Nachgeborene, unschuldige Täter und verdrängte Spuren Auf den Spuren der Kremser Juden in Wien

Ich beginne meinen Lokalaugenschein im zweiten Wiener Gemeindebezirk in der Lilien-brunngasse 13, gleich hinter dem Dianabad. Es sind geographisch-organisatorische Gründe, die meine Route bestimmen, große Wegstrecken habe ich nicht zurückzulegen, den Kremser Juden wurde als Aufenthaltsort in Wien die Leopoldstadt zugewiesen. Das Ghetto von Wien. Ich habe die Adressen von rund 27 jüdischen Familien erhoben. Für diesen Lokalaugenschein gibt es keinen Jahrestag, deportiert wurden die Familien am 26. Jänner 1942, am 12. März 1941, am 23. Oktober 1941 und … Würde es etwas ändern, die Häuser genau an diesem Tag aufzusuchen, vielleicht war der Himmel ähnlich verschmiert, die Luft zu rauh oder zu mild für diese Jahreszeit. Ein Kalender für diesen Lokalaugenschein, einige Termine hätte ich schon verpaßt, auf andere müßte ich zu lange warten. Die Lilienbrunngasse ist der Beginn. Das Haus Nummer 11 wurde im Krieg zerstört, wie die Tafel am Hauseingang vermeldet. Die Bomben sollten nicht gleich am Beginn dieser Gedenkwanderung ganze Arbeit geleistet haben. Im Nebenhaus ist das Christian College, das sich um Flüchtlinge annimmt, untergebracht. Ich stehe vor dem Haus, zwei Straßenkehrer arbeiten sich zwischen den Autos in meine Richtung vor, im Hauseingang gegenüber steht eine Gruppe Juden, kommen Sie aus der Sowjetunion, oder aus dem Iran?

KEINE ZEIT FÜR FRAGEN

Zweiter Stock. Ich läute. So muß sich ein Zettelverteiler fühlen. "Guten Tag, ich bin Historiker und schreibe über Juden, die 1939 in diesen Bezirk übersiedeln mußten", eine Erklärung durch die geschlossene Tür, nicht einmal ein Guckloch wird geöffnet. "Ich habe keine Zeit für Fragen." Das schlapfende Geräusch muß mir Indikator dafür sein, daß meine Suche an dieser Tür als beendet zu erklären ist. In der Nebenwohnung öffnet sich das Gangfenster. Eine Unterhaltung durch die Gitterstäbe. "Guten Tag, wohnen Sie schon lange hier. Ich frage deswegen, weil ich…" Das "Ja" ist für mich ein Hoffnungsschimmer. Ja, Juden hätten hier gelebt, Kontakt hätte Sie schon gehabt, an David und Erna Bass kann Sie sich nicht erinnern, meint Frau A.H., die trotz ihrer frisch gewaschenen Haare zu einem kurzen Gespräch bereit ist. "Wäre ja auch Zufall gewesen." Der Zufall will es, daß die Frau, wie Herr und Frau Bass im Dezember 1938 in das Haus eingezogen ist. Wenn die Familien abtransportiert wurden, "wurde die ganze Gasse abgesperrt, alle Wohnungen wurden systematisch durchsucht. Wir haben uns nicht viel rühren dürfen, denn wissen sie, ich bin ein ‚Mischling‘." Die zugeknöpfte Nachbarin hat gute Gründe für ihr Verhalten, meint Frau M.H.: "Eine Parteigenossin, sie wissen schon." Wieder auf der Gasse, die Straßenkehrer haben den Platz, wo auch am 19. Februar 1941 die Straße abgesperrt worden sein dürfte, als David und Erna Bass geholt wurden, hinter sich gelassen und widmen sich gerade einem Hundstrümmerl. Mit einem Hundebesitzer kommen die beiden Männer in ihren orangefarbenen Uniformen ins Gespräch. "Lauter Juden da, naja, früher waren das Einheimische, aber jetzt sind’s alle Ausländer." Jude und Ausländer, ein doppeltes Stigma. Oder sind Juden nicht ohnehin Ausländer für viele Österreicher? Hinterlistig sind sie auf jeden Fall für den Mann mit dem Pintscher, der sein Hemd offen trägt und das Goldkreuz offenbar als Wertanlage auf der behaarten Brust verstanden wissen will, denn letztens hat doch so ein Judenbub dem Hund einen Tritt gegeben. "Was sagen’s da dazu." Einige Gassen weiter, die Sperlgasse mit dem obligaten Polizisten lasse ich hinter mir. Die Haidgasse 10, ein mächtiges Haus, ein imposanter runder Erker. Im Erdgeschoß wird gerade ein Geschäft renoviert. Der Mann, der das Portal streicht, weiß von nichts, er ist selbst nur ein Lakai. Ein rüstiger Pensionist, graumeliert, vertrauenswürdig, bleibt stehen, schnappt einige Fetzen des Gespräches auf und versichert, er sei auch erst lange nach 45 hierher gekommen, leider könne er nichts sagen. Nach fünf Minuten treffen wir uns im Hausflur wieder. Die Hürde der Gegensprechanlage ist für diesmal gemeistert worden.

"Wo sollen denn die neun Kinder mit dem Vater gelebt haben.", fragt mich der graumelierte Herr. Auf meiner Liste steht Emil, Siegfried, Erna, Irma, Otto, Erwin, Inge, Johanna, Albert und Bella Blau: Haidgasse 10, Tür Nummer 4. "Eine Nummer vier gibt es in dem Haus gar nicht." Zwei Pensionistinnen kommen vorbei. Ich habe einen Fürsprecher gefunden. "Der Herr ist ein Doktor und schreibt über Juden, stellen Sie sich vor, auf Tür Nummer vier soll ein Vater mit zehn Kindern gelebt haben. Aber Sie sind ja auch erst 45 eingezogen." "Na, Tür Nummer vier, das ist ja das Knöpferlgeschäft, aber da können doch nicht soviele Leute gewohnt haben, die haben ja nicht einmal Wasser g’habt", meint eine der Damen. Die drei Herrschaften gehen die Treppen hinauf und diskutieren weiter "Zeiten waren das". Das Fotografieren des Hausflures dauert länger, als von oben eine andere Frau herunterkommt, ist sie bereits informiert: "Gehört das auch für ihre Arbeit?" Ich betrete das "Knöpferlgeschäft" durch den Gasseneingang. Ein Mann kauft einen Zippverschluß, weiß aber nicht wie lange er sein muß, damit er auch in den Polster für den Kinderwagen paßt. Ich warte. Der Dackel hinter der Holzverschalung bellt unaufhörlich. Meine Erklärungen werden dennoch verstanden. "In diesem Raum sollen in der Zeit zwischen August 1940 und März 1941 zehn Personen gewohnt haben. Darf ich hier fotografieren?" Das Zögern dauert lange. Wer hat die besseren Nerven. "Aber was hat das mit mir zu tun. Das will ich nicht." Ich habe die besseren Nerven, zwei Fotos werden mir gestattet. Selbst die Nachgeborenen haben ein schlechtes Gewissen. Die letzte Reise der Familie Emil Blau endete in Lagow-Opatow in Polen.

WOHNRAUMBESCHAFFUNG

In der Haidgasse 7 wird die Geschichte lebendig, im dritten Stock öffnet eine Frau, die laut Aussagen ihrer Nachbarn bereits seit den vierziger Jahren im Haus wohnt. "Als wir eingezogen sind, da waren keine Juden mehr im Haus, da waren die Wohnungen schon leer. Wir haben die Zuweisung für die Wohnung im Herbst 1941 gekriegt, wissen’s mein Mann war bei der Finanz, im Oktober ist unsere Tochter da schon auf die Welt gekommen." Philipp und Anna Schafranek müßten nach den Angaben der Meldekartei noch einige Monate mit den neuen Mietern im Haus gewohnt haben, bevor sie sich im Mai 1942 nach "Minsk abmeldeten". "Nein, Juden waren keine mehr im Haus." Tatsache oder Verdrängung, in die Wohnung der Schafraneks ist ja dann auch ein Finanzbeamter eingezogen, der ist aber schon lang wieder weg. Die "Rassenpolitik" des "Dritten Reiches" schaffte Wohnraum, sicher kein angenehmes Gefühl. Nach dem dritten Haus ist der Blick bereits geschult, die Gestaltung der Namensschilder und das Arrangement aus Blumen, Fußmatte, Schuhen und/oder Gerümpel vor der Haustür läßt mit Sicherheit auf mögliche Zeitzeugen – zumindest was ihr Alter betrifft – schließen, wenn sie zu Hause sind. In der Großen Mohrengasse 20, dem Haus mit Schneiderei, Putzerei, einem Geschäft mit Damenkonfektion und verschiedenen Höfen hätte im letzten Stock, im Hof, gleich neben dem Haupteingang, das Arrangement gepaßt: die Türe schält sich aus dem Ölanstrich, das Namensschild in Fraktur, der Namenszug mit einem geschliffenen Glas geschützt. Kurz nach dem Läuten öffnet ein älterer Mann, aufgestört von seiner Eierspeise. Mit meinen Erklärungen komme ich nur bis zum Wort "Juden". Die abschätzige Handbewegung ist so heftig, daß ich mich fast ducke. Die Mühe bei der alten Frau im Erdgeschoß ist vergeblich, zwischen den Zeitungsstößen und den verschiedenen Stoffetzen hebt sich ihre kleine Gestalt im Gegenlicht der Tür nur bei näherem Hinsehen ab, wie bei manchen Fixierbildern erst eine längere Betrachtung die Frauengestalt oder den Blumenstrauß freigibt. Als hätte sie hier zwischen diesem Gerümpel überlebt, vergessen. Sie beteuert immer wieder nichts kaufen zu wollen. Alle Versuche bleiben vergeblich. Keine Auskunft über die beiden alten Damen Pauline Glaser und Henriette Jilka, die in Mautem ein kleines Stoffgeschäft betrieben haben. Es ist sicher kein Zufall, daß sie in diesem Haus für etwas mehr als ein Jahr Zuflucht gefunden haben, vielleicht eine Geschäftsbeziehung, am 23. Oktober wurden beide abgeholt: Endstation Litzmannstadt. Vor dem Ausgang die Begegnung mit einer Frau, die gerade von ihrem Vormittagseinkauf nach Hause kommt. Die letzte Gewißheit: die einzige Jüdin, die in diesem Haus noch gewohnt hat, ist vor zwei Monaten gestorben, tut mir leid. Leopold Schlesinger ist aus der Wohnung in der Zirkusgasse 21, einem Jugendstilhaus, in dem auch 1990 die Orginallampen noch nicht abmontiert sind, verschwunden; im November 1939 eingezogen, dann versagt die Bürokratie: vielleicht ist ihm die Ausreise geglückt. Als die Frau, die keine Zeit hat, "weil Sie den Mann im Spital besuchen muß" 1941 hier einzog, hat es "keine Juden im Haus mehr gegeben." Sie ist die letzte aus dieser Generation, unschuldige Täter, indirekte Profiteure der Judenvernichtung.

