Abraham Nemschitz: Als Palästina eigentlich Liberia hieß

Der Schreiber dieses Tagebuches war mein Vater, und es bedarf einer kurzen Erklärung, wie es geschrieben wurde. Mein Vater mußte im Jahr 1906 sein Studium im Technologischen Gewerbe-Museum abbrechen, weil sein Vater plötzlich starb. Er war 16 und ging in eine Wäschefirma in die Lehre. Dies war auch der Grund, warum er 1911 zum Militär mußte, um die dreijährige Dienstpflicht zu erfüllen. Eine einfache Rechnung ergibt, daß er auf diese Weise sieben Jahre, bis Ende des Ersten Weltkrieges, beim Militär war. Mein Vater war bei den 84ern in Krems stationiert und es war üblich, daß jüdische Soldaten bei den jüdischen Familien zu den jüdischen Feiertagen eingeladen wurden. So lernte er meine Mutter kennen, diese befreundete sich auch mit seiner jüngeren Schwester in Wien, wo sie eine Modeschule besuchte, und 1915 heirateten sie. Kein Zweifel, daß diese Jahre seinen Charakter sehr beeinflußt haben. Von nicht geringerem Einfluß war seine Leidenschaft zum Fußball. Er begann in der Jugendelf des F.C. Vienna (sie wohnten in Döbling, nahe der Hohen Warte), spielte später beim W.A.C., bei der Hakoah und in Krems. Tatsache ist, daß er in Israel bis 1948 als Schiedsrichter tätig war. Dies geht auch aus dem Tagebuch hervor. Was in keiner Weise ersichtlich ist, sind die Jahre, die er als Geschäftsreisender verbrachte. Er bereiste das Waldviertel für Wäschefirmen, und war von Montag bis Freitag auf Tour. Von 1928 fuhr er im eigenen Auto (ein alter Fiat 1911) und ich hatte des öfteren Gelegenheit, ihn in den Schulferien zu begleiten.

WENN ICH ZURÜCKDENKE

Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, wundert mich nur eines. Wir, die jüdischen Kinder in Krems, hatten keine christlichen Freunde. Unsere Freizeit verbrachten wir im Tempelhof oder in der Donau-Au, am Kreuzberg, am Kuhberg und bei der alten Schießstätte. Christliche Kinder waren nie mit uns. Allerdings kann ich mich auch nicht erinnern, daß es Auseinandersetzungen oder Schlägereien gab. Selten war mehr als ein Jude in einer Schulklasse, und trotzdem bildeten sich kaum Freundschaften. Wir hatten eine jüdische Jugendgruppe, verbunden mit der zionistischen Jugendorganisation „Blau-Weiss“. Im Sommer gab’s Treffwanderungen mit den Gruppen aus St. Pölten und Linz. Aggstein, Jauerling, Vogelbergsteig u.a. Dies ging bis 1933-34. Unter dem Einfluß der illegalen Nazis und deren Boykott wurden die meisten jüdischen Geschäfte in den Konkurs gezwungen. Zahlreiche Familien verließen Krems. Wir gingen nach Wien. Für meinen Vater bedeutete dies ein Zurück nach Döbling, wo wir in der Nähe seiner Mutter

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Oben: Die Großeltern von Abraham (Hardy) Nemschitz in Krems
Jakob und Katharina Sachs 1886 bei ihrer Hochzeit (links)
und im Jahr 1938 in Wien (rechts)
Unten: Die Belegschaft vor dem Geschäft der Familie Sachs in Krems

und seiner Geschwister lebten. Bis zum Anschluß reiste er weiter als Geschäftsreisender. Nach den Erzählungen meiner Eltern fielen die ganzen Ersparnisse der Familie dem Finanzsturz von 1929 zum Opfer. Zusammen mit dem erwähnten Druck der Nazis konnte sich die Familie wirtschaftlich nicht erholen. Unser Glück war, daß meine Mutter Schneiderin war und sie so zur Nadel greifen konnte, sowohl in Wien als auch nach der Einwanderung in Palästina.

DER „ANSCHLUSS“ 1938

1938 – Anschluß. Mein Bruder meldete sich sofort zu einem illegalen Transport nach Erez-Israel, da von einem Zertifikat, welches ein Mindestkapital von 1.000 Pfund Sterling forderte, keine Rede war. Die Transporte waren vom Betar (Revisionistische Partei) organisiert und begannen im Mai ’38 und gingen per Bahn nach Triest. Mein Bruder wurde unglücklicherweise dem ersten Transport im August zugeteilt, der von den Italienern nicht mehr durchgelassen wurde. Nachdem sie ungefähr ein Monat auf einem Nebengeleis in Arnoldstein standen, kamen sie nach Wien zurück. Ich versuchte, in der Zwischenzeit ein Studentenzertifikat zu bekommen, um mein technisches Studium in Haifa fortzusetzen. Leider ohne Erfolg, obwohl die Schule in Haifa mein Ansuchen befürwortete. So schloß ich mich also dem Transport meines Bruders an, und am 5. November 1938, auf dieselbe Art wie im Tagebuch beschrieben, fuhren wir donauabwärts bis Sulina, im Donaudelta des Schwarzen Meeres. Aus späteren Gesprächen mit meinen Eltern stellte sich heraus, daß mein Vater einige Tage nach unserer Abfahrt verhaftet wurde und man auch mich und meinen Bruder suchte. Die große Razzia nach dem Mord an dem Deutschen Konsul Rath in Paris war der Auftakt zur „Kristallnacht“. In diesen Tagen erfolgte der Einmarsch ins Sudetengebiet und der Einmarsch der Ungarn in die Slowakei. Wir waren noch auf der Donau und fürchteten, daß man uns nicht durchlassen wird. Wir hatten Glück. Mein Vater landete in Dachau. Über diese Zeit wurde nie gesprochen, nur irgendwann erzählte er, daß man ihm dort die Zähne eingeschlagen hat. Nach ungefähr einem Jahr wurde mein Vater in ein Arbeitslager in Friesland als Anstreicher versetzt. Er hatte in Wien einen Umschulungskurs besucht, um ein Handwerk zu erlernen, seinen Beruf durfte er ja nicht mehr ausüben. Das Auto war ihm auf der Straße schon lange vorher einfach abgenommen worden.

