‚Unsere schönsten Jahre hat man uns gestohlen‘ Walter Stulz, bekannt bis Kalkutta, geflüchtet nach Schanghai

Die Firma Stulz in Imbach war bis zum Jahr 1938 der einzige Betrieb, der Holzabsätze für Schuhe produzierte, beliefert wurden Firmen wie Bally und Humanic, Geschäftsverbindungen bestanden bis nach Kalkutta. In der ehemaligen Mühle, die Adolf Stulz gehörte, der nach dem Ersten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei gekommen war, "ein Bruder der Familie war Rabbiner in Wolin", arbeiteten rund 150 Arbeiter. Nach dem "Anschluß" 1938 wird auch die Stulz AG "arisiert", doch Adolf Stulz glaubt nicht an die Möglichkeit, den Betrieb zu verlieren. Das Geld, das die Firma in England investiert hatte, wird kurz vor dem 12. März 1938 nach Österreich transferiert. "Das Geld draußen lassen, das mache ich nicht, wer soll mir denn etwas tun, ich habe doch nichts gemacht"z, soll Adolf Stulz gemeint haben. Die Nationalsozialisten, die die Buchhaltung prüfen, sind begeistert: "`Herr Stulz, solche Geschäftsleute wie Sie würden wir mehrere brauchen.‘ Bei meinem Schwiegervater war alles so perfekt, da hat nichts unrecht sein dürfen." Der Dank dafür hieß für Adolf Stulz 1941 Deportation ohne Wiederkehr, denn für eine Flucht war kein Geld mehr vorhanden, nachdem 135.000.- Reichsmark Reichsfluchtsteuer bezahlt werden mußten. "Arisiert" wurde die Firma, nachdem es beim kommissarischen Leiter namens "Reisinger, oder so" drunter und drübergegangen sein soll. Walter Stulz, der als Betriebsleiter in der Firma tätig war, wird am 2. Juli verhaftet. Der Personenkraftwagen, ein Citroen 50 PS, Baujahr 1929, wird von der Bezirkshauptmannschaft (Dr. Franz) beschlagnahmt und in die Garage Brunner nach Krems gebracht. Ob es Zufall ist, daß diese Beschlagnahmung im Landbezirk Krems die einzige ist, die von der Bezirksauptmannschaft vorgenommen wurde, sei dahingestellt, bei den übrigen Fällen traten als Akteure die SA, SS, Gendarmeriepostenkommanden oder die Gestapo Wien/Berlin auf. Den Ausschlag dafür gab das Postfräulein von Rehberg, das Briefe geöffnet hatte, um sie den entsprechenden Stellen weiterzuleiten. "Mein Mann hat mir halt Vorschläge gemacht, was wir machen könnten." Aus der Wohnung in St.Pölten holen vier SS-ler in einem Jeep auch seine Frau. "Ich mußte zu einer Einvernahme ins Kreisgericht. Wie ich dort hinkomme, steht mein Mann im Gang, so wie er halt zu Hause war, in kurzer Hose. Ich sage: `Um Gottes willen‘. Er hat mich überhaupt nicht reden lassen. Ich bin eineinhalb Stunden verhört worden. Der Grund: Rassenschande. Als ich nach Hause kam, wußte ich nicht, was ich tun soll, auf dem Herd ist noch der Kalbsbraten gestanden, ich wußte nicht, ob ich den Gashahn aufdrehen soll."3 Die mitfühlenden Seelen fanden sich ungefragt ein und meinten: "Recht geschieht ihr, hätt‘ sie keinen Juden geheiratet." Einige Wochen vergehen, ohne daß Frieda Stulz Nachricht von ihrem Mann bekommt. Auf einer Postkarte, die seine Handschrift trägt, teilt er ihr schließlich mit, daß sie die Wohnung auflösen und nach Wien gehen solle. Walter Stulz wird nach dem Novemberpogrom 1938 aus Buchenwald unter der Bedingung freigelassen, die Ostmark innerhalb kürzester Zeit zu verlassen. Kurz vor der Ausreise sieht er seine Frau zum letzten Mal. "Wir haben uns nur mehr verschlüsselt telephonisch gesprochen. Gesehen haben wir uns nur einmal, da ist er von Hietzing mit dem 58er hereingefahren und ich bin auf der Mariahilfer Straße gestanden. Das war das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe."

FLUCHT RICHTUNG CHINA

Am 22.12.1938 reist Walter Stulz Richtung China aus. In seinem zweiten Leben in Schanghai ist er am Beginn Heißwasserverkäufer, zündet bei reichen Leuten Öfen an und bekommt schließlich Arbeit in einer Schiffswerft. Da die Deutschen und die Italiener in Schanghai Positionen innehaben, muß Walter Stulz auf dem Schiff Conte Verdi, auf dem er arbeitet, die Hakenkreuzfahne grüßen. "Als die Deutschen gekommen sind, hat mein Mann gedacht, das ist das Ende seiner Stellung. Doch der Kapitän hat ihn rufen lassen und hat ihm gesagt: `Ich weiß alles über Sie, aber wir leben hier nicht in Deutschland, wir leben in China, Weiße unter Weißen. Nur eines muß ich ihnen sagen, wenn sie auf das Schiff kommen, dann müssen Sie den Faschistengruß machen und die Flagge grüßen.‘ Wenn ich

weg S 87:

Walter Stulz in China
Schnappschuß für das Fotoalbum

muß, dann muß ich halt." Täglich schreibt Walter Stulz eine Karte nach Wien, doch nur eine erreicht 1941 die Adressatin via Sibirien. Den ersten Kontakt nach dem Krieg kann Frieda Stulz via Diplomatenpost nach Shanghai herstellen. Im Jahr 1947 trifft Walter Stulz wieder in Wien ein. "Die schönsten Jahre hat man uns gestohlen. Es war eine fürchterliche Zeit. Das kann einem niemand ersetzen." Nach 1945 wurde dieses Leid sehr wohl bürokratisch bemessen: "Mein Mann wurde vorgeladen für die Ausstellung des Opferausweises und da hat es Abstufungen gegeben. Der Beamte dort hat gemeint: ‚Naja Herr Stulz, die Dauer von 120 Tagen, die Sie in Buchenwald waren, das ist zu wenig.’"

ANMERKUNGEN

1 Frieda Stulz. Interview
2 Ebd.
3 Ebd.
4 NÖLA BH Krems 1938/Präs/122. Bericht an das Präsidium der Landeshauptmannschaft Niederdonau vom 1.8.1938
5 Ebd. Gendarmeriepostenkommando Rehberg. Verzeichnis über beschlagnahmte Vermögensgegenstände bei Juden und staatsfeindlichen Personen
6 Frieda Stulz. Interview