Der verlorene Lebenstraum
Der verlorene Lebenstraum
Wir hatten unser Leben fest im Griff, und alles ging seinen geordneten Lauf. Doch am Horizont zogen Gewitterwolken auf, die nicht nur mich persönlich bedrohten, sondern die ganze Welt. Der Nationalsozialismus hatte sein zweigesichtiges monströses Haupt erhoben und spie giftiges Feuer über Europa. Es brachte auch meine kleine Seifenblase zum platzen.
Es war ein strahlend sonniger Tag im Februar 1939. Die Luft war frisch und belebend und die Sonnenstrahlen so lieblich und umschmeichelnd, dass es einem das Herz brechen konnte. Ich stand wie angewurzelt, blickte auf den Hang des bewaldeten Hügels, zu dessen Füßen unser Haus inmitten der Weingärten stand.
Ich war damals 32 Jahre alt. Es schien mir, als wäre ich eben erst aus einem bösen Traum erwacht. Mein Herz war schwer, all der betäubenden Pracht um mich zum Trotz. Mein Mann wartete. Er hatte das Haustor und das Gartentor abgeschlossen und das Gepäck auf einen kleinen Wagen geladen, der an das Fahrrad montiert war.
„Beeil dich, Mami, wir kommen zu spät!“ drängte mein vierjähriger Sohn Kurt lebhaft. Mechanisch legte ich den elfmonatigen Manfred in seinen Kinderwagen. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich in diesem Augenblick dabei war, alles hinter mir zu lassen, was mir über zehn Jahre so lieb geworden war: Meine Ehe und all die glücklichen Jahre, meine kleine eigene Welt, das Haus, das wir unter vielen Opfern und mit harter Arbeit errichtet hatten. Diese Erkenntnis traf mich mit aller Wucht. Ich musste den letzten Rest von Willenskraft mobilisieren, um die vordergründige Gleichgültigkeit, mit der ich diesen Augenblick vorbereitet hatte, aufrecht erhalten zu können.
Nacht für Nacht hatte ich gegen das Flehen meines Mannes anzukämpfen gehabt, dessen unkontrollierte Tränen der Verzweiflung mich beinahe umgestimmt hätten. All diese Nächte in den letzten Monaten war Franz neben mir gelegen und hatte geweint und auf mich eingeredet: „Du musst dableiben, du darfst nicht weggehen, es ist Blödsinn, was die Zeitungen schreiben, das ist alles übertrieben. Du weißt doch, die Zeitungen lügen immer, es wird sich schon alles beruhigen.“ Ich ließ ihn reden und flehen und antwortete ihm nur: „Ich gehe nach England“.
Ich vermute, er hat es bis zur letzten Minute nicht geglaubt, dass ich wirklich wegfahre. Aber ich hatte nur einen Gedanken: die Kinder müssen raus. Ich wusste nichts über England und kannte nur einen Namen: Lord Locker-Lampson.
Wie ich ihm geschrieben habe, weiß ich heute nicht mehr, vermutlich erreichte ihn mein Brief auf dem Umweg über die Quäker, die Details sind mir nur mehr verschwommen in Erinnerung. Ich hatte jedenfalls nur eines im Sinn: mit den Kindern hinaus – und sonst kümmerte ich mich um nichts anderes mehr. Nur der Gedanke an meine Kinder und die Vorstellung, was ihre Zukunft sein würde, gaben mir die Kraft, durchzuhalten.
Jetzt war es endlich so weit! Ich war dabei, meinen Mann, mein Haus, mein Familienleben, mit all dem gemeinsamen Lachen und Weinen, meine Freunde hinter mir zu lassen… wofür?
Ich hoffte auf Freiheit in einem gesunden Land und auf physische Sicherheit für meine Kinder. Die Kinder! Sie waren das Motiv, das mich antrieb und stärker war als alle anderen Gefühle und Gedanken. Sie mussten heraus aus diesem Pfuhl der Entwürdigung und der Angst, sie mussten gerettet werden vor den Angriffen auf ihre unschuldigen Herzen, mussten davor geschützt werden, zu Werkzeugen gegen ihre eigenen Eltern und Freunde geformt zu werden, mussten vor der Idee des „Heldentums“ bewahrt werden, die darin bestand, darauf stolz zu sein, dem „Führer“ zu dienen, auch wenn das die Verfolgung Unschuldiger zur Folge haben und Verheerung unter Freunden und Verwandten anrichten sollte…
Es war sonnenklar, es gab keinen anderen Weg… auch wenn ich zuvor Österreich noch nie verlassen hatte und weder die Sprache kannte noch sonst etwas von dem Land wusste, in das ich strebte… Wäre ich unter normalen Umständen mit meiner Familie ausgewandert, hätte ich mich sicherlich bemüht, etwas über das Land zu erfahren, seine Sprache zu lernen. Aber ich hatte ja nicht die Absicht gehabt, mein geliebtes Österreich zu verlassen, sondern war von Parasiten, von dieser Pestepidemie, die uns vernichtet hätte, vertrieben worden.
Ich hatte ein Angebot, die Einladung Lord Locker-Lampsons, die er Jahre zuvor bei einer Plauderei im Kurpark von Baden ausgesprochen hatte. An diese Einladung klammerte ich mich tapfer, wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm. In diesen unruhigen Zeiten, in denen man von einem Tag zum nächsten nicht wusste, was auf einen zukommen würde, war es für mich undenkbar, erst einen Kontakt herzustellen und auf eine Antwort zu warten. Darum wollte ich mich dann kümmern, wenn alles andere mehr oder weniger fixiert war. Wenn ich nur rechtzeitig hinauskäme! Ich rechnete ständig mit einem Überraschungsbesuch der Nazi-Schergen.
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und antwortete dem Kind: „Ja, Schätzchen, ich bin soweit“, und schon ging es los. Vor Aufregung über die lange Zugfahrt, die uns erwartete, sprang Kurt unruhig vor uns herum, während das Baby in seinem Wagen eingeschlafen war. Wir mussten etwa einen halben Kilometer zum Bahnhof zu Fuß gehen. Wir nahmen den Feldweg, um jedes unnötige Zusammentreffen zu vermeiden. Mein Mann war schrecklich aufgeregt, und nach einer Weile blieb er stehen. Er wandte sich zu mir und meinte: „Willst du keinen letzten Blick zurückwerfen?“ Aber ich traute weder mir noch meinem Mann, der den leisesten Anschein einer Schwäche meinerseits genutzt hätte, um mich davon zu überzeugen, dass das Land nur in vorübergehenden Schwierigkeiten steckte und sich schon bald alles normalisieren würde. Ich entgegnete ihm: „Wozu die Agonie verlängern? Es ist doch nur für ein paar Monate!“ Es sollte überzeugend klingen, aber mir selbst war nie zuvor so klar gewesen, dass dies das Ende einer weiteren Episode meines Lebens war.
Wir sprachen kein Wort mehr, und für einen Augenblick musste ich zurückdenken, an einen anderen Wendepunkt meines Lebens. Ich war damals, 1914, gerade sieben Jahre alt gewesen und kam am Beginn des Ersten Weltkriegs in die Schule. Es war das Ende meiner unbeschwerten Kindheit. Danach waren nur mehr Traurigkeit, Unsicherheit, Angst, Hunger und Leiden für viele Jahre gefolgt…
Wir erreichten den Bahnhof, und ich hatte alle Hände voll damit zu tun, auf die Kinder und das Gepäck zu achten, während mein Mann die Fahrkarten nach Wien besorgte. Von dort sollte es mit dem Nachtzug nach Hamburg weitergehen.
Die Reise schien endlos. Ich hatte die Kinder gut versorgt, und sie schliefen fest. Wir hatten ein ganzes 2.-Klasse Abteil für uns allein. Mein Mann saß mir gegenüber und starrte in die Nacht. Ich konnte meine eigenen Gefühle nicht interpretieren, ich war emotional wie leergepumpt und stand gleichzeitig unter größter Anspannung. Ich würde mich nicht entspannen können, bis wir uns auf dem Meer befänden. Erst dort würde ich sicher sein, nichts würde mehr dazwischen kommen oder uns aufhalten können. Der Schritt, den ich gewagt hatte, würde unumkehrbar sein.
Ich sah hinüber zu meinem Mann. Sein Gesicht war so blass, so gezeichnet, so hoffnungslos. Es tat mir im Herzen weh. Mir war in diesen qualvollen Wochen nicht aufgefallen, wie verzweifelt er wirkte. Ich hatte bei jeder Gelegenheit alle Kraft benötigt, ihn davon zu überzeugen, dass er seine Kinder, wenn er sie liebte, gehen lassen musste. Wenn er recht damit hatte, dass der derzeitige Wahnsinn und die Brutalität nur Exzesse von Extremisten waren und Recht und Ordnung bald wieder hergestellt sein würden, nun, dann würden wir ohnehin bald zurück sein… Er sah so verletzlich aus, ich wusste, wie sehr er uns brauchte. Ich war sein Rückgrat, ich war die Stärkere von uns beiden, was würde mit ihm geschehen? Wie sollte er ohne mich mit sich selbst zurecht kommen? Ohne die Kinder? Er war von Natur aus ein Familienmensch. Er liebte sie, hingebungsvoll und völlig kritiklos, und er war so unglaublich stolz, ihr Vater zu sein, dass sie ihm schrecklich fehlen würden!
Heute, mehr als fünf Jahrzehnte später, kann ich ihm seine Schwäche nicht verzeihen. Er hat uns gehen lassen und ist hoffnungsvoll daheimgeblieben. Es stimmt, dass er kein Ausreisevisum bekommen hätte, da er im wehrpflichtigen Alter war. Wir wussten, dass der Krieg kommen würde, auch wenn keiner gedacht hätte, dass er so nah war. Aber hätte er, wie viele andere in seiner Situation, sich ein wenig bemüht und wäre in den Untergrund gegangen, dann hätte er als Flüchtling nach England kommen können. Zu dieser Zeit wäre das noch relativ einfach gewesen, noch dazu, da er nur auf sich selbst gestellt war, ohne Sorge um seine Kinder.
