben. Wir haben uns Zettel geschrieben, deutschsprachig mit hebräischen Buchstaben. Das war sozusagen unsere Geheimschrift. Der Religionslehrer Soher hat einmal diesen Zettel erwischt und hat einen furchtbaren Lachanfall bekommen. Als Theologe konnte er natürlich Hebräisch lesen.“27 Robert Kohn, der von sich und seinen Kollegen meint, daß „wir sehr ungebildet waren, was das Schriftjudentum betraf, wir konnten die Buchstaben und die Gebete zur Not lesen, sehr zur Not“, erinnert sich an eine Belehrung in Sachen Hebräisch durch seinen Deutsch- und Französisch-Professor Dr. Holzer, der als frommer Katholik seinen Antisemitismus pflegte. „Als im Jahr 1925 die erste Universität auf dem Skopusberg in Jerusalem eröffnet wurde, war das für die Juden ein großes Ereignis. Die Zionisten haben das sehr propagiert. Es gab auch eine Medaille mit dem Gebäude und einer Inschrift drauf. Wir haben diese Medaille stolz getragen. Dr. Holzer hat uns daraufhin angesprochen und wir haben von der Eröffnung der Universität erzählt, die Inschrift konnten wir ihm nicht übersetzen, er aber hat uns das vorgelesen.“28

Blau-Weiß Gruppe Krems
Den Zusammenhalt zwischen den jüdischen Jugendlichen gewährleistete der jüdische Jugendbund „Blau-Weiß“, in dem die Kinder von rund acht bis ungefähr 15 Jahren zusammengefaßt waren. „Der war sehr rege. Wir hatten zionistische Propagandaarbeit, wir lasen einander aus zionistischen Schriften vor, haben über Aktuelles gesprochen und pflegten viel zu wandern.“29 Neben dem zionistischen Leitgedanken spielte auch die

Treffen der Blau-Weiß Gruppen in St. Pölten
3. Reihe: Fritz Karpfen (1. v.l.), Robert Kohn (2. v.l.)
2. Reihe: Marion Wasservogel (3. v.l.)
1. Reihe: Grete Körner, St. Pölten (3. v.l.)

Lager von Blau-Weiß im Landheim in Pulgarn
(v.l.n.r.) Grete Körner, St. Pölten, später Haifa;
Sigi Neubauer (vorne im Spagat), Peter B. Neubauer (ganz hinten)

Emanzipation vom Elternhaus eine große Rolle: „Nicht alles akzeptieren, was die Eltern sagen, eigene Wege gehen und neue Wege suchen. Das war der Trend.“30 Aufgebaut wurde „Blau-Weiß Krems“ mit Hilfe der Blau-Weiß Organisation in Linz, wohin es durch die verwandtschaftlichen Beziehungen der Familie Kontakte gab. Eine zentrale Rolle am Beginn der zwanziger Jahre in Krems spielte Egon Weiß (geboren 1903), der mit Robert Kohns Schwester Alice verlobt war. „Ein sehr tüchtiger Bursche, er hat die Burschen geleitet, meine Schwester die Mädchen. Er hat das sehr geschickt gemacht. Wir sind viel gewandert und er hat auch auf Disziplin geschaut.` Den Angaben von Miriam Karpfen zufolge muß Blau-Weiß im Jahr 1922 gegründet worden sein, denn sie sei gerade acht Jahre alt geworden und Egon Weiß sei vor der Matura gestanden 32 Die Heimabende fanden in einem Zimmer im Tempel statt. Trotz des großen Altersunterschiedes verstand es Egon Weiß, die Kinder und Jugendlichen zu fesseln. „Er hat uns erzählt von Palästina und von der Landwirtschaft, von den Orangenpflanzungen und daß das unsere Heimat ist.“33 Das Programm bei den Wanderungen glich dem der Wandervögel und der Pfadfinder, Entfernungen schätzen, Knoten machen und Spuren suchen. Im Jahr 1925 übernahm Robert Kohn die Gruppe. Nachher stieß, sehr zur Freude der Kremser, „Wir waren begeistert, endlich einer mit Erfahrung, der das übernimmt“, Viktor Kellermann34 aus Linz zu Blau-Weiß, der zu seiner Schwester gezogen war, die mit dem Leiter der Phönix Versicherung, einem Mann namens Schatzl, verheiratet war. Gegen Ende der zwanziger Jahre dürften die Aktivitäten abgeflaut sein, da kein Neuzugang von jüdischen Kindern festgehalten ist. Bela Neubauer und seine Schwester Trude waren die letzten Leiter von Blau-Weiß Krems, die belegt sind. Für Bela Neubauer war Blau-Weiß Krems eine bürgerliche Gruppe. „Ich habe sie dann in eine andere Richtung gezogen, mehr ins Sozialistische, die waren nicht nur sozialistisch, sondern haben sich auch auf Palästina vorbereitet. Wir haben dann 1928/1929 zweimal an Sommerlagern am Wörthersee teilgenommen.“35 Die Loslösung von den Eltern ging jedoch nicht problemlos vor sich und war in der Theorie, in den Heimabenden, leichter als in der Praxis zu Hause. Bereits der Umgangston der Leiter mit den Kindern und Jugendlichen war den Eltern verdächtig – wie konnte ein achtjähriges Mädchen zu einem um zehn Jahre älteren Buben auch Du sagen. „Das ist der junge Herr Weiß, haben mir meine Eltern einzureden versucht, ich habe aber darauf beharrt, daß wir ihn mit Egon anreden durften.` Für Robert Kohn war klar, daß die Kinder in Wien viel fortschrittlicher waren. „Die machten keine großen Geschichten. Wenn sie wandern wollten, erklärten sie ihren Eltern einfach, am Sonntag sind wir dort. Bei uns war es üblich, mit den Eltern Probleme zu haben. Oft mußten wir lang tänzeln, damit etwas durchging. Die Marion (Wasservogel, Anm. R. St.) mußte oft versuchen, den Vater herumzukriegen. Meine Eltern ließen mir und meiner Schwester alle Freiheiten.“37 Neben den Wanderungen in der näheren Umgebung gab es dann noch Treffwanderungen mit anderen Blau-Weiß Gruppen aus St. Pölten und Linz und die Aufenthalte im Landheim Pulgarn in der Nähe von Linz.38 Die Jahre vor der Zerschlagung und Auflösung der Kultusgemeinde 1938 waren in Krems durch einen Streit der Gemeindemitglieder, ja die Spaltung der Gemeinde markiert. Ursache war ein persönlicher Streit zwischen Norbert Sachs und dem Kantor Samuel Neubauer in den dreißiger Jahren gewesen, der seinen Grund nicht nur in dessen angeblich mangelnder Unterstützung für die zionstischen Ortsgruppe hatte. Ihren Nieder-schlag fand dies auch in einem Akt in der Bezirkshauptmannschaft, demgemäß Sachs und Georg Bass (Marlow) der „Opposition“ angehört haben dürften, da diese das Fehlen von 180 Schilling auf dem Steuerkonto und die Entnahme von 2000 Schilling, einem Drittel der Gesamtauslagen 1930 „ohne Genehmigung des Ausschusses“ anprangerten. 39 Vom Bezirkshauptmann wurde der Präsident der Kultusgemeinde, Otto Auspitz, einvernommen, der eine Ausschußsitzung in Aussicht stellte, bei der die in Betracht kommenden Fragen einer Lösung zugeführt werden sollten. Inwieweit die „Streitigkeiten in der israelitischen Kultusgemeinde“ nach einer Sitzung am 23. Oktober in der Bezirkshauptmannschaft beigelegt wurden, kann nicht gesagt werden, jedenfalls wurde bei der nächsten Sitzung des Kultus-Vorstandes am 8. November um 15 Uhr der Landesregierungskommissär Dr. Gauss beigezogen.

