Abraham, wo bist du?
Kein Gedenkstein, aber ein Nachruf auf den Kremser ohne den die Geschichte der jüdischen Gemeinde nie geschrieben worden wäre.
Robert Streibel, 18.Mai 2008
Ich bin kein Steinmetz, Grabsteine, das sind nicht meine Welt. Worte setzen, das sehe ich als meine Aufgabe an, und manchmal gelingt sie. Würde ich mit einem Grabstein beginnen, ich hätte ein Jahr Zeit, doch ich würde die Buchstaben von links nach rechts schreiben. Hebräisch habe ich nicht gelernt in den letzten 20 Jahren. Einen Versuch habe ich gestartet, doch das war zu wenig. Ein Jahr hätte ich nun Zeit für einen Grabstein. Mit meinen Worten kann ich jetzt beginnen.
Wenn ich richtig rechne, kennen wir uns 20 und ein Jahr. Ob ich deinen ersten Brief noch finde? Vielleicht, doch damit will ich mich jetzt nicht aufhalten. Als Archivar würde ich versagen. Jetzt, sofort. An diesem Tag noch, beerdigt ohne Worte, das wäre nicht würdig. Ohne dich hätte ich einen Teil der Welt nie gesehen. Und das ist keine Frage der Geographie. Dass es Dich gibt, habe ich nicht gewusst, damals als die Zeit des Nationalsozialismus im Schweigen und Verdrängen begraben war. Ein Brief hat den Weg gefunden, über Zufälle. Willi Glass in den USA hat dir geschrieben, dass es da einen jungen Historiker gibt, der etwas über die Geschichte der Juden in Krems schreiben will. 1987. Das waren Zeiten. Und plötzlich bekam ich aus heiterem Himmel einen Brief, einen Air Letter, diese blauen Briefe, wo ich bis zum Schluss nicht gewusst habe, wie sie richtig zu öffnen sind. Auf welcher Seite sie aufschneiden, damit der Brief nicht in zwei Teile zerfällt? Bis heute habe ich es mir nicht gemerkt, ich werde keine Air Letter mehr bekommen. Ich kann mich an niemanden erinnern, der solche Briefe geschrieben hat, in letzter Zeit sind sie selten geworden.
Das ist mein erster Brief nach dem Ausbleiben, den letzten Brief an dich habe ich nicht mehr geschrieben, nur angekündigt. Ich hätte dir geschrieben über unsere erste Familienreise nach Israel, der Besuch bei dir war der Abschluss und Höhepunkt. Das Telefon war leichter, schneller und flüchtiger auch. Das letzte Telefonat habe ich nicht mehr mit dir geführt. Du warst zu schwach, um den Hörer zu nehmen. Was hätten wir uns auch noch sagen sollen? Die letzte Frage, die hättest du nicht gestellt und ich wäre froh darüber gewesen. Ist der Plan für die Renovierung des jüdischen Friedhofes in Krems realisiert? „Noch nicht“, habe ich in den letzten Jahren gesagt. Aber ich bin ein Optimist. Ich bin es noch immer, auch wenn du nicht mehr den Fortgang begleiten kannst, mit deiner Skepsis, mit deiner Freude.
Den Rasierchaum vom Telefonhörer habe ich abgewischt, deine Nummer war eingespeichert und als ich den Namen auf dem Display gesehen habe, wusste ich, es ist vorbei. Terry, deine Frau habe ich zwischen dem Krachen gehört, Du warst so schwach, du konntest nicht mehr, am Mittwoch in der Nacht hast du Gott gebeten, er möge dir helfen und zwei Stunden hat es noch gedauert, dann wurdest du erhört. Du bist zu Hause gestorben in Herzlia, das Zimmer kenne ich, in diesem Gästezimmer hast du mich beherbegt, für eine Woche; die Bilder deiner Familie am kleinen Kasten in Holzrahmen.
Der letzte Besuch bei dir ist, keine drei Wochen her, lange hatten wir diesen Besuch geplant, ich bin froh, dass du gewartet hast. Mühsam war es für dich, aus dem Bett aufzustehen, mit der Sauerstoffflasche, du bist dann in deinem Sessel gesessen, die Fenster wurden geschlossen, kein Zug. Krems hast du im Blick gehabt, Postkarten, Gemälde, die Synagoge, ich wollte dich noch für zwei Minuten filmen für Youtube, deinen Witz hast du nicht verloren, auch wenn dir das Reden schwer viel. Diesen letzten Film gibt es nicht. Alles in der Erinnerung und das ist gut so.
Ohne dich hätte ich die Tür zur Geschichte niemals öffnen können. Als wir durch Monate hindurch Briefe geschrieben haben, 1987 oder war es schon 1986, da hast du dann einmal in einem Nebensatz geschrieben, am besten wäre es ich würde nach Israel kommen um mit dir zu sprechen. Eine unglaubliche Idee damals für mich. Ich habe alles vorbereitet, ich hatte die Idee, als offizieller Vertreter der Stadt zu kommen und habe eine kleine Mappe mitgebracht mit den Schreiben von Gemeindevertretern, der Bürgermeister Harald Wittig (VP) hatte damals kein Schreiben an die vertriebenen Kremlerinnen und Kremser schreiben wollen, aber die Vizebürgermeister von VP und SP, die Grünen und die KPÖ hatten geschrieben und das war mehr als es zu hoffen galt.