Ich traf im Laufe der Jahre viele Männer und Frauen, die das gewagt hatten, als sie dazu gezwungen gewesen waren, in einer Zeit, als die Flucht den Tod oder Schlimmeres bedeuten konnte und die Erfolgsaussichten fast null waren! Aber er hatte sich einfach nicht vorstellen können, alles aufzugeben, der Realität in die Augen zu sehen und einen klaren Bruch herbeizuführen. Er zog die österreichische Methode vor, machte einfach weiter und betrog sich selbst. Aber das ersparte ihm die Realität nicht, und er sollte seinen Teil des Leids noch ertragen müssen.
Ich schloss die Augen und tat, als schliefe ich, wenn mir auch nichts ferner lag. Mir war, als würde das monotone Geratter des Zuges ständig wiederholen: Was wird passieren? Was wird passieren?… Hatte ich voreilig und verantwortungslos gehandelt? War ich illoyal? Doch dann rief ich mir eine Szene nach der anderen in die Erinnerung zurück, die mich bewogen hatten, die Freiheit in der Ferne zu suchen…
Es war im März 1938, und ich erwartete mein zweites Kind im April. Am 13. März waren die Nazis in Österreich einmarschiert.
Am Anfang gab es nur jeden Morgen diese schrecklichen Geschichten von Verhaftungen, die die Gestapo nächtens durchführte, von den unglücklichen, niedergeprügelten Opfern, von zerschlagenen Wohnungseinrichtungen, von zurückgebliebener Verwüstung und Angst und Schrecken, wenn ein geliebtes Familienmitglied irgendwo herausgerissen worden war… Angst und unsagbares Misstrauen schienen über unser Städtchen gekommen zu sein.
Das alltägliche „Grüß Gott“ wurde plötzlich durch „Heil Hitler!“ ersetzt. Kurz nach der Invasion fuhr ich mit meinem damals dreijährigen Sohn mit dem Bus in die Stadt. Er beobachtete interessiert die ein- und aussteigenden Leute, die der Schaffner alle mit „Heil Hitler“ grüßte, und drehte sich plötzlich zu mir. Mit der hellen und durchdringenden Stimme, wie sie Kinder dieses Alters haben, fragte er mich: „Mami, warum sagst du nicht ,Heil Hitler‘?“
Alle Augen schienen sich auf einmal in der nun unerträglichen Stille des Autobusses auf mich zu richten. Ich werde die eisigkalte Angst, die mich plötzlich ergriff und augenblicklich von Kopf bis Fuss lähmte, niemals vergessen. Das Kind in meinem Leib wurde plötzlich so schwer, dass ich meinte, ich müsse es verlieren. Der Schaffner, der ganz in meiner Nähe stand, kämpfte sich durch den Bus, rief die nächste Station aus und brach damit den Bann. In einer übermenschlichen Anstrengung raffte ich mich auf, um auszusteigen.
Wir waren zwar nirgends, wo ich hin hätte wollen, aber ich musste hinaus aus diesem Bus, wenn ich nicht krank werden wollte. Meine Beine zitterten so sehr, dass sie mich kaum trugen. Ich musste an einer Laterne Halt suchen. Ich versuchte vergeblich, in den Gesichtern der anderen Fahrgäste zu forschen, die ausgestiegen waren. War ein Denunziant unter ihnen? Ich musste weiter! In die Stadt hinein war es zu weit, also ging ich zurück nach Hause. Hatte mich irgendeiner der Fahrgäste gekannt, würde mich die Gestapo in der Nacht abholen kommen, meinen Mann niederschlagen und uns die Kinder wegnehmen?
Ich hörte Schritte in meinem Rücken… jemand verfolgte mich, sie wollten wissen, wo ich wohnte! Das Kind in meinem Bauch schien einen heftigen Salto zu schlagen, das Herz schnürte mir die Kehle zu. Ich musste mich an einen Baum am Straßenrand lehnen… die Schritte hinter mir gehörten zu einem alten Mann, der nicht einmal aufblickte, als er an mir vorbeiging.
Ich presste die Hand auf mein wild schlagendes Herz und sandte ein Stoßgebet zum Himmel: „Gott, gib dass es gut wird!“ Dann nahm ich alle Kraft zusammen und ging heim.
Ich erzählte meinem Mann an diesem Abend nichts. Er hätte mich ohnehin nur gescholten: „Warum tust du nicht wie alle anderen, du forderst die Schwierigkeiten für uns ja geradezu heraus. Warte nur, schon bald wird sich alles beruhigt haben.“ In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, und am nächsten Tag traute ich mich nicht aus dem Haus. Am darauf folgenden Tag setzten die Wehen ein.
Ich hatte mir für Ende April im Zita-Heim, derselben privaten Gebärklinik in Baden, in der ich auch mein erstes Kind zur Welt gebracht hatte, ein Einzelzimmer reserviert. Wie anders waren meine Gefühle doch bei meiner ersten Schwangerschaft, fünf Jahre nach meiner Hochzeit gewesen. Ich war damals, nach der gelungenen Entbindung, die glücklichste Frau auf der Welt. Nun sollte ich mein zweites Kind zur Welt bringen und wünschte, es wäre nicht wahr. Ich war unglücklich, in dieses Sodom und Gomorrha ein neues Baby zu gebären.
Als ich die Klinik betrat, war ich völlig verunsichert. Nach einer kurzen Untersuchung im Warteraum wurde ich in ein Zimmer geführt, in dem eine Frau lag, die bereits entbunden hatte. Sie hatte ein kleines Mädchen bekommen, ihr drittes, wie sie traurig sagte. Der Schwester schien alles sehr peinlich zu sein und sie entschuldigte sich wortreich dafür, dass ich das Zimmer teilen würde müssen. Sie erklärte, ich sei früher gekommen als erwartet, die Klinik sei voll belegt und sie könne nichts dafür. Ich versuchte ihr zu versichern, dass ich keineswegs verärgert sei und mir ganz andere Dinge durch den Kopf gingen.
Ich wurde in einen Raum gebracht und auf die Entbindung vorbereitet. Die Krankenschwester teilte mir flüsternd mit, dass die Klinik nunmehr der Gestapo unterstünde, dass der Gynäkologe, der sie leitete, ein großer Nazi sei, und dass die Zimmer mit Ehefrauen von Gestapo-Leuten überbelegt seien. Dann flüsterte sie mir noch zu, dass am Vortag zwei frischentbundene Frauen, die „das Pech gehabt hätten“, Jüdinnen gewesen zu sein, an den Haaren aus ihren Betten gezerrt und von Braunhemden abgeholt worden seien. Auch die Babys seien noch am selben Abend abgeholt worden, und keiner wisse, was mit ihnen geschehen sei.
Der kalte Schweiß stand auf meiner Stirn. „Konnten Sie vom Primar erfahren, was mit den Babys und ihren Müttern geschehen ist?“ Ihr Gesicht bekam einen kalten Ausdruck und sie meinte verbittert. „Zum Glück habe ich das nicht getan! Jeder ist sich selbst am nächsten, man möchte doch in Frieden leben!“
In Frieden! Wie konnte sie nach dieser Erfahrung jemals wieder in Frieden leben? Die Geschichte ließ mich nie los. Als ich zurück in meinem Zimmer war, erzählte m meine Bettnachbarin, sie hätte gehofft einen Jungen s bekommen, und sei nun sehr unglücklich, dass es ein Märchen geworden sei, ihr Mann habe sich so sehr einen Jungen gewünscht… Zwischen den immer wiederkehrenden Wellen von Wehen. hörte ich die jammernde Frau, aber ich konnte an nichts anderes denken, als an diese Geschicht die ich gerade gehört hatte, und an das unvorstellbare Leben dieser Frauen. Würden sie je ihre Babys wiedersehen? Und was würde ihr weiteres Schicksal sein?
Lange vor dem Anschluss schon hatte man in den Zeitungen jede Menge von den schrecklichen Dingen lesen können, die in Deutschland geschahen. Dann hieß es immer „Man darf das alles nicht wörtlich nehmen. Die Zeitungen leben schließlich von der Übertreibung.“ Ich war immer schon der Meinung gewesen, auch wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was berichtet wurde, war das zu viel. Ab Deutschland war weit weg und man konnte sich nie wirklich ein eigenes Urteil erlauben.
Ich wurde von einer neuen Welle von Wehen in die Realität zurückgeholt. Sie kamen nun immer öfter und immer stärker. Ich keuchte und presste atemlos hervor „Ach, könnte ich doch verhindern, dass dieses Baby geboren wird. In was für eine Welt kommst du, du armes Kleines?“ Ich drehte mich zu der Frau und meinte: „Sie sollten froh sein, dass es kein Sohn ist, er hätte doch nur als mieser Gestapo-Mann geendet!“ Kaum hatte ich das gesagt, stockte mir der Atem. Ich erfaßte augenblicklich, das ich besser geschwiegen hätte. Aber es war zu spät. Die Frau antwortete nicht und sprach überhaupt nicht mehr.
Keine zehn Minuten später kam ich in den Kreissaal, und am 18. März um 6 Uhr morgens wurde ein kleiner Junge in meine Arme gelegt. Ich hielt in ganz fest, und heisse Tränen tropften auf sein zartes Gesichtlein. Die Schwester nahm ihn mir fort und rügte mich: „Ist das eine Art, ihn zu begrüßen?“
Als ich in mein Zimmer zurückkam, war ich emotional und körperlich völlig ausgebrannt. Ich schlief sofort ein. Ich träumte von marschierenden Nazis und „Heil Hitler!“ Geschrei, und von lautem und derbem Gelächter.
Aus tiefem Schlaf erwachend, fand ich mich in einem Raum voller Menschen wieder. Ihre Stimmen holten mich endgültig in den Wachzustand zurück. Ich musste mit dem Arm über meinem Gesicht eingeschlafen sein, um von dem Licht nicht geblendet zu werden. Das erwies sich jetzt als vorteilhaft, denn ich konnte mich weiter schlafend stellen und gleichzeitig verfolgen, was in dem Raum vor sich ging. Es standen vier Nazis in voller Montur am Bett meiner Nachbarin, einer davon musste ihr Mann sein. Der Gedanke daran, dass sie ihm jeden Augenblick erzählen könnte, was ich gesagt hatte, durchbohrte mein Herz wie ein blankes Messer. Im Augenblick aber war sie noch damit beschäftigt, sich bei ihm dafür zu entschuldigen, dass es nur ein Mädchen geworden war. Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn, der Arm schmerzte, aber ich traute mich nicht, ihn zu bewegen und preiszugeben, dass ich wach war.