WAS INTERESSIEREN MICH DIE JUDEN

Joel Hirsch, der Pferdehändler aus Krems, gegen den 1938 eine Kampagne in den Lokalzeitungen von Krems geführt wurde, die selbst den "Stürmer" zu einem Bericht über den "Frauenschänder" anregte, hat mehr als drei Jahre in der Zirkusgasse 25 überlebt, bevor ihn die Nazis 1942 nach Theresienstadt deportierten. Zirkusgasse 1990. Lange Vorrede, die von einer grellgeschminkten Dame in der durch eine Kette gesicherten Tür geduldig ertragen wird, als ob sich ein Boiler aufladen würde: "Was gehn mich die Juden an, mich interessiert das ja alles nicht, Sie sind gut, das ist ja eine Zumutung. Mir ist das doch gleich, ob einer Jud‘ oder Christ oder Mohammedaner ist." Ich will das Gespräch nicht abreißen lassen: "Ja Ihnen mag es gleich sein ob Jude oder nicht, aber damals war das eine Überlebensfrage." Der Überdruck wird abgelassen: "Mir ist der Glaube wurscht, wann’s damals anders war, kann ich nur sagen: Pech gehabt, daß er ein Jud‘ war."

Vielleicht hat die Welt noch eine Chance auf friedlichere Zeiten? Aus den Briefen von Abraham Nemschitz

Im Jahre 1986 erzählte mir der ehemalige Arbeiter in der Tischlerei Otto Adler, Edwin Wendt, von Willi Glass, mit dem er gemeinsam bei den Roten Falken in Krems politisch aktiv gewesen sei. Der Kontakt zwischen den ehemaligen Roten Falken beschränkte sich nach 1945 lange Zeit auf Weihnachtsgrüße. Anfang der siebziger Jahre besuchte Willi Glass seine ehemalige Heimat und traf auch mit den alten Bekannten zusammen. Nach diesem Interview schrieb ich Willi Glass von meinem Projekt, die Geschichte der Juden von Krems aufzuarbeiten, und bat ihn, mir den Kontakt zu anderen Kremser Juden herzustellen. Die Antwort kam nach einigen Wochen: Es gäbe noch Kremser Juden in Israel, doch aus verständlichen Gründen könne er mir die Adressen nicht geben, werde aber in einem Brief von meinem Vorhaben berichten. Es liege dann bei seinen Freunden in Israel, mit mir in Kontakt zu treten oder nicht. Ein Beginn mit vielen Unbekannten. Anfang des Jahres 1987 erhielt ich überraschend Post aus Herzlia in Israel. Abraham Nemschitz schrieb von einer schlaflosen Nacht, die ihm mein Brief, den er von Willi Glass via USA bekommen habe, bereitet habe. Ein Beginn, mehr nicht. Mit meinem Antwortbrief wollte ich keinen Tag warten. Ein Briefwechsel begann, die Zeit war günstig und ungünstig zu gleich. Günstig, weil, wie Abraham Nemschitz in einem Gespräch später erläuterte, er gerade in Pension ging und plötzlich Zeit hatte, über sein Leben und das Schicksal seiner Familie nachzudenken. In dieser Phase der Reflexion begann Abraham Nemschitz, das Fluchttagebuch seines Vaters, das in millimetergroßer Schrift Tag für Tag die Flucht aus Wien belegt, zu transkribieren. Ungünstig, weil diese Kontaktaufnahme für viele schon zu spät kam. Die Feststellung, daß in Briefen nicht alles gesagt werden könne, am besten in einem Gespräch die Geschichte der Familie erläutert werden könne, schien nicht mehr zu sein als eine Floskel. Es ist aber letztlich der Initiative von Abraham Nemschitz und Robert Kohn zu danken, der ebenfalls auf das Schreiben von Willi Glas antwortete, daß ich einen Forschungsaufenthalt im Juni 1987 planen konnte. Der Kontakt nach diesem Besuch und den Interviews mit den noch lebenden Kremser Juden in Israel vertiefte sich, trotz des Altersunterschiedes entstand eine Freundschaft. Die „Bilanz“ des Beginns mit vielen Unbekannten ist ermutigend. Abraham Nemschitz besuchte zweimal Krems und hatte vor allem 1989 nicht mehr das Gefühl, das ihn vorher bei Besuchen in seiner alten Heimat immer beschlichen hatte, sofort wieder „wegzuwollen“. Er konnte in Wien auf Grund eines „profil-Artikels“‚ eine weitschichtige Verwandte wiederlinden, er half mit, Politiker von der Notwendigkeit der Renovierung des jüdischen Friedhofes zu überzeugen. In den Briefen, die hier ausschnittweise dokumentiert sind, wurde unter anderem über das ProjektKrems 1938-1945, die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Renovierung des jüdischen Friedhofes und die Einstellung „der“ Stadt zu ihrer Vergangenheit berichtet und diskutiert. Die Ausschnitte dieses Briefwechsels sind das Dokument einer Entwicklung, ein anderer Zugang zur Geschichte der Stadt abseits von Gedenktagen. weiterlesen

Die ‚Gauhauptstadt‘ war niemals ‚judenfrei‘

Es gehört wohl zu den paradoxesten Erscheinungen der politischen Geschichte der Stadt Krems, daß trotz der langen antisemitischen und nationalsozialistischen Tradition, trotz der Ernennung zur Gauhauptstadt, kein einziges Mal in der Zeit zwischen 1938-1945 die Schlagzeile publiziert werden konnte: „Krems ist judenfrei“. Krems war niemals „judenfrei“. Die Zahl der Juden, die 1938 Krems verlassen hatten, kann auf rund 100 Personen geschätzt werden.‘ Im Gegensatz zu Städten wie Horn, wo die Vertreibung kollektiv auf Lastwagen erfolgte, setzten die NSDAP Krems und ihre Gliederungen auf einen permanenten Terror als Mittel zur Vertreibung der Juden. Daß auch den Kremser Juden ein Termin gesetzt wurde, der mit der jährlichen Abgabe der Haushaltslisten zusammengefallen sein dürfte, geht aus der Erzählung von Johann Kohn hervor, der mit dem Hinweis auf die Abgabe dieser Listen von seinen Freunden gewarnt wurde. Gertrude Hirsch (geb. Pisker, vereh. Erlanger) kam nach dem „Anschluß“, den sie bei ihren Eltern in Knittelfeld erlebt hatte, nochmals nach Krems, um Formalitäten zu erledigen. Über den Druck zur Ausreise berichtet sie folgendes: Erlanger: „Wir haben die Befehle bekommen und mußten bis dann und dann die Wohnung aufgeben.“ Frage: „Kam da ein Brief?“ Erlanger: „Das weiß ich nicht mehr, wie der Befehl war. Aber an einem bestimmten Datum mußten wir weg und nach Wien. Dort durfte man keine Wohnung haben und mußte wieder zu Juden ziehen.“2 Neben den in einer Liste im Jahr 1940 erfaßten „Glaubensjuden“ lebten in Krems nach den damaligen Gesetzen noch eine Reihe von Personen „jüdischer Abstammung“. Wie diese Personen überlebten, ist eine eigene Geschichte, wobei eine Hauptrolle dabei die Beziehungen zu Vertretern der NSDAP und ihrer Gliederungen gespielt haben dürften. So weist zum Beispiel Frau Ida Ptak darauf hin, daß ihr als „Volljüdin“ ihre Wohnung in der Rosseggerstraße weggenommen hätte werden sollen und sie sich daraufhin mit Dr. Max Thorwesten in Verbindung gesetzt habe, der ein Schulkamerad ihres Sohnes Emil Ptak war. „Dieser versprach ihm, daß er sich für ihn einsetzen werde und gab ihm eine Bestätigung dahin, daß mein Sohn Hauptmieter sei. Da mein Sohn nur jüdischer Mischling war, konnte er sich leichter behaupten und wir behielten die Wohnung.“ 3 Im Fall von Frau B., die heute noch in Krems lebt, dürften Beziehungen und die Tatsache, daß sie mit einem „Arier“ verheiratet war, wesentlich dazu beigetragen haben, daß sie in Krems überleben konnte. Dazu kommt noch, daß Frau B. keine gebürtige Kremserin war, sondern erst durch Heirat 1936 nach Krems kam und etwas außerhalb der Stadt wohnte. Der Mann von Frau B. war mit dem SA-Standartenführer Leo Pilz in die Schule gegangen. Als Frau B. den Judenstern tragen mußte, sei er, so Frau B., zur Parteistelle in Krems gegangen und habe sich beschwert: „`Ich halt für euch draußen an der Front den Kopf hin und meine Frau soll den Stern tragen‘, so oder so ähnlich hat er es erzählt.“4 Mehmals wurde Herr B. nach Angaben der Familie von Leo Pilz aufgefordert: „Gib‘ ihr einen Tritt in den Arsch und du bist ein gemachter Mann.` Daß Frau B. tatsächlich keinen Judenstern tragen mußte, geht aus der Erzählung einer Tabakarbeiterin hervor, die Frau B. auf dem Markt in Krems getroffen hat. „Die Marktfrau hat nicht gewußt, daß wir uns kennen. Als die Frau B. weg war, sagt die eine Frau, die auch dort gestanden ist: `Wissen Sie wer das war?-Nein-Das war doch die Jüdin, die B.- Na Na sowas, wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich der nichts gegeben, die soll sich noch einmal zu mir hertrauen.“‚6 Praktiziert hat diesen persönlichen Boykott, der von der Marktfrau in Erwägung gezogen wurde, die Blockleiterin G.,‘ die für den Block, in dem Frau B. wohnte, zuständig war: „Wir hatten hier eine Blockfrau, die eben über alle Verhältnisse genau Bescheid gewußt hat, die hat gewußt, daß ich Jüdin bin. Daher hat sie auf meine Karte ein großes J geschrieben. Auf den Karten, die alle bekommen haben, hat sie mir aus eigenem immer meine Fleischmarken gestrichen.“ Der Mann von Frau B. beschwerte sich persönlich bei der Blockleiterin, nachdem er von Bekannten von der demütigenden Prozedur erfahren hatte. „Mein Mann ist, so wie er war (in Uniform, Anm. R. St.) zu ihr hingegangen und hat sie darauf angesprochen. ‚Wie können Sie meinen kleinen Kindern das letzte was sie bekommen wegnehmen?‘ Da hat sie sich niedergekniet, das war schon 1944. ‚Wenn Sie ein Mann wären, dann würde ich sie mit dem nächstbesten Trumm erschlagen.‘ Sie war feig, furchtbar feig. Nur mit mir hat sie gemacht, was sie wollte, weil ich rechtlos war.“ weiterlesen