Anmerkungen
1 Abraham Nemschitz. Interview
2 Hannelore Hruschka: Die Juden in Krems von den Anfängen bis 1938. S. 252 f
3 Ebd. S. 214
4 Ebd. S. 217
5 Fritz Nemschitz. Interview
6 Hans Tüchler. Interview
7 Abraham Nemschitz. Interview
8 Paul Pisker. Interview
9 Herta Ziskovsky (geborene Sacher) Interview
10 Ebd.
11 Traude Tauber. Interview. Mit „jageln“ ist das Singen in hohen Tonlagen gemeint.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 NÖLA V/371/1934 Exekutionsdrohungen
15 NÖLA V/44/ 797/1937. Exekutionsdrohungen
16 NÖLA V/44/ 238/1930 Streit Begräbniskosten für Karoline Aufwerber
17 NÖLA V/44/ 144/1932 Kultussteuer Adolf Stulz
18 NÖLA V/44/216/1932 Kultussteuer Dr. Leo Stern
19 NÖLA V/44/71/1932 Kultussteuer Adolf Stulz
20 NÖLA V/44f 71 /1930 Begräbniskosten Siegmund Mahler
21 Herta Ziskowsky. Interview
22 Purim. Jüdisches Fest, das am 14. Adar (Februar/März) gefeiert wird. Volks- und Freudenfest
23 Abraham Nemschitz. Interview
24 Robert Kohn. Interview
25 Miriam Karpfen. Interview
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Paul Pisker. Interview
29 Hans Tüchler. Interview
30 Fritz Nemschitz. Interview
31 Robert Kohn. Interview
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Miriam Karpfen. Interview
36 Ebd.
37 Robert Kohn. Interview Viktor Kellermann arbeitete als Versicherungsagent bei der Firma Phönix in Krems und war mit Elfi Auspitz verheiratet. Ihm ist nach Angaben von Robert Kohn ebenfalls die Flucht nach Palästina gelungen. Er lebte bis zu seinem Tod in Ramat Gan. Seine Schwester soll nachdem „Anschluß“ mit einem Hakenkreuz in Krems herumgelaufen sein. Um den Verfolgungen zu entgehen, soll sie sich bescheinigen haben lassen, daß sie die Tochter von einem Christen gewesen sei, mit dem ihre Mutter ein Verhältnis hatte.
38 Bela Neubauer. Interview
39 Miriam Karpfen. Interview
40 Ebd.
41 Eine begüterte Witwe namens Schapira hatte diese alte Mühle dem Jugendbund Blau-Weiß geschenkt.
42 NÖLA V/44/270/1931. Kremser Kultusgemeinde