Plötzlich sagte die Frau: „Das da drüben ist ein Junge“. Und um meinen Schrecken vollständig zu machen, drehten sich die Männer zu dem Bettchen, streckten die Arme in der gewohnten Weise aus und salutierten: „Heil Hitler, Junge! Heil Hitler, Junge! Heil Hitler!“
Ich war vollständig gelähmt vor Angst und Abscheu. Mein Schädel brummte bei dem Gedanken, mich zur Wehr zu setzen, ich hätte am liebsten geschrien: „Hände weg von meinem Kind, ihr dreckigen Mörder!“ Aber ich tat es nicht. Was für ein Feigling war ich doch!
Die ganze Begebenheit hatte nur wenige Augenblicke gedauert, und doch schien es mir, als wären es Stunden gewesen. Sie gingen fast sofort. Ich lag nass und zitternd wie ein erschlagener Fisch im Trockenen. Nach und nach erholte ich mich wieder. Ich glitt zum Fuß meines Bettes, wo das Babybett stand, und nahm meinen Sohn heraus. Ich spuckte auf mein Taschentuch und wischte ihm damit vorsichtig über sein kleines Gesichtchen und alle anderen freiliegenden Stellen. Ich tat das sorgfältig, als hinge davon sein Leben ab. Er wehrte sich nicht dagegen, und ich beobachtete ihn lange. Dann legte ich ihn zurück in sein Bettchen. Nach dieser sonderbaren Aktion fühlte ich mich besser. Ich lehnte mich zurück und blickte zur Zimmerdecke. Was für ein langes Warten lag da vor mir. Wie sollte ich das schaffen, ohne verrückt zu werden?
Es war mir klar, dass es unmöglich war, mit einem so kleinen Kind eine lange Reise, insbesondere über das Meer, zu unternehmen. Ich würde zumindest warten müssen, bis er ein Jahr alt war…
Plötzlich öffnete sich die Tür und der Primarius trat ein, wie immer in bester Laune. „Guten Morgen, meine Damen, ich hoffe es geht ihnen gut! Wir werden uns einmal ihren Bauch ansehen!“ Und dann, zu mir gewandt, fügte er laut lachend hinzu, während die Schwester das Bett abzog: „Jetzt haben wir den Juden Beine gemacht, oder?“
Wo war der charmante Mann geblieben, den ich gekannt hatte und den ich so mochte? Das war ein Monster! Dabei war er Arzt! Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, es dauerte keine Minute, und schon war er beim Bett meiner Nachbarin, tastete ihren Bauch ab. Ich holte tief Luft und dachte: „Oh Gott! Wenn ich hier bleiben muss, dann werde ich verrückt!“ Ich realisierte plötzlich, das meine Nachbarin ihrem Mann noch nichts von meinen Überlegungen erzählt haben mochte, aber noch weitere zehn Tage zu überstehen waren.
Als mein Mann mich besuchen kam, bat ich ihn, mich mit nach Hause zu nehmen. Ich flehte ihn an, doch er wies mich darauf hin, wie abgeschieden wir wohnten, und dass ich wohl wüsste, dass das Kind und ich der Pflege bedürften, und wie das zu Hause gehen sollte, möge ich ihm doch sagen. Damals war es nämlich üblich, dass Frauen acht Tage nach einer Entbindung am Rücken liegen mussten und erst am zehnten Tag aufstehen durften.
Am dritten Tag bekam ich Fieber und am vierten Tag wurde eine Brustentzündung festgestellt. Das ist ein sehr schmerzvoller Zustand, besonders wenn man stillt. Zwei weitere Betten wurden in unser Zimmer geschoben, und so musste ich mich schon bald an die Besuche der verhassten Braunhemden gewöhnen, letztlich half es mir sogar, mich stärker von dem abzulösen, was rund um mich vorging. Ich hatte einige Tage sehr hohes Fieber und große Schmerzen. Das Personal war natürlich nicht aufgestockt worden und kam kaum mit den Geburten zurande, geschweige, dass Zeit für die übrige Betreuung blieb.
Im Gegensatz zu meinen beunruhigenden Gefühlen war das Baby ein kleiner Engel, es schlief und schlief. Es war nicht besonders am Trinken interessiert, was für mich unangenehm war, weil ich die nicht geleerten Brüste mit den Händen ausdrücken musste.
Mein ständiges Nachfragen, ob ich schon nach Hause könne, wurde schließlich am achten Tag erhört, weil mein Bett gebraucht wurde. Ich fieberte immer noch, aber ich behauptete, das komme von der Sorge um meinen daheimgebliebenen Sohn und um meinen Mann, der von seiner Arbeit abgehalten werde und so weiter.
Ich sah zu meinem Mann hinüber und merkte, dass er in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Er lehnte da, der Abteilwand zugewendet und das Gesicht nach innen gerichtet, aber seine Glieder zuckten immer wieder und wiesen damit auf die Spannung, unter der er zu stehen schien.
Wenn mich irgendein Zweifel zu packen drohte, musste ich bloß an das Unglück des vergangenen Jahres zurückdenken, um mir sofort wieder sicher zu sein, dass ich dabei war, das Richtige zu tun. Ich seufzte tief…
Drei ereignislose Monate waren vergangen, seit ich aus dem Krankenhaus gekommen war. Ich verließ das Haus in der ganzen Zeit nicht und ließ meinen Mann die notwendigen Besorgungen machen, die er dann abends heimbrachte. Mehr oder weniger mechanisch erfüllte ich meine Hausfrauenpflichten und kümmerte mich um meinen Sohn, der aussergewöhnlich „pflegeleicht“ war, da er kaum jemals schrie und hauptsächlich schlief. Pflichtbewusst nuckelte er alle vier Stunden an meiner Brust, wenn auch mit wenig Begeisterung, und ich selbst lebte nur auf den Augenblick hin, da ich mit meinen beiden Söhnen nach England gehen könnte. Der einzige wirklich Fröhliche in der Familie war mein Älterer. Er spielte die meiste Zeit des Tages ungestört im Garten oder besuchte einen alten Mann, der gegenüber von unserem Haus wohnte und einige Tiere in seinem großen Garten hielt. Mein Sohn liebte diesen alten Mann und seine Tiere.
Eines Tages kündigte meine Schwester ihr Kommen an. Gespannt erwartete ich diesen Besuch von Auswärts. Rosi arbeitete damals als Kindermädchen bei der Unternehmerfamilie Oskar Quittner, deren Betrieb Babykleidung erzeugte, die weltweit geschätzt wurde. Rosi hatte sich um ein besonders empfindliches Baby namens Susi zu kümmern, das sie nicht einmal an ihrem freien Tag aus den Augen ließ. Sie verzichtete auf Ferien, bis das Kind gehen gelernt hatte, was nicht vor seinem zweiten Geburtstag der Fall war. Das Kind war durch eine Kaiserschnitt-Entbindung im siebenten Monat auf die Welt gekommen und seine Mutter hatte sechseinhalb Monate der Schwangerschaft im Bett verbringen müssen. Sie war in dieser Zeit künstlich ernährt worden, weil ihr Körper in der Folge einer schweren Blutvergiftung jede Nahrungsaufnahme verweigerte. Das erste Kind hatte sie verloren, und meine Schwester war noch während der zweiten Schwangerschaft engagiert worden. Ich wusste, dass sie das Kind bei ihrem Besuch mitbringen würde und freute mich für Kurt, der kein Kind zum Spielen hatte.
Als sie mein Baby sah, stieß sie einen Schrei aus: „Großer Gott! Was hast du dem Kind angetan? Es ist ja keinen Zentimeter gewachsen, seit du es aus der Klinik gebracht hast!“
Aufgeschreckt betrachtete ich mein Kind genau und bekam plötzlich Angst. Tatsächlich, es sah wirklich sehr mager aus. „Aber er weint nie,“ erklärte ich, „er ist so zufrieden.“
„Wahrscheinlich ist er zu schwach, um zu schreien!“ entgegnete meine Schwester und rannte aus dem Haus. Sie kehrte mit einem Babyfläschchen und einer Dose Babynahrung zurück. Sie öffnete die Dose und fütterte meinen Sohn, der über den ungewohnten Geschmack anscheinend so überrascht war, dass er die Augen weit aufriss. Kaum hatte sie ihm einige Tropfen Milch zwischen die Lippen geträufelt, begann er begierig zu nuckeln. Ich war verblüfft.
Rosi blickte mich vorwurfsvoll an und sagte: „Du siehst auch schrecklich aus. Du solltest dir deine sonderbaren Ideen aus dem Kopf schlagen und dich um deine Familie kümmern!
Aber genau das tat ich doch! Ich sagte: „Schau, ich rechne damit, von einem Tag auf den anderen weggebracht zu werden. Das Leben ist fast unerträglich. Wir leben in einem kleinen Ort, alles was man tut wird beobachtet und ist für die anderen Gesprächsstoff. Es waren Frauen hier, die wollten dass ich den Nazis beitrete. Ich habe ihnen gesagt, dass ich nicht interessiert bin. Junge Männer wollten mir Pappmachs-Hakenkreuze zur Dekoration des Hauses verkaufen, ich habe ihnen gesagt, dass wir kein Geld haben. Andere sind mit Hakenkreuzfahnen gekommen, mit Führer-Portraits und so weiter und so weiter, und alle haben meine Absagen schlecht aufgenommen und irgendwelche Drohungen gemurmelt über das, was mit illoyalen Subjekten geschehen wird. Meine Nerven sind am Zerreissen, und wenn ich nicht bald hinauskomme, dann wird es für uns zu spät sein. Mein Haus ist das einzige in der Umgebung, das keinen Nazischmuck trägt und nur, weil es hier so isoliert steht, sind wir damit bis jetzt durchgekommen. Aber mit wieviel Nachsicht kann ich rechnen?“
Rosi blickte nachdenklich und meinte: „Nun, in Wien scheint das Leben mehr oder weniger normal weiterzugehen. In der Stadt haben sich die Leute ja nie um einander gekümmert. Kaum einer kennt seinen Nachbarn. Ab und zu finden Suchaktionen nach bestimmten Personen statt, aber sonst merkt man kaum, was in anderen Teilen der Stadt vor sich geht.“
Ich schaute noch einmal auf meinen kleinen Sohn, dessen Gesicht glücklich strahlte, und wurde von Schuldgefühlen geschüttelt. Gottseidank, dass sie gekommen war!