Eine aufgedrängte ‚Arisierung‘? Die Beteiligten, die Täter und das Opfer

In Krems gab es im Jahr 1938 27 „jüdische“ Gewerbebetriebe. Die Liste reicht von Otto Adler bis Oskar Wolter. Nach den bisherigen Informationen wurden vier Betriebe „arisiert“, damit liegt die Stadt Krems im Schnitt, denn von den 33.000 jüdischen Gewerbebetrieben in Wien wurden ebenfalls nur 15 Prozent arisiert, der Rest liquidiert oder aufgelöst. Die Arisierung war somit Teil der „‚Modernisierungs- und Strukturbereinigungs‘ Intentionen der Nazi-Planer“.‘ Im folgenden soll die Arisierung der Tischlerei von Otto Adler als Fallbeispiel darge-stellt werden, weil an Hand dieses Materials der von Gerhard Botz geforderte „Wechsel der Betrachtungsweise“, die die „österreichische Identität der Verfolger im weitesten Sinn und ihre soziale Motivation einbezieht“2, gerecht werden kann. weiterlesen

Die übrigen ‚Arisierungen‘

Die übrigen "Arisierungen" in Krems sind zur Zeit bei weitem nicht so ausführlich dokumentierbar wie im Fall Geppert und Zumpfe. Für das Sägewerk Jackes und Alfred Schafranek in Gedersdorf und den Uhrmacher Peter Bader war ebenfalls Felix Wolf als kommissarischer Verwalter bestimmt. Wie der Möbelfabrikant Johann Zinterhof‘ dazu kam, die "Arisierung" des Betriebes in Erwägung zu ziehen, geht aus der Zeugenaussage nicht hervor. Zinterhof gelingt es, sein Engagement im Vergleich zum Verhalten von Wolf positiv zu schildern. "Felix Wolf wurde bald nach dem Umbruch als kommissarischer Verwalter eingesetzt, kümmerte sich aber wenig um den Betrieb und bezog ca. 400 RM monatlich Honorar, während ich als der in Aussicht gezogene Erwerber mit Schafranek bereits im Geschäft arbeitete."2 Da – laut Zinterhof – auf dem Betrieb 250.000 Schweizer Franken Schulden lasteten, zogen sich die Verhandlungen bis 1941, bis die Schweizer Gläubiger die Zwangsversteigerung forderten und Zinterhof über diesen Umweg den Betrieb erwarb. Karl Frank, der Betriebsleiter der Firma Schafranek/Zinterhof datierte den Kauf des Betriebes mit 10.4.1943.‘ Felix Wolf zufolge soll noch ein "gewisser Mauricius Troll" als Verwalter eingesetzt worden sein, von dem Zinterhof lediglich berichten kann, daß er heftigst auf die Auszahlung seines Honorares gedrängt habe. Im November 1938 inserierte "Der kommissarische Verwalter" mehrmals in der "Land-

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Verladung von zwei Maschinen von Alfred Schafranek
(betrachtet die drei Arbeiter mit angewinkelten Armen)
auf dem Bahnhof in Gedersdorf im Jahr 1938

Zeitung" und fordert jene Personen auf, "die bei der Firma Peter Bader (…) Uhren oder Goldsachen zur Reparatur haben", diese bis längstens 31. Dezember beim Uhrmacher Eduard Eimer abzuholen.4 Für den Restbestand des Uhrmachers Peter Bader war von der Kreisleitung und von Felix Wolf der Uhrmacher Eduard Eimer bestimmt worden, der den Wert der von ihm übernommenen Waren mit 1.100 RM angibt.‘ "Preziosen und größere Wertgegenstände habe ich nicht übernommen. Meines Wissens haben diese Sachen die Abwickler, darunter auch Wolf, weggebracht. Eine Liste der von mir übernommenen Waren liegt ebenfalls bei der vorgenannten Stelle auf." (Abwickler für die jüdischen Einzelhandelsfirmen des Uhren- und Juwelenfaches, Wien, Spiegelgasse 13. Anm. R. St.)6 Eduard Eimer hat nach eigenen Angaben aus dem Bestand der Firma Bader für sich "keine Prozente genommen" und die unverkaufte Ware an die Abwicklungsstelle abgeliefert. Unter welchen Bedingungen die "Arisierung" der Kohlenhandlung von Otto Auspitz verlaufen ist, läßt sich nur durch die Aussage von Johann Kohn andeuten, der vor seiner Flucht aus Krems auf dem Körnermarkt gewohnt hat: "Bitte, wie der Umbruch war, da war die Hölle los. Da haben sie den Auspitz auf dem Boden geschleift. Der hat keinem Menschen was gemacht. Das war der Pöbel. (…) Ich habe gesehen, wie sie die Leute auf die Straße gezerrt haben und habe immer gewartet, daß jeden Moment einer zu mir kommt." Als neuer Besitzer der Kohlenhandlung bot sich Theodor Angerer an, der einerseits illegaler SS-ler war, andererseits selbst eine Kohlenhandlung führte. Bis zum August 1939 dürften sich die Verhandlungen hingezogen haben, denn erst zu diesem Zeitpunkt gab Angerer die "Geschäfts-Übersiedlung" bekannt." Über die Umstände der Vertreibung und des Verkaufes der Firma Otto Auspitz wollte die Tochter, die in Uruguay lebt, keine Auskunft geben: "Ich schreibe nicht weiter, sonst kommt mir die Vergangenheit zu hoch."9 Schneller als im Fall Angerer konnte die Firma Josef Stebel (Gemischtwarenhandel) bereits am 30. März die Übernahme der "Shinx-Benzin-Pumpe" an der Ecke Adolf Hitlerstraße/ Dinstlstraße ihren Kunden "freundlichst" bekanntgeben und um regen Zuspruch bitten." Betrieben hatte diese Pumpe Arnold Kerpen, der in unmittelbarer Nähe sein Delikatessengeschäft besaß. In den Akten des Bürckel-Archives findet sich noch in der Beilage zu einem Schreiben des Reichskommissars an die Vermögensverkehrsstelle der Name eines Kremsers, der am 29.7.1938 ein "Arisierungsansuchen" gestellt hatte, wobei der zu "arisierende"Betrieb nicht angegeben ist. Bei diesem Mann handelt es sich um Franz Proidl, der in der Langenloiserstraße 69 gewohnt haben soll." Aus der unmittelbaren Umgebung von Krems findet sich in diesen Beständen noch ein Ansuchen von Silvester Mayerhofer,12 Langenlois, Wienerstr. 16, der sich um das Ledergeschäft von Leopold Fischer in Langenlois bewarb.13 Für die Färberei und chemische Wäscherei von Josef Smetana’" wird in der Liste der jüdischen Gewerbebetriebe von Krems ein Franz Hotschevar als "Ariseur" angegeben. Landeszunftmeister der Färber war Anfang 1938 der Ruderer und Radfahrer Richard Kühn. In der Verhandlung 1945 führt dessen Tochter die unterlassene "Arisierung" des "jüdischen Putzereibetriebes Smetana" als Beweis für die menschliche Haltung ihres Vaters an. "Das Geschäft Smetana war in der Landstraße. Der Papa hätte das Geschäft als Übernahmsstelle brauchen können, weil wir ziemlich außerhalb der Stadt waren und die Kunden nicht gerne so weit hinausgegangen sind."15

weg S 74:

Ansichtskarte Rudolf Wasservogels
an seine Tochter Marion im Jahr 1938

Rudolf Wasservogel schreibt im Mai 193816 auf einer Ansichtskarte, die Krems im Flaggenschmuck zeigt, an seine Tochter, die zu diesem Zeitpunkt in Palästina lebt: "Ein kleiner Ausschnitt von hier. Heute ist die Beflaggung ein Zehnfaches dessen wie dieses Bild. Am 15. d. M. erwarte ich einen Käufer aus Wien. Was er bietet ist nicht viel. Es kommt alles auf das Glück an."17 Das erhoffte Glück hatte Rudolf Wasservogel allerdings nicht. Im Juni 1938 wurde er verhaftet: "Da er im dringenden Verdacht der fahrlässigen Krida steht", wie die "Land-Zeitung" meldete.` Wie er im März 1938 und in der Haft behandelt wurde, darüber hat Rudolf Wasservogel – laut Angaben seiner Tochter – nie gesprochen: "Mein Vater wäre der letzte gewesen, der etwas erzählt hätte, wenn er was machen hätte müssen, das seine Ehre heruntergesetzt hätte oder gedemütigt hätte."19 Wo die Nationalsozialisten vor dem März 1938 überall ihre Informanten sitzen hatten und wieweit zurückliegend die Informationen waren, die nun herangezogen wurden, um gegen Personen vorzugehen, geht aus der Geschichte über ein Telefonat eines Korrespondenten der "Neuen Freien Presse" aus dem Geschäft Rudolf Wasservogels hervor, das dieser 1933 nach dem Bombenattentat der NSDAP auf christlich-deutsche Turner in Krems geführt hatte: "Am 20. Juni hat meine Mutter Geburtstag gehabt. Am Tag vorher oder in der Nacht ist ein Attentat von den Nazis gewesen. Das war das Jahr, wo ich in Wien studiert habe und da hatte ich einen Bekannten gehabt, einen Journalisten, er hieß Egon Pisk und war bei der ‚Neuen Freien Presse‘. Er wußte, ich bin aus Krems und so kam er zu meinem Vater ins Geschäft und hat gefragt, ob er das Telefon benützen darf. Vielleicht war bei der Post so ein Andrang. Der Papa hat gesagt, ja warum nicht. Das haben mir meine Eltern erzählt. Im Jahre 1938, fünf Jahre nachher hat man gewußt, daß aus dem Geschäft das Telefongespräch mit der `Neuen Freien Presse’geführt wurde und meinem Vater das auch vorgehalten".20

weg S 75:

Rudolf Wasservogel 1935 in Krems

ANMERKUNGEN

1 Johann Zinterhof, Möbelfabrikant, Reindorfgasse 15, 1150 Wien. Der Firmensitz von Johann Zinterhof ist mit Wien XII, Sonnergasse 6 angegeben
2 Vg 4a Vr 2650/45 gegen Felix Wolf. Zeugenvemehmung von Johann Zinterhof vom 13.9.1946
3 Ebd. Niederschrift aufgenommen mit Karl Frank am 12.6.1946
4 Land-Zeitung. 30.11.1938 5 Siehe Anm. 2. Niederschrift aufgenommen mit Eduard Eimer am 18.6.1946
6 Ebd.
7 Johann Kohn. Interview am 19.6.1985
8 Kremser Zeitung. 10.8.1939
9 EIfy Strauss. Brief an den Verfasser vom 28.10.1987
10 Land-Zeitung. 30.3.1938
11 AVA. Bürckel-Bestand. Arisierung 2160/00 Bd.II. K 73 0 144. Schreiben des Reichskommissars an die Vermögensverkehrsstelle z.Hd. Pg. Mauritz vom 29.9.1938
12 Ebd.
13 Ebd. Arisierungsansuchen vom 25.7.1938
14 Krems, Obere Landstraße 36
15 Vg lb Vr 953/45 gegen Richard Kühn. Gertrude Kreisl in der Hauptverhandlung
16 Privat. Miriam Karpfen. Tel Aviv (Israel). Da sich die Eltern Wasservogel auf der Karte für die Briefe vom 1. und 5. April bedanken, ist der 10. Mai 1938 als Tag, an dem die Karte geschrieben wurde, denkbar.(Das Datum des Poststempels ist nicht eindeutig zu erkennen)
17 Ebd.
18 Land-Zeitung. 29.6.1938
19 Miriam Karpfen. Interview am 15.6.1987
20 Ebd.

‚Arisierungen‘ in Krems

An den Beginn dieses Abschnittes möchte ich zwei Aussagen stellen, die wohl am treffendsten einen Teil der Problematik illustrieren, mit der der Historiker konfrontiert wird, wenn er versucht, die Umstände und Vorgänge im Sommer 1938 näher zu beleuchten. Johanna Schöpke, die Witwe von Karl Schöpke, der als Buchhalter bei Otto Adler beschäftigt war, schreibt: "Aber vielleicht hätte er Ihnen alles erzählt. Schade, daß Sie nicht früher kamen. Viel Glück bei Ihrer Arbeit. Leicht werden Sie es ja nicht haben.1 Als "Halbjude" mußte Schöpke unter mysteriösen Umständen Krems verlassen, floh nach England und kehrte erst als Pensionist nach Krems zurück, wo er 1972 starb. Ein Teil der Zeitzeugen ist bereits verstorben. Die Überlebenden wollen sich aus begreiflichen Gründen oft nicht mehr erinnern, wie zum Beispiel die Tochter von Otto Adler: "It took me a lifetime to get over it and now there is nothing and nobody who will make me relive the nightmare of 1938." Dennoch zu Interviews bereit erklärten sich Ilse Iraschek (geb. Neuberger), die Tochter der Modistin Marie Neuberger und Oskar Wolter, der Sohn des Besitzers einer kleinen Produktionsstätte für Likör und pharmazeutische Produkte. Die Täter des Jahres 1938, die "Arisierer", sind – falls noch am Leben — nur schwer zu bewegen, über ihre Aktivitäten zu berichten. Für Krems konnte zumindest ein Gespräch mit dem Tischlermeister Hermann Geppert geführt werden, das jedoch mehr über die Art der "Vergangenheitsbewältigung" als über die konkreten Vorgänge im Sommer 1938 aussagt. So bleiben als Ergänzung noch Interviews mit Mitarbeitern in den Betrieben, die "arisiert" wurden, oder deren Inhaber "arisierten". Es handelt sich dabei um Arbeiter der Tischlereien Adler und Geppert. Interviews konnten geführt werden mit: Johann Zeller, Eduard Figl, Eduard Kral. Daß in der Aufzählung der problematischen Quellenlage mit den Zeitzeugen begonnen wurde, ist kein Zufall – von den Archiven ist zumindest im Fall Krems nicht viel zu erwarten. Der Zugang zu dem historisch wertvollen Material ist entweder für immer verschüttet, wie im Fall der Rückstellungsakten, wo nur mehr die Bestände ab 1956 erhalten geblieben sind,2 oder er wird durch Bescheide versperrt, wie im Fall der Bestände der Vermögens-verkehrsstelle Reichsgau Niederdonau durch die Niederösterreichische Landesregierung. Bei den Rückstellungsakten wurden selbst die Indexbücher vernichtet, wodurch für die Zeit vor 1956 nicht einmal eine lückenlose Bestandsaufnahme der Fälle geleistet werden kann.3 Die Bestände der Vermögensverkehrsstelle werden heute noch von der Niederösterrei-chischen Landesregierung nicht freigegeben. Hieß es auf die erste telefonische Anfrage, daß überhaupt nichts vorhanden sei, wurde dem Verfasser auf eine schriftliche Anforde-rung mitgeteilt, "daß das Geheimhaltungsinteresse der Parteien (im weitesten Sinn) das Interesse an einer Veröffentlichung überwiegt. Da es sich außerdem nicht um eine Veröffentlichung im Interesse der Wahrheitsfindung handelt, liegen die Voraussetzungen für eine Entbindung von der Amtsverschwiegenheit nicht vor!‘ Diesem Schreiben waren mehrere Telefonate vorangegangen, wobei anfangs eine Einsicht in Aussicht gestellt wurde, wenn die Fälle anonymisiert werden würden. Letztlich wurde verlangt, eine Einverständniserklärung der betroffenen Parteien vorzulegen. Dem Verfasser wurde jedoch nicht mitgeteilt, von wem im konkreten Fall eine derartige Erklärung gefordert wird. Nach diesem abschlägigen Schreiben versuchte der Verfasser, doch noch eine Geneh-migung zu erhalten. Daß das Antwortschreiben der Landesregierung mit 12. März 1987 datiert ist, mag Zufall sein. Genau 49 Jahre nach dem Beginn der nationalsozialistischen Terrorherrschaft wird in einem Brief mitgeteilt, daß die Gewährung der Akteneinsicht "auch nur im Rahmen eines rechtsförmlichen Verfahrens möglich" (ist). "Eine Entbin-dung von der Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit für Zwecke wissenschaftlicher Tätigkeit ist nicht vorgesehen, weshalb Ihrem Begehren leider nicht entsprochen werden kann."5 Im Dezember 1989 wandte sich der Verfasser in persönlichen Briefen an eine Reihe von Persönlichkeiten, Dr. Kurt Waldheim, Dr. Franz Vranitzky, Dr. Erhard Busek, und an Landespolitiker, Nationalratsabgeordnete und Bundesräte mit der Bitte, die Aktenein-sicht für den Bestand der Vermögensverkehrsstelle bei den entsprechenden niederöster-reichischen Stellen für dieses Forschungsprojekt zu erwirken. Das Gedenkjahr war bereits vergessen, denn der Bitte um Unterstützung kam lediglich Wissenschaftsminister Dr. Erhard Busek nach. Das Schreiben habe er zum Anlaß genommen, die Niederösterreichi-sche Landesregierung zu ersuchen, zu prüfen, ob "hinsichtlich der Gewährung von Ak-teneinsicht für wissenschaftliche Forschungszwecke die Richtlinien des Österreichischen Staatsarchives (Einsicht für wissenschaftliche Arbeiten nach Ablauf von 30 Jahren nach Entstehen des Geschäftsfalles) zur Anwendung gebracht werden könne."6 Am 10. Jänner 1990 ersuchte die Niederösterreichische Landesregierung um Mitteilung, in welche Akten der Verfasser Einsicht nehme wolle. Nachdem diesem Wunsch entsprochen wurde, hieß es, daß eine Juristenkommission diesen Fall prüfen werde. Ob die Prüfung bereits abgeschlossen ist, hat die Niederösterreichische Landesregierung dem Verfasser bisher noch nicht mitgeteilt. Wenn in der Folge dennoch für einige Betriebe bis ins Detail genau der legalisierte Raub des Sommers 1938 exemplarisch dargelegt werden kann, so bilden die Akten von Volks-gerichtsprozessen nach 1945 gegen Nationalsozialisten eine unschätzbare Quelle.‘ Für den Abschnitt über die "Arisierungen" in Krems werden im nachfolgenden Abschnitt folgende Akten zitiert: Hermine Dragon‘, Johann Köhler9, Felix Wolf10, Alarich Zumpfe11. Ergänzende Detailinformationen, die vor allem authentische Informationen über das Interesse von Hermann Geppert liefern, konnten im Bürckel-Bestand/Personenregistra-tur des Allgemeinen Verwaltungsarchives gefunden werden.12