Du hast meinen Besuch erwartet und alles vorbereitet, du hast telefoniert und alle überzeugt, alle KremserInnen in Israel, dass sie mit mir sprechen sollen, dass es wichtig wäre. Du hast es geschafft. Erna Wasservogel, Robert Kohn, Paul Pisker, Trude Erlanger, Esra Cohen, Hilfe Kerpen und Neumark, Fritz Nemschitz, dein Bruder, Olly, deine Schwester, Ruth Ginzburg und Erich Wasservogel. Alle haben damals mit mir gesprochen und ihr Leben erzählt, ihre Fotos gezeigt. In deinem Wagen sind wir zu ihnen gefahren, du bist mitgegangen, hast mich vorgestellt. Hättest du dich damals nicht überwunden, die Geschichte über die kleine jüdische Gemeinde wäre nie geschrieben worden. Nichts würde erinnern, kein Buch, kein Denkmal.
Als die Dokumentation\“Und plötzlich waren sie alle weg\“ erschien, wurdest du eingeladen, offiziell von der Stadt Krems und du hast gehört wie der damalige Bürgermeister Ing. Erich Grabner (VP), der als Vizebürgermeister schon Stellung bezogen hatte, in einem kurzen Schreiben, aufs Podium gestiegen ist und gemeint hat. Der Satz auf dem Klappentext des Buches\“Krems ist eine braune Stadt\“, der schmerze ihn natürlich,. Er hat dann eine Pause gemacht, eine sehr lange und allen im Saal ist die Luft weggeblieben, was würde nun kommen. Das\“aber es stimmt\“ war die kürzeste und mutigste und ehrlichste Aussage, die ich jemals gehört habe. Ohne dieses\“ja es stimmt\“ wäre vieles nicht möglich gewesen. Dass nur ein Jude zu dieser Präsentation eingeladen wurde, das habe ich niemals erwähnt, dass es nur du warst. Damals hat es auch ein Gefeilsche gegeben, ums Geld, um die Flugkosten. Und dass damals ein Beamter zu mir gesagt hat.\“Wir haben nicht mehr so viel Geld, wir haben beim Wachauer Volksfest 200 Senioren zu einer Jause eingeladen und daher ist das Budget ausgeschöpft“, das hätte ich dir nie sagen wollen. Auf 200 SeniorInnen kommt ein Jude. Das ist der Umrechnungs-Schlüssel. Schweigen war mein Kompromiss. Mehr war damals nicht möglich. Früher gab es Hofjuden, heute, wo der Adel und die Höfe abgeschafft sind, lebt diese Tradition jedoch weiter. Für die späten 80er Jahre stimmte dies sicherlich.
Du bist dann immer wieder nach Krems gekommen. Dein erster Besuch in Krems, vor der offiziellen Einladung, im Auto haben wir uns der Stadt genähert. Du hast es ertragen, dass ich damals mit einer Videokamera gefilmt habe. Die Aufnahmen sind verwackelt und verschwommen, die gelben Rapsfelder auf dem Weg, die sind mir in Erinnerung geblieben.
Gelbe Rapsfelder, jedes Jahr muss ich an dich denken. Du bist dann, später regelmäßig gekommen, um Urlaub zu machen in Krems, elf Jahre hindurch. Du hast im BRG zu SchülerInnen gesprochen, hast den Friedhof besucht, hast das Denkmal gesehen. Du warst zufrieden und hast mir die Idee gegeben, dass für eine dauerhafte Pflege des Friedhofes nicht nur auf offizielle Stellen zu warten sei. Heute ist der Friedhof begehbar, wenngleich der Plan für den Eingangsbereich noch der Realisierung harrt. Du hast die Ausstellung gesehen, die SchülerInnen des BRG gemacht haben, an den Orten, wo sich die Geschäfte und die Wohnungen der Jüdinnen und Juden befunden haben. Das war dein letzter Besuch. Mühsam war es für dich, Schritt für Schritt eine Überwindung, in der Zoohandlung in der Dinstlstraße haben wir ins Schaufenster geblickt und die Tafel gesehen und im Teppichgeschäft gegenüber der ehemaligen Synagoge, beide Tafeln hängen auch heute noch.
In den letzten Jahren hat die Geschichte zwischen uns nicht mehr die Rolle gespielt wie am Beginn, vieles war gesagt. Das Leben ist nicht nur das eines Zeitzeugen. Mit Freunden redet man nicht mehr nur über die Vergangenheit. Du warst Gast bei Geburtstagen, hast unsere Familien besucht und Grüße ausgerichtet, hast dich gefreut und mitgetrauert und du hast nie einen Geburtstag von Valerie, unserer Tochter vergessen. Deinen habe ich mir nie gemerkt, ich hoffe, du warst mir darüber nicht zu böse.