Unvermittelt meinte Rosi: „Du brauchst etwas Erholung. Warum kommst du nicht mit uns und bleibst für ein paar Wochen? Ich kann mich genauso gut um drei Kinder kümmern, und wir haben ein schönes großes Gästezimmer. Ich bin sicher, dass meine Herrschaft gerne helfen wird. Sie sind den ganzen Tag nicht zu Hause und du wärest ihnen sicher nicht im Weg.“
Rosi war nicht die einzige, die damals glaubte, ihr könne nichts passieren. Wie bei so vielen stellte es sich auch bei ihr und ihrer Herrschaft als tragischer Trugschluss heraus. Keinen Monat später hörte ich von der Tragödie, die sich mit der Familie Quittner, den Arbeitgebern meiner Schwester abgespielt hatte.
Sie waren Juden und bei ihren Angestellten sehr beliebt. Die von der Fünia Quittners Erben hergestellte Babykleidung war ein erfolgreicher Exportartikel. Eines Tages, Rosi war mit dem Baby im Park, war das Dienstmädchen allein zu Hause. Plötzlich gab es Stimmen und Schritte im Treppenhaus, ebenso plötzlich wurde die Tür aufgebrochen und ein Haufen Nazis überflutete die Wohnung. Sie liefen in alle Richtungen, um nach Menschen zu suchen, befragten das Dienstmädchen. Die sagte ihnen, sie sei allein, die Herrschaft würde nicht vor der späten Nacht heimkehren und das Kindermädchen sei mit dem Kind auf Urlaub und würde frühestens in einem Monat zurückkommen. Die Männer plünderten dann die Wohnung, und was sie nicht mitnehmen konnten, das zerschlugen sie. Dann versperrten sie die Wohnung und schickten das Mädchen mit den Worten heim, die jüdischen Schweine würden ihrer Hilfe nun nicht mehr bedürfen. Sie erklärten ihr ausserdem, dass man sie in Ruhe lassen werde, weil sie eine ältere Frau sei, obwohl sie für Feinde gearbeitet habe.
Die arme Frau zitterte bei dem Gedanken, dass meine Schwester mit dem Kind zurückkommen könnte bevor die Männer weg waren. Kaum waren sie gegangen, rannte sie durch die Parks, auf der Suche nach Rosi. Und als sie sie gefunden hatte, nahm sie sie mitsamt dem Baby bei sich auf. Sie nahm an, dass die Gestapo im Betrieb ihrer Herrschaften gewesen war, da man sie nicht mehr nach deren Aufenthalt gefragt hatte. Gemeinsam mit meiner Schwester saßen sie nun verzweifelt herum und wussten nicht, was sie tun sollten.
Am nächsten Morgen beschlossen sie, das Baby zu Verwandten auf das Land zu bringen. Meine Schwester hatte kein Geld bei sich und nur das, was sie am Leib trug. Als das Dienstmädchen die Nazis bat, die Kleider aus dem Zimmer des Kindermädchens freizugeben, antworteten sie ihr, da das Kindermädchen im Urlaub sei, werde es wohl genug zum Anziehen mitgenommen haben und daher nichts brauchen. Die Frau fand aber schließlich das Fahrtgeld, und schweren Herzens übergab Rosi „ihr“ geliebtes Kind den Verwandten. Da sie das Kind seit seiner Geburt nie verlassen gehabt hatte, klammerte es sich an sie und schrie unaufhörlich, als sie sich von ihm trennte. Sie hörte seine herzzerreissenden Schreie noch auf der Straße, als sie das Haus längst verlassen hatte.
Rosi rannte vor Verzweiflung im Kreis, bis sie weder rennen noch weinen konnte. Sie hätte das Kind nicht mehr lieben können, wäre es ihr eigenes gewesen, und sie war gänzlich gebrochen. Sie hatte sich noch nicht gefragt, was nun aus ihr selbst werden sollte. Aber das Dienstmädchen, eine Witwe, hatte ein goldenes Herz, und sie behielt Rosi bei sich, bis sie eine neue Stelle gefunden hatte.
Natürlich verstärkte diese Episode meine Ängste noch beträchtlich, und ich war von früh bis spät in Panik. Ich war ein nervliches Wrack und fühlte mich völlig hilflos. Aber konnte ich mich darauf einstellen, wie mein Mann das ärgerlich verlangte, uns einfach über diese kritische Zeit hinwegzuschwindeln? Ich konnte nicht… Warum sollte ich ihm nach dem Mund reden? Bei aller Feigheit war ich Fatalistin. Ich glaubte, was geschehen muss, wird geschehen. Das Schicksal jedes Menschen steht in den Sternen, und man kann ihm nicht entkommen. Ich wusste, dass mein Tag kommen würde – und er kam.
Es war ein zauberhafter Herbstmorgen, und doch fühlte ich mich deprimiert und unwohl. Ich bat meinen Mann, Kurt zur Arbeit mitzunehmen. Ich hatte sonderbare Vorahnungen, aber ich behielt sie bei mir. Als mein Mann das Haus verlassen hatte, sah ich zu Freddy, dem Baby. Er war so reizend, er erwachte immer mit einem Lächeln im Gesicht und hatte das sonnigste Gemüt, das ich je bei einem Baby gesehen habe. Ich war jedesmal von Neuem erstaunt darüber. Die meiste Zeit, die ich ihn unter meinem Herzen getragen hatte, hatte ich weinend verbracht. Ich hatte mir sehr ein zweites Kind gewünscht, aber so wie sich die äusseren Umstände entwickelten, bereute ich es. Seit er – dank dem zeitgerechten Besuch meiner Schwester – mit der Flasche gefüttert wurde, begann er zuzunehmen und sich für seine Umgebung zu interessieren. Ich blickte ihn lange und bewundernd an. Er lächelte und gurgelte fröhlich in mein ernstes Gesicht. Es war sicherlich ein lebender Schlag ins Gesicht für alle Theorien der Kinderpsychiatrie. Ihnen zufolge hätte er ein mühsames und schwer zu behandelndes Baby sein müssen. Ich liebkoste ihn und steckte ihn dann in seine Gehschule.
Plötzlich hörte ich ein forsches Klopfen an der Tür. Ich erschauderte. Meine diffusen Ängste wurden Wirklichkeit. Ich öffnete die Tür und stand vor einem Polizisten. Ich kannte ihn gut, und mein fragender Blick schien ihm ausgesprochen unangenehm. Höflich sagte er: „Entschuldigen sie, gnädige Frau, aber können sie mich bitte zum Rathaus begleiten?“
Als ich meine stimme wiedergefunden hatte, antwortete ich: „Aber wozu denn? Es passt mir gar nicht, ich habe das Baby hier und bin allein im Haus.“
Immer noch sehr verlegen, aber bereits mit wesentlich festerer Stimme sagte er: „Es tut mir leid, aber Sie werden mitkommen müssen, ich darf nicht ohne sie zurückkommen.“ Und etwas leiser fügte er hinzu: „sie sollten Ihrem Mann eine Nachricht hinterlassen!“
Ich wusste, meine stunde war gekommen. In meiner Panik dachte ich völlig blödsinnig, wenn ich nichts mit mir nähme, würden sie mich wieder nach Hause gehen lassen müssen.
Ich brachte das Baby zum Nachbarn und bat ihn, meinen Mann davon zu benachrichtigen, dass ich weggeholt worden war. Dann nahm ich meinen Mantel und ging, ohne Handtasche, Hut oder Handschuhe. Der Polizist machte sich wohl sorgen um meinen Ruf und machte mir das Angebot, auf der anderen Straßenseite zu gehen, wenn es mir unangenehm sei, öffentlich abgeführt zu werden. Aber mir war alles gleichgültig. Unterwegs versuchte ich herauszubekommen, wer nach mir suchte und weswegen. Der Polizist meinte, er wisse nicht mehr, als dass mehrere Leute abgeholt worden seien.
Im Rathaus führte er mich einen Gang entlang, bis er vor einer Tür stehen blieb und mir sagte: „Gehen sie da hinein!“ Ich trat in einen großen Raum, der zur Hälfte mit Frauen und Männern unterschiedlichsten Alters gefüllt war. Manche Frauen heulten verzweifelt ihre Taschentücher voll, andere starrten totenblass mit weit geöffneten Augen vor sich hin, bemüht, ihre Angst zu verbergen, Männer bissen sich auf die Lippen, knacksten unüberhörbar mit ihren Fingergelenken, alte Frauen riefen händeringend Gott an, es war eine schwere, angst- und schmerzgetränkte Atmosphäre. Ständig wurden weitere Menschen hereingeführt. Ich stand unter dem Schock der grässlichsten Erwartungen.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und einer der Nazihelden brüllte. „Alles hinaus!“ Vor dem Rathaus standen einige planengedeckte Viehwagen, in die wir einsteigen mussten. Im Wagen stehend gab ich es auf, über mein weiteres Schicksal nachzudenken, ich wusste ja, wo es jetzt hinging. Ich redete mir zu: „Du darfst nicht aufgeben, du darfst nicht zusammenbrechen, was immer auch geschieht, du musst damit fertig werden!“ In dem Wagen war es stockfinster und wir hätten nicht einmal sagen können, in welche Richtung wir fuhren. Ich presste mich an die Plane, um ein wenig frische Luft zu bekommen, da mir von der schaukelnden Bewegung in der Finsternis übel geworden war.
Draussen war es inzwischen auch schon dunkel geworden. Ich hörte ein Flüstern ganz in meiner Nähe: „Gnä Frau, haben’s a Göd mit Ihna?“ Ich sagte nein, nicht einmal eine Handtasche. Jemand legte seine Hand auf mich und sagte: Nehmen Sie das, und bei erster Gelegenheit geben Sie Ihrem Mann Ihre Adresse.“
Es war offensichtlich einer der Nazis, die diesen schändlichen Transport begleiteten, aber auf meine Frage: „Wer sind Sie?“ bekam ich keine Antwort, er war schon fort. Ich habe nie herausfinden können, wer es gewesen ist. Er hatte mir eine Fünf-Mark-Münze in die Hand gedrückt.