DAS VERZEICHNIS JÜDISCHER GESCHÄFTE

Eine nicht zu unterschätzende Informationsquelle stellt das "Verzeichnis der jüdischen Gewerbebetriebe im Verwaltungsbezirk Krems" dar. Gemäß dieser Liste gab es 1938 30 Gewerbebetriebe in der Stadt, wobei bei zwei Betrieben unter der Rubrik "Bemerkungen" der Zusatz zu finden ist: "Geschieden vom Gatten. Gewerbe aufrecht." Im konkreten Fall trifft dies auf Katharina Geiduschek zu, die ein Gast- und Schankgewerbe auf dem Täglichen Markt 4 unterhielt, und auf die Modistin Marie Neuberger in der Spänglergasse 2. Die Liste der jüdischen Gewerbebetriebe ist nicht datiert, der Hinweis auf die Scheidung von Marie Neuberger ermöglicht eine ungefähre Terminisierung der Auf-stellung. Da sich Marie Neuberger von ihrem Mann Fritz auf Druck der Kreisleitung Krems am 2.2.1939 scheiden ließ, um so das Geschäft behalten zu können, muß diese Liste nach diesem Zeitpunkt erstellt worden sein." Von den 28 Gewerbebetrieben findet sich bei 27 der Zusatz "zurückgelegt". Nur im Fall der "Paga" Schuhvertriebsges.m.b.H mit dem verantwortlichen Stellvertreter Siegfried Graubart wird eine "Arisierung" laut Genehmigung vom 29.9.1938 der Ver-mögensverkehrsstelle angeführt.14

ANMERKUNGEN

1 Johanna Schöpke. Brief an den Verfasser vom 30.7.1985
2 Bestand Landesgericht für Zivilrechtssachen im Landesarchiv Wien. Die Bestände vor 1955 sind bereits ausnahmslos skartiert, das Jahr 1955 ist ebensowenig vorhanden wie das Jahr 1957. Lückenlos ist der Bestand erst ab 1958, als allerdings bereits ein Großteil der Verfahren abgeschlossen war.
3 Erhalten sind die Bücher für die Jahrgänge 1947-54 (Buchstabe N-R) 1955 ff (I-R und S-Z) und die Bücher 1960 ff komplett.
4 Amt der Niederösterreichischen Landesregierung. Brief an den Verfasser vom 16.12.1986
5 Amt der Niederösterreichischen Landesregierung. Brief an den Verfasser vom 12.3.1987 6 Dr. 6 Erhard Busek. Brief an den Verfasser vom 11.12.1989
7 Die zuständige Stelle im Landesgericht für Strafsachen zeigte sich äußerst kooperativ und ermöglichte oft in kürzester Zeit die Einsichtnahme in die Vg-Akten.
8 Vg Ih Vr 1894/45 gegen Hermine Dragon
9 Vg 3e Vr 1889/45 gegen Hermann Geppert
10 Vg 13b Vr 2650/45 gegen Felix Wolf
11 Vg 3c Vr 1486/46 gegen Alarich Zumpfe
12 AVA. Bürckel-Bestand/Personenregistratur K 68 0 139
13 Privat. Ilse Iraschek. Brief an die Sammelstelle B vom 14.2.1963. Auf die versuchte "Arisierung" des Geschäftes von Marie Neuberger wird an anderer Stelle nocheinzugehen sein. Im Brief der Tochter von Marie Neuberger wird als Datum der 2.2.1939 angegeben.
14 "Paga" Schuhvertriebsges.m.b.H als Zweigniederlage des Hauptbetriebes in Wien (Sterngasse 13) hatte als Geschäftsadresse in Krems die Untere Landstraße 39.

Vom theoretischen zum praktischen Antisemitismus

Welche Maßnahmen ergriffen die politisch Verantwortlichen in Krems nach dem 12. März 1938 gegen die Juden? Wie wurden jene Verordnungen und Gesetze, die in nur wenigen Monaten auf die Juden niederprasselten,‘ im lokalen Rahmen umgesetzt? Die Materiallage für den lokalen Bereich ist mehr als dürftig. So kann hier vorerst nur auf einen Runderlaß an alle "Herren Bezirkshauptmänner in Niederdonau" vom 2.9.1938 hingewiesen werden, in dem diese angehalten werden, gemäß des Runderlasses des Reichsministeriums des Innemen vom 27. Juli 1938 die Umbenennung sämtlicher nach Juden und jüdischen Mischlingen 1. Grades benannten Straßen oder Straßenteilen in den österreichischen Gemeinden bis spätestens 20. September bekanntzugeben, wobei darauf hingewiesen wird, die Frist "unbedingt strengstens einzuhalten".2 Der Bezirkshauptmann von Krems, Leopold Gawanda, erstattete am 17. Oktober 1938 in dieser Angelegenheit einen Fehlbericht, was soviel heißen sollte, daß in Krems keinerlei Straßen oder Plätze nach Juden benannt waren. Ungeklärt bleibt die Frage, ob die Judengasse, ein kleines Gäßchen zwischen Täglichem Markt und Landstraße, zu diesem Zeitpunkt noch diesen Namen trug. Gedanken über diese Gasse machte sich einige Wochen davor auch der Redakteur, der unter dem Pseudonym "Till Eulenspiegel" in der "Kremser Zeitung" schrieb. "In Krems hat es übrigens kürzlich jemand befremdlich gefunden, daß wir noch eine ‚Judengasse‘

weg S 36:

Straßenkarte der "Gauhauptstadt" Krems

haben. Ob das wegen der historischen Unantastbarkeit der Stadt sei? Eine Erinnerung an das Ghetto? Kopf geschüttelt wird ja jetzt allerhand und bei jeder Gelegenheit."3 Daß es in diesem Fall zu keinerlei Änderung gekommen sein soll, ist einerseits unvorstellbar, wenn man bedenkt, daß der Oberbürgermeister der Stadt in der Frage der Bestattung die Ratsherren ausdrücklich darauf hingewiesen hatte darauf zu achten, daß Juden nur auf dem Judenfriedhof beerdigt werden.4 In einem Stadtplan der Stadt Krems, der bereits die neuen Straßenbezeichnungen, zum Beispiel für die Ringstraße (Adolf Hitler Straße), trägt, ist die Judengasse noch als solche ausgegeben. Ein weiterer Schritt öffentlicher Kremser Stellen, von dem Juden betroffen waren und der aktenmäßig belegt ist, betrifft die sogenannte Neuordnung des Berufsbeamtentums. Unter den Namen jener Personen, die entlassen wurden, findet sich auch jener des "Halbjuden Karl Waschak". Karl Waschak fand in der Firma Nuss und Vogl als Buchhalter eine Beschäftigung. Nach dem Krieg wollte er sich als Buchhalter und Steuersachbearbeiter selbständig machen. Am 3.2.1946 wurde Karl Waschak nach einem Kundenbesuch in Rohrendorf von einem sowjetischen Besatzungssoldaten belästigt und in der Folge durch einen Pistolenschuß getötet.5

"DER SAUJUDEN WEGEN"

Mit welchem politischen Klima die jüdische Bevölkerung von Krems in diesen Tagen und Monaten nach dem "Anschluß" konfrontiert war, sollen zwei Hinweise verdeutlichen. So trieb die Schuldzuweisung, die die Juden als Verantwortliche für alle nur denkbaren negativen Erscheinungen des öffentlichen Lebens sah, seltsame Blüten; so sollten die Juden, selbst höhere Erträge im Zuckerrübenanbau verhindert haben, da "die zum Großteil in jüdischen Händen befindliche Zuckerindustrie auf Grund ihrer antideutschen Einstellung` die Vermittlung von Saatgut der in der ganzen Welt bekannten ertragreichen deutschen Sorten, prinzipiell abgelehnt habe. Ein Anliegen ganz besonderer Art bewog die Kremserin Karola Lammfellner, an den Reichskommissar Bürckel zu schreiben. Karola Lammfell= fürchtete um die katholi-schen Feiertage. In ihrem Brief bittet sie, keine Veränderung bei den katholischen Feiertagen vorzunehmen. "Wir sind ein katholischer Gau und bei der anderen Regierung sind wir ohnehin um die Marienfeiertage gekommen, der Saujuden wegen, damit sie keine Feiertage bezahlen müssen.` Dieser Brief ist wohl ein Beispiel für die individuelle Umsetzung der offiziellen Propaganda. Die Bedeutung der Feiertage für die neuen Machthaber erläutert sie folgendermaßen: dem Allmächtigen müße gedankt werden, "daß wir das Deutschtum zusammengebracht haben" und dieser Dank könne besonders während der Feiertage abgestattet werden. Dies hätte zur Folge, daß er (Gott, Anm. R.St.) uns zum "baldigen Sieg" verhelfen werde. Den Juden wird in den Lokalzeitungen auch vorgeworfen, an ihrem eigenen Untergang noch zu verdienen, indem sie Hitlerbüsten und ähnlichen "nationalen Kitsch" in Umlauf gebracht hätten, der auch bei Kremser Geschäftsleuten großen Absatz gefunden habe. "In erstaunlich kurzer Zeit wurde durch eine geschäftstüchtige (meist wohl jüdische) Ramsch-industrie der Markt förmlich überschwemmt (…)." Als Mitte Dezember bei Preisüberprü-fungen in Krems überhöhte Preise festgestellt werden mußten, sieht sich der Verfasser des Berichtes veranlaßt, von "noch jüdischen Geschäftsmanieren" zu sprechen, mit denen versucht worden sei, "deutsche Menschen auszuplündern".‘ Diese Rassenhysterie gegen Juden und solche, die dafür gehalten wurden, schloß auch jene mit ein, die mit Juden in Kontakt gestanden waren. Die Verleumdungen und Denunziationen dürften ein auch für die Verantwortlichen derart unerträgliches Ausmaß angenommen haben, daß diese sich genötigt sahen, in einem vertraulichen Schreiben "an alle Landräte in Niederdonau und die Herren Oberbürgermeister von Krems, St. Pölten und Wiener Neustadt", keinen geringeren als Generalfeldmarschall Göring als "Bremser" zu zitieren. In diesem Schreiben hieß es, daß in "letzter Zeit beobachtet worden sei, daß deutsche Volksgenossen um deswillen denunziert wurden, weil sie früher einmal in jüdischen Geschäften gekauft, bei Juden gewohnt hätten (…)." 9 Göring bezeichnete "das Ausspio-nieren und Denunzieren solcher oft lang zurückliegender Vorgänge" als in jeder Richtung "unerfreulichen Mißstand".10 Um die Durchführung des Vierjahresplanes, die eine "gleichmäßige und störungslose Anspannung aller deutschen Menschen" erfordere, nicht zu gefährden, "wünschte" er, daß diesem Unwesen nach Kräften Einhalt geboten werde.

MIT INSERATEN GEGEN GERÜCHTE

Anhaltspunkte für dieses Klima, in dem das Ausspionieren und Denunzieren an der Tagesordnung stand, liefern jene Inserate, in denen eine Reihe von Kremsern den letzten Ausweg sahen, um zu Gerüchten über ihre Abstammung Stellung zu nehmen. In diesem Sinne sind diese Inserate daher sicherlich mehr als nur eine "für Krems pikante Note", wie dies Hruschka feststellt. 11 In den Ausgaben der "Land-Zeitung" vom 23. März, 6. und 13. April und B. Juni erscheinen insgesamt sieben meist mit der Überschrift "Warnung" versehene Inserate, in denen gewarnt wird, unwahre Gerüchte über die politische Einstellung oder rassische Zugehörigkeit des jeweils Unterzeichneten zu verbreiten. So dementiert eine Mizzi Auerladscheiter aus der Alauntalstraße, Nazis angezeigt zu haben.` Eine Frau Erna Hain spricht hingegen von Gerüchten, die ihr "Ansehen in politischer und moralischer Hinsicht" gefährden. Unter das Inserat von Frau Maria Schneider setzt die Zeitung selbst den Kommentar, daß die Verfasserin einen Taufschein vorgelegt habe, aus dem hervorgehe, daß der Großvater vor 100 Jahren als Sohn des Mühlenpächters J.Fr. Schneider geboren wurde. 11 Luise und Edith Weese14 drohen wie die Geschwister Homola aus Rohrendorf, jeden gerichtlich zu belangen, der behauptet, "daß wir jüdischer Abstammung" sind, während Herr Josef Stein "nur" ganz allgemein warnt, keine unwahren Gerüchte zu verbreiten.

KAMPFBLATT LAND-ZEITUNG

Bevor im einzelnen auf die Judenverfolgung in Krems eingegangen wird, ist es ange-bracht, die Lokalpresse nochmals genauer zu untersuchen, um über das bisher Zitierte hinaus jenen Rahmen zu skizzieren, in dem die Beleidigungen, Erniedrigungen und die Gewaltätigkeiten gegen Juden gesehen werden müssen. Eine genaue Analyse der Artikel der "Land-Zeitung" soll neben den aus heutiger Sicht meist anonymen Tätern der Straße jene, die hinter Schreibtischen saßen, Artikel schrieben, um antisemitische Propaganda in einer breiten Öffentlichkeit präsent zu halten, in Erinnerung rufen. "Und was des Volkes Leben ist, das wiederspiegelt (sic!) sich in der Presse", war in jener Ausgabe der "Land-Zeitung"15 zu lesen, als dieses Blatt eine "neue technische Ausgestaltung" bekommen hatte, die der Aufgabe, "verschiedenste Trümmer einer verflossenen Zeitepoche" wegzu-räumen, besser gerecht werden sollte. Dies bedeute jedoch keine grundsätzliche Ände-rung der Blattlinie. Ein gewisser F.B. stellt im "Geleit" fest: "Für uns gab es immer nur einen Feind: Die internationalen Mächte der Weltpolitik. Wir kennen sie: Judentum, Freimaurerei, Marxismus und politischer Katholizismus". Da, wie es in dieser Ausgabe weiter oben heißt, die nationalsozialistische Dynamik "Neues schafft", ist wohl darunter auch eine neue Qualität der Hetze gegen das Judentum zu verstehen. Wie bereits gezeigt werden konnte, war die "Land-Zeitung" traditionell ein geeignetes Forum für die Verbreitung antisemitischer Ideen. Selbst für die "Land-Zeitung" muß jedoch für die Zeit nach dem März 1938 von einer neuen Qualität der Hetze gesprochen werden. Auch in der "Land-Zeitung" wurde jener Übergang, der später in diesem Organ in einem Leitartikel entsprechend formuliert werden sollte ("Es ging nicht mehr um einen gefühlsmäßigen Antisemitismus, es ging um die Entscheidung: Wir oder die Juden"), mühelos geschafft. Allein die Häufung der Artikel, in denen sich die Zeitung in der einen oder anderen Form mit "dem Judentum" auseinandersetzt, zeigt, daß das Versprechen, "Unser Blatt wird ein Kampfblatt bleiben",16 voll und ganz eingelöst wurde. Mit dem 14. September 1938 wird eine eigene Spalte "Kampf dem Judentum" eingeführt. Die Haltung gegenüber der sogenannten "Judenfrage" läßt sich aber auch aus der Kommentierung von Meldungen ablesen, wenn zum Beispiel die veränderte Haltung Italiens gegenüber den Juden und deren Widerstand dagegen mit dem Hinweis bedacht werden: "Das ganze jüdische Volk wird in den nächsten Jahren sein eigenes Ghetto finden".17

AUFRUF ZUR PLÜNDERUNG

Neben dieser Spalte gibt es noch Artikel, die mit "Bilanz des Judentums"18 oder mit "Jude"" überschrieben sind. Die Vielfalt der Artikel, in denen gegen das Judentum Stimmung gemacht wird, reicht über eine Schilderung der Qualen, die ein Tier durch das rituelle Schächten erleiden muß, wobei Adolf Hitler mit dem "edlen, guten Herzen" als Retter der armen Kreatur erscheint, bis hin zu jeder Menge von Kurzmeldungen, denen zufolge jüdische Flüchtlinge "faul in der Sonne liegen",20 oder internationale Berichte wie: "Jüdischer Wucher hat Ungarns Grundbesitz ruiniert"21. Ist die Ankündigung einer internationalen Lösung der Judenfrage im Artikel im Oktober 1938 auf der ersten Seite noch allgemein gehalten,22 so verschärft sich der Ton Anfang November merklich, wenn in einem aus einer SS-Zeitung übernommenen Artikel angekündigt wird, daß die Juden so behandelt würden, "wie man Angehörige einer kriegsrührenden Macht zu behandeln pflegt".23 Der folgende Aufruf, sich am "Hamstergut" der Juden "schadlos zu halten", ist als Aufruf zur Plünderung anzusehen. Nach dem Pariser Attentat wird die Forderung laut, daß Europa von Parasiten gesäubert werden müsse,24 während eine Woche später mit der starken Hand des nationalsozialistischen Staates gedroht wird.25 Von "Konzentrationsla-gern" ist allerdings in dieser Phase nur im Zusammenhang mit anderen Ländern die Rede. "Dachau" als Begriff wird ohne weitere Erklärung in einem Schulungsabend der Deutschen-Arbeits-Front (DAF) von einem aus dem Altreich kommenden Vortragenden namens Nutzenberger verwendet 26 Einer der Höhepunkte der Hetze in der "Land-Zeitung" stellt eine Seite in der Ausgabe vom 30.11.1938 dar, deren linker und rechter Rand mit Bildern bekannter Juden verziert ist. Der bereits erwähnte Schreiber mit den Initialen F.B. kündigt auf dieser Seite an: "Mit Stumpf und Stil die Juden ausrotten, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Das ist die Parole der Zukunft, für die junge, die nationalsozialistische Generation!" Der Artikel darunter schließt mit der Aufforde-rung "der Jude aber soll verrecken." Die Kremser können aber auch Mitte Dezember auf der Titelseite lesen, daß für die Entwicklung, die "wir (die Nationalsozialisten Anm.R.St.) nicht gewollt haben, die wir jetzt aber unbarmherzig ihrem Ende entgegenführen 17 die Parteidemokraten aller Länder schuld seien. In derselben Ausgabe wird auch vom "Ausschalten" des jüdischen Geistes gesprochen. Im Dezember 1938 ist es wieder einmal so weit, daß die Eigeninitiative der Bevölkerung und ihr nationalsozialistischer Elan gebremst werden müssen, wenn es heißt: "Ziel der Judenpolitik ist die Auswanderung" und insbesondere, vor "Einzelaktionen" wird gewarnt.28

DIE JUDEN UND DIE "GROSSE REISE"

Ende des Jahres 1938 wird einer Meldung über Auswanderungsbewegungen von Juden der zynische Kommentar hintangestellt: "Sie ziehen schon wieder um … immer noch in der Hoffnung, daß man sich auf diese Weise die ganz große Reise ersparen könnte. Sie wird sich auf Dauer nicht vermeiden lassen". Daß mit dieser Reise nicht jene in einen eigenen Staat gemeint war, erfährt der Leser kurze Zeit später in einem Bericht über eine Rede des "Theoretikers" der NSDAP Alfred Rosenberg. Denn die Lösung, so Rosenberg, soll in der Schaffung nicht eines Staates, sondern eines jüdischen Reservates, gipfeln.29 In den folgenden Jahren werden die weltpolitischen Ereignisse als "weltanschauliches Ringen mit dem Judentum"30 ausgegeben. Dem stellvertretenden Gauleiter in Niederdonau, Karl Gerland, gelingt es sogar, eine Verbindung zwischen dem Verbot der NSDAP am 19. Juni 1933 und dem Kampf gegen das Judentum zu ziehen ("Dieselbe jüdische Weltverschwörung, die heute gegen das deutsche Volk (…), stand damals hinter der Rechtsuntat")." Noch im März 1944 ist eine Auflistung "Sie alle waren Judengegner" wichtig genug, um auf der ersten Seite der "Donauwacht" zu erscheinen. 32 Wie hatte es bereits im November 1938 im Artikel "Geistiger Gasschutz" geheißen: "Wir müssen immer über das jüdische Treiben aufklären, unserem Volk einhämmern, daß sein Geschick von seinem eigenen Wollen und Verhalten abhängig sein wird"33 Neben Artikeln, die sich angesichts aktueller Ereignisse mit der "Judenfrage" befassen, ist in den Kremser Zeitungen eine Tendenz zu bemerken, die durch den nationalsozialistischen Machtapparat gesetzten Maßnahmen historisch zu legitmieren.