Ich hätte nicht sagen können, wie lang wir unterwegs waren, als ein Meldereiter uns aufhielt. Der Wagen wurde geöffnet und das Kommando lautete: „Alle raus!“ Ich weiß nicht, wohin die anderen Wagen geraten waren, aber wir wurden in ein großes Haus gedrängt, aus dem uns ohnmächtige Schreie und zerstörendes Krachen entgegenscholl, bis plötzlich alles ruhig wurde. Wir wurden in einen weitläufigen Raum getrieben, offensichtlich einstmals ein prachtvoller Salon, der anderen Zwecken gedient hatte, als den nunmehrigen. Ich versuchte weitere Geräusche zu erlauschen, aber alles blieb still. Die schreie dröhnten aber in meinem Kopf weiter. Stunden vergingen…
Die Spannung war unerträglich, aber keiner gab einen Laut von sich. Dann hörte man Stechschritte sich der Tür nähern, die Tür ging auf und ein Mann in Naziuniform, umgeben von seinen Lakaien, stand in ihrem Rahmen und musterte den elenden Haufen.
Der Schock hätte mich beinahe umgebracht. Dieser Mann! Das war doch nicht möglich, ich hatte Visionen! Dieser Mann war ein Stammkunde meines Mannes. Wir standen auf freundschaftlichem Fuß mit ihm und hatten keine Ahnung gehabt. Er war ein Nazi, und ein Offizier noch dazu, er musste also schon lange Zeit ein Illegaler gewesen sein. Wir hatten ihn gemocht, er war ein charmanter Mann, der es nie verabsäumte, mir Komplimente zu machen. Ich schämte mich, dass wir mit so jemandem befreundet gewesen waren. Er war einer von denen! Er sah weniger charmant aus in dieser Uniform und es sah auch nicht danach aus, dass er mir Komplimente machen wollte. Ich fühlte mich schwach und kraftlos und drückte mich in den hintersten Winkel des Raumes.
Einer der Braunhemden stellte einen Sessel vor den Tisch und drückte ihm einige Blatt Papier in die Hand. Er setzte sich. Ich konnte meine Augen nicht von ihm wenden und wünschte es wäre mir möglich gewesen, im Erdboden zu versinken. Er überflog die Liste. Zahllose Namen wurden aufgerufen, die Menschen gingen nach vorne, Fragen und Antworten, und schon wurden sie hinausgebracht. Ich bekam überhaupt nicht mit, was da geschah. Ich war wie erstarrt.
Plötzlich blickte er auf, suchte mit Blicken im Raum, er konnte mich nicht sehen, schaute noch einmal, und dann rief er meinen Namen. Ich ging ganz langsam vor, und er sagte: „Also sind Sie es. Wie sind Sie hierher gekommen?“ Ich sagte: „Mit dem Viehwagen!“ „Aber warum?“ „Ich weiß es nicht, Ihre Henkersknechte haben es mir nicht gesagt!“ Er lief rot an und sagte: „Es handelt sich um ein Missverständnis, es tut mir leid, bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.“
Und dann drehte er sich zu seinem Adjutanten und wies ihn an: „Zeigen Sie der Dame, wie sie hier hinauskommt!“ Ich sagte: „Das hat gar keinen Sinn. Ich würde doch nur in der nächsten halben Stunde wieder verhaftet werden.“ Er lief noch einmal rot an und murmelte: „Natürlich, natürlich.“ Dann füllte er einen Passierschein aus, unterschrieb und stempelte ihn, und ich war frei.
Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, ob ich irgend etwas zu ihm gesagt habe, als ich wegging. Ich habe oft an diese schreckliche Nacht zurückgedacht und versucht, mich zu erinnern, aber von dem Augenblick, in dem er den Passierschein unterschrieb, bis zu dem Moment, in dem ich das Haus verließ, habe ich eine absolute Gedächtnislücke. Ich erinnere mich, dass ich zitterte, als hätte ich Fieber, und dass meine Zähne klapperten und ich eine ganze Weile benötigte, bis ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte. Es war erst in den frühen Morgenstunden. Nachdem ich schon ein Stück gegangen war, hörte ich es zwei Uhr schlagen. Das Haus stand in einem Winkel der Stadt, an einer Landstraße. Ich ging langsam vor mich hin, meine Beine schienen mir nicht zu gehören, und jedesmal, wenn sich ein Auto näherte, sprang ich in den Graben.
Ich kam zu Hause zwischen vier und fünf Uhr an, und mein Mann war bereits dem Wahnsinn nahe. Er hatte die Nachricht des Nachbarn erhalten, konnte aber nicht erfahren was genau geschehen war. Das hatte ihm Angst gemacht, aber er war unverbesserlich. Als er den Passierschein sah, sagte er: „Na, das wird uns helfen, bis die Zeiten sich wieder normalisiert haben.“
Es war ein wirklich traumatisches Erlebnis, auch wenn ich riesiges Glück gehabt habe. Einige Zeit nach meiner Verhaftung und der Geschichte mit den Viehwägen, kam der Stammkunde und Nazi, der mir geholfen hatte, zu meinem Mann ins Geschäft, der ihm erzählte, dass ich beschlossen hatte, das Land zu verlassen. Er fragte ihn, ob er uns irgendwie helfen könne, damit Franz mit uns mitkommen könne. Er schickte meinen Mann zum Gauleiterstellvertreter in Wien. Es wurde ein Termin vereinbart, und ich ging hin.
Dort wurde ich in einen großen Raum mit zwei Tischen gebracht, die an den gegenüberliegenden Wänden standen. Hinter jedem der Tische saß ein Offizier in stark dekorierter Uniform, die mir sehr hochrangig schien; sehr einschüchternd jedenfalls. Nachdem ich einige Schritte in diesen riesigen Raum gemacht hatte, hörte ich ein brummendes Geräusch, das von hinter der Tür in meinem Rücken und von allen Wänden zu kommen schien. Es musste das Telephon gewesen sein, denn der Offizier an der rechten Seite hob den Hörer ab, während ich zum linken Schreibtisch geführt wurde. Der Mann hinter dem Tisch stand auf, stellte sich vor und bot mir einen Sessel an. Ich verstand seinen Namen nicht, weil ich viel zu nervös war. Aber später fiel mir auf, dass ich nicht einen Laut eines Telefongespräches in meinem Rücken gehört hatte, und ich wunderte mich über diese geheimnisvolle akustische Situation, vermutlich war es aber nur durch die räumliche Distanz bedingt.
Ich weiß nicht, ob es wirklich der Gauleiter-Stellvertreter war, aber er war jedenfalls ein ausgesprochen gutaussehender und höflicher, charmanter Mann. Er entschuldigte sich für das, was vorgefallen war, und für das vorschriftswidrige und unerwartete Verhalten des Mannes mit dem niedrigeren Dienstrang, und meinte: „Keine Sorge, wir werden alles wieder in Ordnung und auf Gleich bringen. Ich versichere Ihnen, wir sind überhaupt nicht damit einverstanden, die Dinge sind uns im Augenblick ein wenig aus der Kontrolle geglitten.“
Er sprach mit soviel Wärme und Aufrichtigkeit, und sah so besorgt drein, als er sprach, dass ich vergaß, dass ich mit „einem von denen“ sprach.
Bevor ich noch überlegte, was ich tat, sagte ich: „Wie konnten Sie in das da hineingeraten?“ Er blickte mich für eine Weile mit dem Ausdruck größter Verwunderung an. In diesem Augenblick durchfuhr mich die Erkenntnis, welche Kritik ich da formuliert hatte, und wo ich mich befand! Wenn sich doch der Erdboden unter mir aufgetan hätte… Er schaute zum anderen Tisch hinüber, dem ich den Rücken kehrte und auf den ich völlig vergessen hatte, rückte etwas geniert seinen Sessel zurecht und sagte dann plötzlich. „Sie sind eine ausserordentlich tapfere Frau und ich bewundere sie dafür…“
Meine Ohren begannen zu summen, und in meinem Innersten hörte ich ihn sagen: „Aber ich fürchte, Sie werden dafür zu bezahlen haben…“ Aber nein! Er sagte: „Ich bin Ungar und mein Vater war der schwerarbeitende Besitzer einer Teppichfabrik in D. Durch die betrügerische Unehrlichkeit eines jüdischen Handelspartners wurde mein Vater ruiniert und verlor alles. Ich war damals ein kleiner Junge, und diese Veränderung traf mich hart, das Leid meiner Mutter verletzte mich tief.“
Er fiel in seinen Stuhl zurück und stieß plötzlich hervor: „Ich werde tun was ich kann, um Ihrem Ehemann zu einem Visum für England zu verhelfen. Ich habe schon gehört von den Leuten, zu denen Sie gehen, und sie werden dort in guten Händen sein. Ich wünsche Ihnen alles Glück, das Sie verdienen.“ Er erhob sich und führte mich durch den riesigen Raum zu der Tür, die sich mit jedem Schritt weiter zu entfernen schien. Als ich draussen war, schlotterten meine Knie, ich war verwirrt und wie betäubt.
Ich ging zum Bahnhof, und erst als ich im Zug saß, begann ich zu begreifen, was eben geschehen war. Ich fühlte mich wie ein Reisender, der seinen Pferdewagen über eine große Eisfläche lenkt und erst zurückblickend mit Schaudern bemerkt, dass er über einen großen und sehr tiefen See gefahren ist.
Der Zug war nicht sehr voll, und ich fand ein halb leeres Abteil. Ich versuchte, mich wieder zurechtzufinden. War das wirklich geschehen, war ich wirklich in die Höhle des Löwen gegangen, hatte ich mich wirklich getraut, dort zu kritisieren? Was wäre gewesen, wenn der Mann am gegenüberliegenden Tisch, mit irgendeiner technischen Hilfe, mithören hätte können? Wie hatte ich mich so hineinsteigern können, konnte ich jetzt in unser Schicksal vertrauen, oder war es nun für mich und meine Familie besiegelt?