"… UND GRIFFEN JUDEN GEWALTIGLICH"

Als ersten Artikel dieser Tendenz muß auf jenen aus der "Donau-Post" mit dem Titel "Von Gott und der Natur aus Feinde des christlichen Blutes…" verwiesen werden, durch den die Räumung des Judentempels in der Dinstlstraße zeitlich genau lokalisiert werden kann. Gemäß der Wochenzeitung sei der Tempel schon seit langem als "Schönheitsfehler" empfunden worden. "Nun ist er zwar noch nicht äußerlich entfernt, wohl aber erfolgte am vergangenen Samstag seine Räumung, da das Gebäude vorerst als Notlager für sudeten-deutsche Flüchtlinge eingerichtet wurde und später einer anderen nützlichen Verwendung zugeführt werden soll. Bei dieser Gelegenheit ist es nicht uninteressant, einen kurzen Blick in die Vergangenheit zu tun."34 Dieser Blick in die Vergangenheit, die lokale Judenverfolgung aus dem Jahre 1347, zeitigt durchaus praktische Ergebnisse, denn die Beschreibungen der Tätlichkeiten sind entweder als versteckte Darstellungen jüngstes Ereignisse oder als Aufruf zu neuen Tätlichkeiten zu verstehen. "…hub sich der Pobel (Pöbel) aus Stein und Krems und außerhalb der Städte aus den Dörfern und kamen mit Gewalt gen Krems und griffen die Juden gewaltiglich, und schlugen die Juden zu Tod und brachen ihre Häuser auf und trugen aus alles das, was sie funden." Nicht fehlen darf bei diesem Artikel natürlich der Hinweis auf die Passage in der Stadtgeschichte des Propstes Anton Kerschbaumer, der lapidar darauf hinweist, daß ein großes Kontingent für den Judenfriedhof die Strafanstalt liefere, wodurch der Beweis erbracht sei, "daß Judentum und Kriminalität eng miteinander verwandt sind."35 Eine Woche vor diesem heimatkundlichen Artikel war in der gleichen Zeitung ein Bericht anläßlich des 20. Jahrestages des Explosion in der Munitionsfabrik Wöllersdorf erschienen. Schuld an diesem Unglück war, wie könnte es anders sein, ein Jude, wie bereits in einem Untertitel angekündigt worden war: "Der Befehl eines Juden und seine Folgen."36 Ein weiteres Beispiel, in dem der Geschichte legitimatorische Funktion zugewiesen wird, stammt von Dr. Hans Plöckinger, dem Leiter des Kremser Heimatmuseums, dessen Gedankenketten komplexe soziale und wirtschaftliche Phänomene auf einfache Muster reduzieren. Denn die Mystik, mit ihrer Forderung nach vollkommener Hingabe zu Gott, habe die Menschen zu frommen Werken und Schenkungen veranlaßt, dadurch habe sich der Besitz der Kirchen und Klöster vermehrt. Diese "Gebefreudigkeit" führte zu eines Verarmung der Bürger, wodurch es den Juden erleichtert worden sei, in Krems Fuß zu fassen. "In Krems sah man merkwürdig geduldig zu, wie die Juden von den verarmten Bürgern ein Haus nach dem anderen, ja selbst Weingärten erwarben."37 Diesem Blickwin-kel gemäß wird die Befreiung von den Juden als Segen für die Bevölkerung gepriesen, so schreibt Plöcklinger in der ersten Fortsetzung dieser Serie, nachdem er die "energischen Gegenmaßnahmen" zum Beispiel eines Albrecht III. und eines Leopold III. referiert hatte: "Endlich atmeten die Kremser hochbeglückt auf. Die Befreiung von den Juden brachte Wohlstand zurück."38

JUDEN: MÜDE LEBENSWANDERER?

Nicht ganz in dieses Bild von den Juden als Plage für die Bevölkerung paßt des schwärmerische Erinnerungsbericht von Dr. Fr. Glassner-Atzenbrugg, den immer "des magische Zauber der Stadt"39 angezogen habe. Wenngleich er auch feststellt, daß "die Judenplage – Gott sei gepriesen – heute der Vergangenheit" angehört, enthält er sich in der Beschreibung des Judenfriedhofes von Krems aller zynischen Kommentare. "Die Kinder Israels wurden bis zum Jahre 1882 in diesem Friedhofe beigesetzt. Dann nahm ein neuer Ort des Friedens die müden Lebenswanderer in seine Arme11 Nicht direkt mit Krems verknüpft, aber durch den allgemeinen Titel "Juden in der Kleinstadt" erwähnenswert, ist der Bericht, der sich mit der Stadt Waidhofen an der Thaya befaßt. Der Tenor auch hier: "Die Stadt Waidhofen wurde aber von den Juden wirtschaftlich sehr schwer geschädigt."41

ANMERKUNGEN

1 Herbert Rosenkranz hat auf das rasante Tempo im Vergleich zur Entwicklung in Deutschland und die neue Qualität, die Gleichzeitigkeit von bürokratischen Maßnahmen und Straßenterrorhingewiesen. Siehe:Herbert Rosenkranz: Verfolgung und Selbstbehauptung. S.12
2 NÖLA Ia/224/1939. Schreiben des Ministeriums für innere und kult. Angelegenheiten an den Landeshauptmann von Niederdonau
3 Kremser Zeitung. 28.7.1938
4 Stadtarchiv Krems. 2. Sitzung der Beigeordneten und Ratsherren der Stadt Krems vom 22.7.1939
5 Friedrich Waschak. Brief an den Verfasser vom 1.9.1986
6 Land-Zeitung. 13.4.1938
7 AVA. Bürckel-Bestand/ Personereg. Brief von Karola Lammfellner vom 29.10.1938. K 510 112 1
8 Land-Zeitung. 17.8.1938
9 Land-Zeitung. 21.12.1938
10 NÖLA I/1 a/258/1939. Vertraul. Schreiben des Landeshauptmannes von Niederdonau vom 1.2.1939
11 Ebd.
12 Hannelore Hruschka: Die Juden in Krems. Bd.l. S.245
13 Land-Zeitung. 6.4.1938
14 Land-Zeitung. 23.3.1938
15 Land-Zeitung. 13.4.1938
16 Land-Zeitung. 14.9.1938
17 Ebd.
18 Ebd.
19 Land-Zeitung. 21.12.1938
20 Land-Zeitung. 14.12.1938
21 Land-Zeitung. 5.10.1938
22 Land-Zeitung. 1.3.1939
23 Land-Zeitung. 19.10.1938
24 Land-Zeitung. 9.11.1938
25 Land-Zeitung 10.11.1938
26 Land-Zeitung. 23.11.1938
27 Land-Zeitung. 30.11.1938
28 Land-Zeitung. 21.12.1938
29 Land-Zeitung. 4.1.1939
30 Land-Zeitung. 18.1.1939
31 Donauwacht. 24.1.1940
32 Donauwacht. 28.3.1943
33 Donauwacht. 22.3.1944
34 Land-Zeitung. 23.11.1938
35 Donau-Post. 25.9.1938
36 Ebd.
37 Donau-Post. 18.9.1938
38 Donauwacht. 8.11.1939
39 Donauwacht. 11.11.1939
40 Donauwacht. 6.9.1939
41 Ebd.
42 Donauwacht. 26.4.1939

Antisemitismus in Krems

Der Antisemitismus gehörte in Krems zum guten Ton, der in allen Gesellschaftskreisen und je nach Parteizugehörigkeit in unterschiedlicher Vehemenz gepflegt wurde. Die „Land-Zeitung“ der Familie Faber versorgte ihre Leser mit exklusiven Informationen über die „Judenfrage,“ und so war sie es auch, die über das Buch des nordamerikanischen Autoindustriellen Henry Ford „Der internationale Jude“ berichtete, als noch nicht einmal eine Übersetzung des Werkes vorlag, in dem festgestellt wird, daß der Krieg in allen Staaten eine „Steigerung der Judenmacht“ gebracht habe.‘ Unterstützt wurde diese Stimmung noch durch diverse völkische und nationale Vereine. So forderte Dr. Ursin auf einer Versammlung der Großdeutschen Volkspartei im März 1922 in Krems, den Kampf auf allen Gebieten zu führen. „Und wenn alle Juden einstens nach Palästina ausziehen, dann wollen wir die besten Musikkapellen aufnehmen und ihnen als letztes aufspielen lassen: Auf Nimmer-Wiedersehen!“2 Diese Forderung blieb nicht ungehört, wenngleich es noch des Weines bedurfte, um die Zunge zu lösen und die Fäuste sprechen zu lassen. Der Bericht in der „Land-Zeitung“ über eine Rauferei im Cafe Bilek in der Schwedengasse, im Dezember 1922, verdeutlicht diese Stimmung. Weil der Zugsführer des Inf. Reg. Nr. 6 Heinrich Hofmann, mit seiner Gesellschaft im Cafehaus keinen Platz mehr gefunden hatte, waren schnell die Juden als Schuldige gefunden; es sei eben kein Platz, weil die Juden hier immer Karten spielen würden. Zur Beruhigung des angeheiterten Hofmann forderten ihn einige Gäste auf, doch etwas auf der Mandoline zu spielen. Dies lehnte Hofmann jedoch ab, denn vor Juden spiele er nicht, und außerdem „müßten heute noch ein paar Juden hin sein.“‚ Im Zuge des Raufhandels soll der Fleischhauergehilfe Fritz Schlesinger die Mandoline auf dem Kopf von Hofmann zerschlagen haben. Obwohl während der Verhandlung im Mai 1925 die Entlastungszeugen, unter anderen David Baß und Arthur Neuner, aussagten, daß Schlesinger nur Zuschauer gewesen sei und einige Belastungszeugen sich erst nach eineinhalb Jahren als Zeugen meldeten, wurde Schlesinger zu drei Monaten schweren Kerkers verurteilt. weiterlesen

Sippenhaftung: Eine versuchte und eine verhinderte ‚Arisierung‘

In der Liste der jüdischen Gewerbebetriebe von Krems scheinen wie bereits erwähnt, drei Geschäfte auf, bei denen jeweils nur der Ehepartner als Jude/Jüdin galt. Ludwig Radel führte einen Gemischtwarenhandel in der Göglstraße 7 und arbeitete nebenbei als Vertragsbediensteter beim Kreisgericht Krems. Da seine Frau den national-sozialistischen Gesetzen nach Jüdin war, verlor Ludwig Radel seinen Posten bei Gericht.1 In der Liste der jüdischen Gewerbebetriebe wird der 1. September 1939 als jener Termin angegeben, an dem das Gemischtwarengeschäft Radel als gelöscht galt.23 Vor der Schließung des Geschäftes waren die Glasscheiben und Auslagenregale zertrümmert worden.‘ In einem Schreiben des Polizeiamtes Krems heißt es sogar: „Die Demolierung und Sperre erfolgte durch zwei Beamte der seinerzeitigen Polizei in Krems.“5 Gleichzeitig mit der Sperre des Geschäftes verloren Ludwig und Margit Radel ihre Wohnung in der Gögelstraße 2. Sieben Jahre hindurch mußte Ludwig Radel nun in einem kleinen feuchten Loch ohne Fenster (ein Fenster wurde erst nachträglich ausgebrochen) hausen, das vorher als Lager gedient hatte. Margit Radel konnte sich zu dieser Zeit in Krems nicht sicher fühlen, („selbst unsere Wohnung (…) wurde eines Tages nächtlicherweise durch das geschlossene Fenster mit leeren Bierflaschen beschossen“)6, floh nach Wien, wo sie bis Mai 1940 als „U-Boot“ lebte. Als Aufenthaltsorte in Wien, die sie mehrmals wechselte gibt sie an: Jakob Kovacs, Rotenkreuzgasse 5/11, 1020 Wien, Ida Maurer, Lustkandlgasse 35/20, 1090 Wien (zwischen November 1938 und April 1939.), Frau Weißkopf, Fasangasse 36/4/11, 1030 Wien (in der Zeit zwischen 16.11.1939 und 14.5.1940). Bereits aus den Daten der Niederschriften und Eingaben um Wiedergutmachung, die sich bis in die 60-er Jahre ziehen, wird deutlich, wie lange sich die zuständigen Behörden Zeit gelassen haben, um die Ansuchen der Opfer zu behandeln. Die österreichische Beamtenschaft wollte es nach 1945 genau wissen. Von den Opfern wurde verlangt, auf ein, zwei Seiten ihre Ängste, Qualen und Leiden aufzulisten, um sie nachher sachlich bewerten zu können.7 Margit Radel lebte in der Zeit in Wien von Almosen. Als weitere Aufenthaltsorte dienten ihr Keller beziehungsweise Kirchen. Nachdem die letzte Quartiergeberin, Frau Weißkopf, von der Gestapo geholt worden war, stand sie ohne Anlaufstelle da. Als einziger Ausweg blieb ihr der Weg zurück nach Krems, wo sie mit ihrem Mann bis zum Jahr 1945 überlebte. Auf Besuch war Frau Radel bereits vorher nach Krems gefahren. Bei einem derartigen Besuch im Mai 1939 wurde sie beim Aufgeben eines Briefes an ihre Schwester in Paris von einer Postbeamtin angezeigt und als Spionin verhaftet. Der Arbeitgeber von Ludwig Radel, die Firma Ludwig Zafouk, bestätigte, daß die Kreisleitung mehrmals interveniert habe, da ein Mann, der mit einer Jüdin verheiratet sei, als potentieller Saboteur in einem Rüstungsbetrieb nicht tragbar sei.8 Die Opferfürsorgeakten über Margit und Ludwig Radel enthalten jedoch auch einen Beleg der innerparteilichen Bürokratie der NSDAP, in dem ein Blockleiter zumindest vorsichtig die Gerüchte über die rassische Abstammung von Frau Margit Radel in Frage stellte. Der Anlaßfall des Schreibens an die Gestapo in St. Pölten war der Entzug des Radioapparates von Ludwig Radel durch die Staatspolizei Krems. „R. ist Arier, seine Ehefrau gilt als Jüdin. Ob sie Volljüdin ist, ist nicht erwiesen. Die Ahnen der Fr. stammen aus Ungarn und dorthin sind bisher diesbezügliche Anfragen unbeantwortet geblieben. Wenn auch die Ehefrau Volljüdin wäre, gilt doch der Haushalt nach Aussage des hiesigen Kreisleiters als arisch.“9 weiterlesen

Die ‚Arisierung‘ des Betriebes von Oskar Wolter

Der zweite größere Betrieb, der im Sommer 1938 seinen Besitzer wechselte, war der pharmazeutische Likörbetrieb von Oskar Wolter. Für den 64-jährigen Wolter war in diesen Tagen kein Platz mehr in Krems. Der Rechtsanwalt Dr. Alfred Stiasny, der in den Verkaufsverhandlungen Oskar Wolter jun. vertrat, der nach damaligen Gesetzen als „Halbjude“ zu bezeichnen war, erinnert sich an Äußerungen des Kreisleiters, aus denen „mit aller Deutlichkeit“ hervorging, „daß der Jude Wolter im Kreis Krems auf keinen Fall geduldet werden könnte.“ Da Oskar Wolters Einsatz für sein Haus und seinen Betrieb eine rasche Abwicklung der Eigentumsübertragung störte, intervenierte der Kreisleiter Hans Heinz Dum bei der Ver-mögensverkehrsstelle, damit Felix Wolf auch für diesen Betrieb eine Vollmacht bekom-me. Felix Wolf erinnert sich, daß er vom Standartenführer „Brondner“ (gemeint ist SA-Standartenführer Michael Brandtner, Anm. R. St.) „persönlich angegangen (wurde)“ und dieser ihm mitteilte, daß er da sei, um „die Sache Wolter in irgend einer Form zu regeln.“‚ Als Datum für den Beginn seiner Tätigkeit in der Sache Wolter gibt Wolf den 26. Oktober an. Ob dies tatsächlich zutrifft, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, da Oskar Wolter sen. und jun. angeben, daß Wolf im Juni 1938 als öffentlicher Verwalter eingesetzt worden sei. („Er kümmerte sich nicht viel und ließ meinen Vater im Betrieb weiterarbeiten.“)2 Die Schwierigkeiten, die Wolf im Juni 1938 Oskar Wolter machte, bezeichnete sein Sohn als „querulatorischer Art“. So soll Wolf kurz nach seinem Eintreffen Wolter beim Kreisleiter denunziert haben, daß er an ihm einen Bestechungsversuch unternommen hätte. Schecks für laufende Geschäftsausgaben hatte Wolf unterschrieben, um sie sofort danach bei der Postsparkasse sperren zu lassen‘ Mit dem 26. Oktober ist demnach nicht der Beginn der Tätigkeit, sondern möglicherwei-se das abermalige Eintreffen von Wolf in Krems nach einem Besuch in Wien gemeint. Um Wolter zum Verkauf zu zwingen und ihn einzuschüchtern, belagerte Anfang Oktober eine johlende und schreiende Menge unter der Führung von Leo Pilz das Haus von Oskar Wolter, wobei mit Steinen die Fenster eingeschlagen wurden. Die erste Anforderung von Polizeischutz durch Oskar Wolter sen. wurde abgelehnt, und erst nach einem Anruf des Sohnes kam die Gendarmerie – die Wolter in „Schutzhaft“ nahm. Als Folge der Aufregung mußte Wolter mit einem Blutdruck von 240 ins Kranken-haus eingeliefert werden, wo er 14 Tage behalten wurde. „Dort hat mich Primarius Dr. Kummer behandelt. Eines Morgens erschien Dr. Kummer bei mir und erklärte, daß er mich nicht länger behalten könne. Er werde fortwährend vom Kreisleiter gedrängt, mich wieder ins Polizeigefängnis zurückstellen zu lassen.“4 Aus dem Gefängnis wurde Wolter zum Kreisleiter Hans Heinz Dum gebracht, der eine Überschreibung des Hauses und des Geschäftes auf den Sohn ablehnte, und als Bedingung für die Freilassung den Verkauf an einen „Arier“ nannte. Da Wolter abermals ablehnte, wurde er weitere vier bis fünf Tage in Haft gehalten, um dann Dum abermals vorgeführt zu werden. Bei diesem Gespräch nannte Dum bereits Alarich Zumpfe als Käufer und stellte eine Schätzung des Betriebes in Aussicht. Bei dieser Verhandlung am 26. oder 27. Oktober soll der Kreisleiter Dum Wolter versprochen haben, daß er sich einsetzen werde, daß der Kaufpreis den Kindern aus dem Sperrkonto ausgefolgt werde. Nach der Zustimmung zum Verkauf wurde Wolter freigelassen und mit einem Gendar-men zum Bahnhof gebracht, der ihn in den nächsten Zug nach Wien setzte. Da die Vereinbarungen vom 26. Oktober – wie sich bei einer Besprechung in St. Pölten am 11. oder 12. November mit Dr. Hick, dem Vertreter von Alarich Zumpfe, Dr. Stiasny und Wolter herausstellte – nicht eingehalten wurden, weigerte sich Wolter zu unterschreiben. Zwei Tage später wurde Wolter von Leo Pilz und Walter Steiner in Wien abgeholt und ins Kreisgericht Krems eingeliefert.‘ Der Aufforderung Wolters, einen Haftbefehl vorzu-weisen, wurde von Pilz und Steiner nicht nachgekommen.‘ Als sich Oskar Wolter weiter weigerte, einen Kaufvertrag zu unterschreiben, teilte ihm Wolf mit, daß er in Haft bleiben würde, bis er weich werde – womit Wolf nur die Worte des Kreisleiters wiedergegeben haben will.‘ Verkompliziert‘ wird der Fall noch durch einen Zivilprozeß zwischen Zumpfe und Wolter, in dem Zumpfe Wolter auf „Zuhaltung des szt. während der Haft abgeschlossenen Vertrages, bzw. Gedenkprotokolles (möglicherweise die Abmachung vom 26. Oktober)“ klagte. Die Darstellung, die Alarich Zumpfe über diesen ungleichen Rechtsstreit gibt, bringt neue Aspekte für eine Bewertung der Situation und liefert ein Musterbeispiel einer verharmlosenden Sicht der Ereignisse. weiterlesen