Als ich meinem Mann von all dem berichtete, war er ausgesprochen beruhigt und meinte: „Siehst du, habe ich dir nicht gesagt, dass die nicht so schlecht sind, wie du immer tust? Das sind alles nur Anfangsschwierigkeiten und es wird schon bald wieder alles gut sein.“ Ich war ein bisschen durcheinander, aber ich behielt die feste Absicht, das Land zu verlassen. Hartnäckig wiederholte ich, wenn dem so sei, dann würde unsere Trennung ohnehin nur von kurzer Dauer sein, wenn nicht, dann würde es zu spät sein.
Später, in England, erhielt ich drei Briefe dieses Offiziers, in denen er mir versicherte, dass er sich sehr für meinen Mann einsetze, aber dass er im militärpflichtigen Alter und bei bester Gesundheit sei, mache es schwierig. Er hoffe im übrigen, dass ich mit den Sprachproblemen gut zurecht käme, und versicherte mir neuerlich seine Bewunderung für meinen Mut. Der vierte Brief war eine kurz hingekritzelte Nachricht, dass er mir nicht mehr schreiben könne, es sei zu gefährlich und er sitze zwischen zwei Stühlen. Er unterschrieb diese Notiz mit „Ihr namenloser Freund.“ Ich habe die Unterschriften auf den vorangegangenen Briefen nie entziffern können. Sechs Wochen nach dieser letzten Nachricht brach der Krieg aus.
Mittlerweile erfuhr ich, dass es eine völlig unberechenbare Zeit dauern würde, Dokumente zu erhalten, und so suchte ich sicherheitshalber nicht nur um einen Reisepass, sondern sowohl um ein Besucher-Visum für England als auch um eine Arbeitserlaubnis an, welches früher kommen würde, wollte ich nehmen. Ich hatte beschlossen, über die Nordsee und Leith nach England zu reisen, um dem Ärmelkanal, der Route der Flüchtlinge, auszuweichen. Ich hatte so haarsträubende Geschichten von den Durchsuchungsmethoden gehört, dass ich ihnen entgehen wollte. So wurden auf der Suche nach verborgenem Schmuck Schuhsohlen entfernt, rektale und vaginale Untersuchungen durchgeführt, Zahnprothesen abgenommen, wenn sie aus Gold waren, und so weiter.
Meine Entscheidung war jedenfalls richtig gewesen, es gab keine derartigen Probleme auf meiner Route und die Zöllner, ich muss es gestehen, waren ausgesprochen nett.
Das Baby bewegte sich heftig im Schlaf und ich stand auf, um zu sehen, ob es etwas benötigte. Ich blickte es lange an, schaute dann hinüber, auf Kurts kleines Gesichtchen, und sagte mir, es wird gut werden, es muss gut werden. So viele Gedanken wirbelten durch meinen Kopf, sie glichen den farbigen Windrädern, mit denen meine Kinder so gerne spielten…
Irgendwann muss ich dann erschöpft eingeschlafen sein, denn Franz weckte mich mit der Ankündigung, dass wir bald Hamburg erreichen würden. Wir hatten einander nichts zu sagen, alles war wieder und wieder ausgesprochen worden. Er war, verständlicherweise, verbittert, und ich war vorwurfsvoll, denn meiner Meinung nach war er nicht selbstlos genug gewesen, um mich zu verstehen.
Nichts war leicht in meinem Leben. Ich wiederholte mir das im Laufe der Jahre mit einer Monotonie, die zwar nicht verhindern konnte, dass ich mich dagegen auflehnte, aber ich war darauf vorbereitet, erwartete es stets, wie etwas, das sein musste, wie das Amen im Gebet. Es gibt Menschen, die gehen durch das Leben und alles fliegt ihnen ohne jede Anstrengung zu. Andere müssen nicht nur schwer für das arbeiten, was sie wollen, sie müssen zusätzlich ständig irgendwelche Opfer bringen, um ihre Ziele zu erreichen. Oft grübelte ich über diesen Umstand, und wenn ich drauf und dran war, wegen all der Rückschläge verbittert zu werden, dann sagte ich mir: „Hör doch auf, du hast immer Glück in deinem Unglück gehabt, es hätte immer auch schlechter, viel schlechter kommen können.“ Rückblickend habe ich viele Dinge in meinem Leben bereut, niemals aber, dass ich nach England gegangen bin.
Als wir in Hamburg ankamen, war das Schiff am Vortag abgefahren und das nächste sollte erst in einer Woche kommen! Also wieder warten… Das Warten war so etwas wie mein ständiger Begleiter geworden, auch wenn es kein Wort gab, das ich weniger leiden konnte, als dieses „Warten“.
Schließlich kam es aber doch, das Schiff, und wir konnten unsere Kabinen ansehen. Wir sollten am Abend losfahren, und der Tag schien nichtendenwollend. Kurt war schrecklich aufgeregt. Natürlich war ihm nicht klar, dass er seinen Vater nun für lange Zeit nicht mehr sehen würde, alles schien für ihn vor allem sehr aufregend zu sein. Franz hatte ein längeres Gespräch mit dem Kapitän, einem alten holländischen Seebären, und ersuchte ihn, besonders auf uns zu achten, da wir noch nie im Ausland gewesen seien. Sie schüttelten einander die Hände, als die Sirene alle aufrief das Schiff zu verlassen, die nicht mitfahren sollten. Franz sagte zu Kurt: „Pass auf Mami und Freddy auf, du musst jetzt meinen Platz einnehmen und darauf schauen, dass alles in Ordnung ist. Jetzt bist du der Mann in der Familie.“ Der kleine Bengel sah ihn sehr ernst an und versprach feierlich, die Verantwortung zu übernehmen.
Ich erinnere mich noch, wie mein Mann kleiner und kleiner wurde, bis er nur mehr ein kleiner Punkt war und schließlich ganz verschwand. Ich weinte nicht, ich fühlte mich befreit und gleichzeitig sehr verloren, so wie sich ein Baby fühlen muss, wenn es aus der Geborgenheit des mütterlichen Bauches zur Welt kommt. Aber für mich gab es nun in der ganzen weiten Welt keine solche Geborgenheit mehr. In meinem Bemühen, nur fort zu kommen, hatte ich mich überhaupt nicht mit der Frage beschäftigt, was ich tun würde, sobald ich einmal auf dem Weg war. Jetzt kam das mit einer solchen Wucht und überwältigenden Plötzlichkeit über mich, dass ich alle Kraft und Zuversicht verlor.
Das Schiff war ein Frachter mit zwölf Kabinen. Nachdem ich den Kindern ihr Nachtmahl gegeben und sie zu Bett gebracht hatte, ging ich hinauf zum Abendessen. Die Stewardess versprach mir in gebrochenem Deutsch, dass sie ein Auge auf die Kinder haben würde. Ich saß an einem Tisch mit einer schottischen Dame, die mit einem deutschen Geschäftsmann verheiratet war und sich auf einer ihrer häufigen Reisen nach Schottland befand. Durch sie erhielt ich meinen ersten Schock. In meiner Naivität hatte ich nie daran gezweifelt, dass alle Leute in Schottland und England deutsch sprechen würden.
Ich hatte das Buch „Tausend Wörter in Englisch“ mit, für die wenigen, die nicht deutsch sprechen würden. Als das in der Konversation durchschimmerte, meinte die schottische Dame: „Mein liebes Kind, da liegen Sie falsch! Die sprechen dort weder deutsch noch sonst eine Fremdsprache. Ich vermute, sie haben eine schwere Zeit vor sich!“
Angesichts meines emotionalen Zustandes vor der Abreise, wäre ich ohnehin nicht in der Lage gewesen, eine Fremdsprache zu erlernen, aber hätte ich das geahnt, wäre wohl der Schock nicht so groß gewesen. Hastig fragte ich sie nach den wichtigsten Wörtern, wie „bitte“ und „danke“, und ging dann rasch zu Bett. Ich konnte lange nicht einschlafen und dankte dem Himmel für die eine – einzige – Vorkehrung, die ich getroffen hatte.
Etwa zwei Monate zuvor hatte ich Lord Locker-Lampson, der mir seine Gastfreundschaft für den Fall angeboten hatte, dass ich je nach England kommen sollte, geschrieben, und nach sechs Wochen hatte ich eine Antwort erhalten. Er schrieb mir, dass der Brief ihm auf einer Rundreise nachgereist sei, und dass er nicht wüsste, wann er zurückkommen würde. Ich solle einstweilen, bis zu seiner Rückkehr, mit den Quäkern in Wien in Verbindung treten. Ich nahm die Verbindung auf, berichtete von meiner misslichen Lage und zeigte den Brief vor. Es wurde mir versichert, dass mich ein Verbindungsmann der Gesellschaft in Leith abholen würde, wenn ich meine Ankunft bekanntgäbe. Mehr wusste ich damals nicht, ich hoffte nur inständig, dass alles klappen würde.
Obwohl ich eine Woche Verspätung hatte, wurde ich von einer Frau Dr. Licht von den Quäkern erwartet, sie sprach ein bisschen Deutsch und ich verstand so viel, dass ich bis zur Ankunft von Lord Lampson mit den Kindern in einem Heim untergebracht werden sollte.
Noch heute habe ich diese Frau und ihre Organisation in dankbarer Erinnerung, und ich schwor mir, dass ich alles zurückzahlen würde. Jahre später, als ich meinen ersten Lohn bekam, zahlte ich jahrelang monatlich eine kleine Summe auf das Konto der Gesellschaft. Eines Tages kam dann eine Vertreterin der Gesellschaft zu mir und bat mich, meine Zahlungen einzustellen. „Sie waren die einzige, von denen, die herübergekommen sind, die nachher jahrelang gezahlt hat.“ Ich schämte mich für alle jene, die die Hilfe einfach als selbstverständlich genommen haben.
Als ich in Wien die Information erhielt, dass mein Reisepass und das Visum abholbereit seien, lag ich gerade mit Grippe und hohem Fieber im Bett. Es war notwendig nach Wien zu fahren und die Dokumente innerhalb von drei Tagen abzuholen. Trotz meines fiebrigen Zustandes fuhr ich also am nächsten Tag nach Wien. Vor dem Passbüro und rund um das Haus stand eine Menschenschlange. Ich fühlte mich krank und mir schwindelte, ich sah alles doppelt und die Beine trugen mich kaum – jedenfalls schien es mir unmöglich, mich in die Schlange zu stellen. Ich stellte mich trotzdem an und erfuhr, dass nicht alle diese Leute für einen Pass und ein Visum Schlange standen. Viele von ihnen waren jüdische Flüchtlinge, die Eingaben gemacht hatten, was ihnen sehr erschwert worden war. Manche warteten schon Tage und Nächte in der Schlange. Leute, die benachrichtigt worden waren, dass ihr Pass abzuholen sei, mussten in ein Büro gehen, wo sie eine Nummer erhielten, die aufgerufen wurde. Für diese Glücklichen gab es eine eigene Schlange. Trotzdem dauerte es fast den ganzen Tag, bis ich an die Reihe kam.
Plötzlich wachte ich auf. Was war los? Mein Kopf! Ich konnte mich nicht aufrichten, es war, als säße jemand auf mir, alles drehte sich im Kreis, hob und senkte sich. Der Kinderwagen krachte von einer Seite der Kabine zur anderen, ohne Unterlass, und ich konnte mich nicht rühren, um es zu verhindern. Mir war so schlecht, alles drehte sich, ich fühlte mich elend und so krank, dass ich dachte, ich müsse sterben, und als es nicht aufhörte, wünschte ich, ich würde sterben. Ich war völlig hilflos und konnte meinen Kopf nicht drehen und nicht heben.
Da hörte ich eine kleine Stimme neben mir, Kurt: „Mami, ich muss mich übergeben!“ Ich nahm alle Kraft zusammen, um mich aufzurichten, aber es war hoffnungslos. Ich bat ihn, über die kleine Leiter herunterzusteigen und sich über das Waschbecken zu beugen. Das tat er, und als er sich erleichtert hatte, fühlte er sich so wohl, dass er sein kleines Auto auf den Boden setzte und das Schaukeln des Schiffes dazu nutzte, den Wagen hin- und herrollen zu lassen, als sei nichts gewesen.
Ich sagte ihm, ich sei krank und er solle die Stewardess holen. Sie kam, sah nach Manfred, der auch seekrank geworden war, aber nicht weinte, und ging schlafen. Sie musste sich aber doch Sorgen meinetwegen gemacht haben, denn sie holte schliesslich den Kapitän, der versuchte, mir irgendeine Flüssigkeit einzuflössen. Aber meine Zähnewaren so fest aufeinandergepresst, dass er scheiterte. Bald kam er wieder mit einigen Matrosen, die mich in ein Leintuch packten und an Deck brachten.
Ich wurde auf eine Art Notbett gelegt, und der Kapitän kam immer wieder, stellte sich vor mich und forderte mich auf: „Holen Sie tief Luft, öffnen Sie die Augen und atmen Sie!“ Wenn ich die Augen öffnete, sah ich turmhohe Wellen, die auf das Deck stürzten, und der auf- und absteigende Horizont trug das Seine dazu bei, dass mir sofort noch schlechter wurde. Diese Agonie hielt 44 Stunden an, dann stabilisierte sich mein Zustand etwas, gerade als ich dachte, das sei mein letzter Atemzug. Es war mir, als sei dieser entsetzliche Druck von meiner Brust genommen, mein Magen begann sich zu entwirren, ein Strahlen ging über mich und ich wusste: ich war wieder am Leben.
Ich setzte mich auf und sagte zu dem Kapitän, der über das ganze Gesicht grinste: „Wo sind die Kinder?“ „Alles in Ordnung. Geht’s jetzt besser?“ Ich schämte mich und konnte einfach nicht glauben, dass so eine Veränderung möglich war. „Was ist mit mir geschehen?“ fragte ich. „Sie sind seekrank geworden, und wir sind eben im Hafen eingelaufen.“ Ich war dankbar, dass es mir jetzt wieder so gut ging. Ich ging in die Kabine, wo Kurt spielte und das Baby gerade ein Fläschchen bekam. Ich badete beide und richtete mich her, um für die Ankunft im Land der Freiheit bereit zu sein!
Frau Dr. Licht, die uns erwartet hatte, brachte uns zu einem Haus ausserhalb von Edinburgh, es handelte sich um ein Heim für unverheiratete Mütter. Diese teilweise sehr jungen Frauen stammten aus guten Familien. Die meisten hatten rotgeränderte, vom Weinen geschwollene Augen. Sie waren hier während der letzten Wochen vor und der ersten Wochen nach der Entbindung untergebracht, bevor ihre Eltern sie wieder nach Hause holten. Die Babys wurden zur Adoption freigegeben. Ich habe dort nie ein Baby gesehen, denn die Mädchen brachten sie von der Entbindung gar nicht mit. Die Leiterin war eine strenge Frau und ließ die Mädchen Böden schrubben und bis zum letzten Tag alle schweren Arbeiten verrichten. Mir taten sie leid. Sie wirkten nicht oberflächlich, und die meisten unter ihnen hätten sicherlich gern ihre Babys behalten. Sie spielten gerne mit Freddy und kümmerten sich um ihn. Sie waren immer den Tränen nahe, wenn ihre Entbindung näher kam, denn sie wussten, dass sie ihre Babys nie sehen würden. Irgendwie reimte ich mir all das zusammen, aus dem was die Mädchen mir zu sagen versuchten, und was ich mit Hilfe des Wörterbuchs oder der Zeichensprache mitbekam, beziehungsweise was ich miterlebte.
Mit Kurt war das anders. Als er erkannte, dass wir für längere Zeit hier bleiben würden und sein Papi nicht kommen würde, war er sehr unglücklich und akzeptierte meine Erklärungen nur mit großer Enttäuschung. Er wurde blass, lächelte selten und wich nicht mehr von meiner Seite. Für die Nacht teilten wir zu dritt ein Bett, weil es in diesen großen Schlafsälen fürchterlich kalt war. In unserem Schlafsaal war sonst niemand, die Mädchen hatten einen eigenen. Das Bettzeug reichte nicht aus, um uns einzeln zu wärmen, und die Heimleiterin konnte oder wollte mich nicht verstehen.
Eines morgens – Kurt hatte seit einer Woche über Ohrenschmerzen geklagt – wachte Kurt übersät mit roten Flecken auf. Ich war ziemlich beunruhigt über diesen Ausschlag und hoffte, es würde jemand auftauchen, der deutsch sprach und mit dem ich darüber reden könnte. Denn als ich ihn so sah, fiebernd und mit geschwollenen roten Augen, geriet ich in Panik. Und obwohl ich die Heimleiterin instinktiv nicht ausstehen konnte, rannte ich, um sie zu holen. Sie rief einen Arzt herbei, und Kurt wurde in ein Krankenhaus gebracht. Ich durfte nicht mitgehen, aber Kurt klammerte sich verzweifelt an mich. In seinen vier Jahren war er niemals krank gewesen, und jetzt, beim ersten Mal, musste ich ihn allein lassen. Ich erklärte ihm, dass er in ein Krankenhaus käme, und dass wir hier auf ihn warten würden, bis er wieder gesund sei und zurückkommen könne. Aber ich hatte das Gefühl, dass er es nicht begriff, und erst die Heimleiterin trennte uns voneinander, um die Szene abzukürzen.
Jedenfalls wurde ich am zweiten Abend in das Krankenhaus geholt. Da ich nicht wusste, was los war, befürchtete ich das Schlimmste. Man gab mir einen Kittel, eine Haube und eine Gesichtsmaske und führte mich durch einen Gang. Schon auf halbem Weg konnte ich seine herzzerreißenden Schreie hören. Er war schon heiser geschrien und hörte nicht auf zu wiederholen: „Was habt ihr mit meiner Mami gemacht? Wo ist meine Mami, ihr habt sie eingesperrt, ich werde es meinem Papi sagen, ich will meine Mami, ich schieße euch alle nieder!“
Ich rannte in Richtung seiner Stimme, und da stand er, in einem kleinen Bettchen am Rande des Zimmers. Er sah fürchterlich aus. Ich riss mir die Maske vom Gesicht und rannte zu ihm. Er fiel mir erschöpft in die Arme. Sein Herz pochte und der ganze Körper schlotterte. Natürlich hatte ihm keiner seine Angst nehmen können, da ihn niemand verstand und auch er niemanden verstanden hätte. Nun übermannte ihn seine Erschöpfung und er schlief, den Kopf in meinem Schoß, rasch ein.
Ich erfuhr, dass er seit seiner Einlieferung so geschrien hatte und jede Nahrung und jedes Getränk verweigert hatte. Deshalb hatte man nach mir geschickt. Gleichzeitig erfuhr ich, dass jemand in der Küche ebenfalls erkrankt war, und schließlich erlaubte mir die Heimleiterin, dass ich mich mit den Quäkern in Verbindung setzte.
Frau Dr. Licht erschien, und durch sie erfuhr ich, dass Kurt Masern hatte. Als ich ihr berichtete, was vorgefallen war und unter welchen schrecklichen Ängsten Kurt litt, machte sie einige Anrufe und nahm mich mit ins Krankenhaus. Sie erklärte dem Arzt und der Schwester die Umstände, und dass Kurt wegen der Ereignisse in Österreich solche Ängste um mich habe. Da ich, wie ich nun klarstellen konnte, bereits als Kind Masern gehabt hatte, erhielt ich die Erlaubnis, ihn täglich zu besuchen.
Im Heim erkrankte schließlich eine nach der anderen, nur Freddy, die Heimleiterin und ich blieben verschont. Aber Freddy wurde, vorsichtshalber, auch ins Krankenhaus gebracht, wo er nach wenigen Tagen leichte Masern Symptome zeigte, sonst aber völlig gesund blieb. Er wurde unter den Männern im Krankenhaus, in deren Abteilung er gelegt worden war, liebevoll herumgereicht, alle kümmerten sich um ihn und spielten mit ihm.
Ich konnte verstehen, dass die Heimleiterin uns die Verbreitung dieser Epidemie zum Vorwurf machte und uns nicht liebgewinnen konnte. Sie kam eines Tages zu mir und teilte mir mit, dass sie in meinem Namen einen Posten angenommen hatte. Ich brauchte aber keinen Posten, denn ich besaß ja einen Brief von Lord Locker-Lampson, der mir mitteilte, dass ich bei ihm in einer Ferienanlage, in der er normalerweise den Sommer und den Frühherbst verbrachte, leben könne.
Diese alte Jungfer ließ jedoch nicht locker: „Sie müssen arbeiten, sie können nicht immer so vor sich hinleben. Die Dame, der sie zur Hand gehen sollen, ist in großen Nöten und ich habe ihr versprochen, sie zu schicken.“ Ich bin aber nicht jemand, über den man verfügen kann. Ich rief Frau Dr. Licht an, und sie half mir dann wieder. Das klingt alles so einfach, aber wenn man die Sprache nicht kann, werden selbst die einfachsten Dinge zu schier unüberwindlichen Hindernissen.
Mit Lord Lampson wurde ein Termin vereinbart, und ich besprach mit meiner deutschsprachigen „Freundin“, dass ich die Kinder gerne gemeinsam mit anderen Kindern untergebracht hätte, bis meine Zukunft geregelt war. Frau Dr. Licht brachte uns in ein anderes Heim, das komfortabler war, und wo ich auf die Ankunft von Lord Lampson wartete. Frau Dr. Licht schlug mir vor, die Kinder in ein Kinderheim zu geben, das von geistlichen Schwestern geleitet wurde.
Zu diesem Zweck reisten wir nach Fazit in der Nähe von Rochdale, wo ich die Kinder in einem Kloster abgab, dessen Nonnen zweisprachig, nämlich deutsch- und englischsprachig, waren. Diese Möglichkeit erschien mir als besonderer Glücksfall. Ich erklärte Kurt, dass jetzt die Zeit gekommen sei, über die sein Papi mit ihm gesprochen habe und in der er auf Freddy aufpassen müsse, denn ich müsse sie beide nun für eine Weile verlassen. Es seien hier jede Menge Kinder zum spielen, und sollte Papi es einrichten können herüberzukommen, dann würden wir alle wieder vereint sein. Ich würde sie so oft wie möglich besuchen. Mit großer Ernsthaftigkeit willigte Kurt in dieses Arrangement ein.
Meine Gastgeber waren sehr freundlich. Ich hatte eine eigene Hütte in der Ferienanlage. Die Anlage selbst bestand aus etlichen dieser Holzhütten, die lose verstreut angelegt waren. Eine doppelt so große Hütte war als Kinderstube eingerichtet und beherbergte ihre beiden kleinen Söhne und die ältliche Amme der Familie, die von einem Kindermädchen assistiert wurde. In einer weiteren Hütte wohnte die Gastgeberin, und neben der Hütte des Gastgebers stand eine Bibliothekshütte. Die Anlage war ziemlich groß und abgeschirmt. Natürlich gab es auch eine Küche mit einem anschließenden Raum für den Koch.
Obwohl sie mir nichts dergleichen gesagt hatten, merkte ich doch, dass sie froh darüber waren, dass ich die Kinder in Pflege gegeben hatte. Ausserhalb der Anlage stand ein kleines gemauertes Landhaus, in dem ein ältlicher Angestellter mit seiner Frau lebte. Er arbeitete als Hausdiener, während sie überall aushalf, wo das nötig war. Er brachte mir zum Beispiel täglich das Wasser für Bad und Küche, denn natürlich gab es keine Wasserleitung. Er entleerte auch die Toiletten, die in einem Eck der Anlage untergebracht waren.
Die Locker-Lampsons besaßen auch ein Hotel im Nachbarort Cromer, wo wir manchmal essen gingen und vor allem das Badezimmer benutzten. Während unseres Aufenthaltes bekamen wir sogar königlichen Besuch. Eine entfernte Verwandte der Königin, Prinzessin Marie-Louise, kam zum Tee, den wir am Strand, im Sand sitzend, genossen. Lord Lampson bat mich, meine Nationaltracht anzuziehen, da die Prinzessin Trachten besonders liebe. So saß ich im Dirndl am Strand. Im Gegenzug durfte ich im königlichen Auto fahren. Alleine wollte ich dieses Privileg nicht in Anspruch nehmen, also nahm ich mit der Frau eines Bediensteten am Rücksitz Platz. Wir zogen die Vorhänge zu und begannen die Rundfahrt durch den Ort. Nur durch einen kleinen Spalt sahen wir hinaus. Am Wegrand machten die Frauen einen Knicks; da alle wegen der zugezogenen Vorhänge des königlichen Autos glaubten, einem höchsten Gast die Referenz erweisen zu müssen.
Als der Krieg ausbrach, mussten wir natürlich sofort hinaus aus der Anlage, die für Soldaten zur Verfügung gestellt werden musste. Nach einigen Wochen übersiedelten wir ins Landesinnere in einen großen und unübersichtlichen Landsitz, in dem ein Hausmeister mit seiner Frau wohnte. Beide waren gewissermaßen „patriotisiert“ und betrachteten mich als Feind oder Spion, den man mit großem Misstrauen behandeln muss.
Wenn ich baden wollte, drehte er mir immer das warme Wasser ab. Da er offenbar dafür verantwortlich war, die Verdunkelung zu überprüfen, stand er jeden Abend in meinem Zimmer und beschuldigte mich, ich hätte Lichtzeichen Richtung See gegeben.
Eines Tages kam er mit einem Buch, in dem alle Verbrechen von österreichischen und deutschen Soldaten aufgelistet waren. Da wurde ich einmal heftig und erklärte ihm, dass ich an solchen Sachen nicht interessiert sei. Ich ertrug diese ewigen Verdächtigungen kaum, aber Locker-Lampson und seine Familie, die mich immer sehr freundlich behandelt hatten, wollte ich mit diesen Kleinigkeiten nicht belästigen.
Die Beschimpfung als Spionin und feindliche „Deutsche“ musste ich mir in den folgenden Jahren noch mehrmals gefallen lassen. In diesem ersten Winter waren wir während annähernd sechs Wochen eingeschneit. Die Züge verkehrten nicht, ich konnte meine Kinder nicht besuchen, lange Zeit konnten wir nicht einmal das Haus verlassen, und die Zeitungen schickten Photographen, die die Schneewehen aufnahmen. In diesem Winter kam täglich ein Bankdirektor, der rund zehn bis 15 Jahre älter war als ich, am Abend zu Besuch. Er war Junggeselle und hatte mit seiner alten Mutter gelebt. Als seine Mutter verstarb, wurde er sehr einsam. Die Frau Lord Locker-Lampsons, Barbara Lampson, redete mir immer zu: „Der will dich heiraten, heirate ihn doch, du könntest im Luxus leben, er hat ein wunderschönes Haus.“ Aber ich hatte doch einen Mann „drüben“, wie hätte ich heiraten können?
Für Barbara Lampson war klar: „Glaubst du, dein Mann wartet auf dich?“ Ich war aber nicht interessiert. Ich hatte einen Mann. Das war der zweite Heiratsantrag, den ich ablehnte.
Ich war der Meinung, dass es für meinen Mann jetzt möglich sein musste, herüberzukommen, trotz aller Hoffnungslosigkeit hatte ich diese Hoffnung nie aufgegeben. Ich erklärte meinen Gastgebern daher, dass ich mich, sobald das Reisen wieder möglich sei, um eine Arbeit umsehen wolle. Würde mein Mann erst kommen, er würde uns helfen können, die Dinge voranzutreiben, und wir würden bald wieder eine Familie sein können. Lord Locker-Lampson wollte mich unbedingt überreden, mit seiner Familie nach London zu übersiedeln, die Kinder hätte ich jedoch nicht mitnehmen können. Großstädte waren ausserdem nicht mein Fall, und schließlich wollte ich auf eigenen Beinen stehen. Auch die noch so düsteren Aussichten, die mir meine Gastfamilie ausmalte, konnten mich nicht von diesem Plan abhalten.
Mit einem Referenzschreiben von Lord Locker-Lampson machte ich mich also auf Postensuche. Das Schreiben war so positiv und überschwänglich gehalten, dass ich mich fast schämte, es vorzuzeigen. Ich hatte die Suche kaum begonnen, da wurde ich bereits auf den Boden der Realität zurückgeholt. Ich sprach in einem Haus vor, in dem ein Mann alleine wohnte. Er zeigte mir das ganze Haus, und ich auf mein Zimmer zu sprechen kam, wollte er nicht verstehen, erst als ich direkt nachfragte, in welchem Bett ich schlafen sollte, deutete er auf das Doppelbett.
Nach diesem Erlebnis hatte ich Angst vor weiteren Vorsprachen und war froh, dass ich im Kloster, wo meine Kinder untergebracht waren, von einer Schwester erfuhr dass eine Ärztin, deren Mann auf hoher See ebenfalls Arzt war, ein Kindermädchen suchte. Das gab mir die Möglichkeit, in der Nähe der Kinder zu sein und sie nach der Arbeit bei mir zu haben. Einmal mehr dachte ich, ich hätte besonderes Glück gehabt, …
Die Idylle währte nicht lange. Die Ärztin übersiedelte Meilen weiter und wollte, daß ich mit ihr komme. Sie versprach, meinen wirklich bescheidenen Lohn anzuheben, damit ich meine Kinder wenigstens alle vierzehn Tage sehen könne. Aber diese Zusagen platzten wie Seifenblasen.
Durch Zufall kam in das Haus der Ärztin eine Hebamme zu Besuch. Ich kam mit ihr ins Gespräch, und sie wunde sich, warum ich denn nicht mehr aus meinem Leben mache. „Krankenschwestern werden dringend gesucht, wollen Sie ewig bei der Hausarbeit verkümmern?“ Ich wandte ein, d mein Englisch bescheiden sei und ich kein Blut sehen könne, ohne dass mir schlecht würde.
„Alles kann man, wenn man nur will!“ insistierte sie. Sie half mir schließlich auch bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz. Als ich meine Arbeitgeberin von mein Plänen informierte, musste ich das erste Mal zeigen, wie ernst es mir um meinen neuen Beruf war, denn sie wollte mich auf keinen Fall gehen lassen. Das kleine Mädchen hätte sich schon so an mich gewöhnt und jetzt könne ich sie doch nicht im Stich lassen. Mein Entschluss stand aber fest.