DIE FAMILIE

Meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter, Kriegsinvalide und Offizier im Ersten Weltkrieg (er hatte an der Piave den linken Arm verloren) gelang es, für meine Eltern Visa nach Paraguay zu bekommen. Mit diesem Visum erlangte er die Freilassung meines Vaters unter der Bedingung, Österreich innerhalb von zwei Wochen zu verlassen. So retteten sich meine Eltern und Schwester. Mein Onkel, seine Frau und Tochter, sein ältester Bruder, ein Poliokrüppel der Jahrhundertwende, dessen Frau und unsere Groß-mutter, wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert. Meine Großmutter starb dort. Ende 1944 gingen alle nach Auschwitz.

VISA NACH LIBERIA – FAHRT NACH PALÄSTINA

Wir, mein Bruder und ich, hatten Visa nach Liberia. Diese Visa waren nur eine Formalität und ein Geschäft, ermöglichten zwar die Durchreise in andere Länder, wären aber höchstwahrscheinlich bei einer Einreise in Liberia nie akzeptiert worden. Wie lange unsere Reise dauerte? Wir verließen Wien am 5. November 1938 und wurden am 17. Dezember 1938 in Nataniah bei Nacht an Land gesetzt. In Sulina wurden wir auf die „Elli“, einen griechischer Kohlendampfer, der für den Transport umgebaut war, verladen. Im Bauch des Schiffes gab es aus Brettern gezimmerte Etagen, zu niedrig um aufrecht zu stehen, zum Schlafen mußte man gestreckt liegen, keine Matratzen, eng aneinander, mit den mitgebrachten Decken. Wohl war das Heizproblem im Winter am Schwarzen Meer dadurch gelöst, doch litten die Geruchsnerven nach kurzer Zeit. Kein Wunder, daß jeder versuchte, sich einen wettergeschützten Platz an Deck zu arrangieren. Hier war aber Platzmangel. Für ca. 700 Passagiere mußten Latrinen gezimmert werden. Sie waren auf die Reling gezimmert mit freiem Ablauf ins Meer. Dezember – Schwarzes Meer – ein alter Dampfer – hoher Wellengang – ein Großteil der Passagiere seekrank und zu alledem ein große Anzahl frommer Juden, die sich mit Aurum, einer schwefelhaltigen Paste, rasierten, weil es orthodoxen Juden verboten ist, sich mit einem Messer zu rasieren. Das war noch das Zeitalter vor dem elektrischen Rasierapparat. Vier Wochen mit kaum einer Möglichkeiten sich zu waschen, und von Hygiene keine Rede. Nach einigen Tagen gab’s kein Brot mehr, nur steinharten Schiffszwieback, der in Tee oder Suppe eingeweicht werden mußte, da man sich sonst den Kiefer zerschnitt. Wenn bewegte See war,

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Fritz und Abraham Nemschitz (v.l.n.r.) mit einem Bekannten
vor der Flucht auf einem DDSG-Dampfer nach Palästina
im November 1938. Die Kleidung ist der Zeit angepaßt
um nicht aufzufallen.

blieb vom Tee oder der Suppe nicht viel übrig, auf dem Weg von der Verteilung bis zum Platz und zum Essen. Ich aß so viele Sardinen in diesen Wochen, daß ich für lange Jahre unfähig war, Sardinen zu essen.

FREIGEKAUFT UM 25.000 PFUND

So ging es durch das Marmarameer und die Dardanellen in die Ägäis. Südwärts, durch das Inselreich, immer außerhalb der Dreimeilenzone bis in die Gegend von Rhodos. Eines Tages war das Meer sehr stürmisch und der Kapitän erklärte, daß er gezwungen wäre, in einer Bucht entlang der türkischen Küste vor Anker zu gehen. Bei der Ausfahrt am nächsten Morgen erwartete uns ein Polizeiboot der Küstenwache. Wir mußten ihm in den Hafen von Mersina folgen. Der Kapitän ließ die violette Epidemieflagge aufziehen, um einen Besuch der Polizei auf dem Schiff zu verhindern. Das nützte nichts. Die Hafenpolizei kam an Bord und die Verhandlungen begannen. Das Ende war, daß die jüdische Kultusgemeinde Athens uns für 25.000 Pfund Sterling freikaufte. Die Tage im Hafen waren eine Erholung. Wir waren in der Mitte der Bucht verankert und im Nu waren Ruderboote mit frischem Gemüse, Schafkäse und Brot da und ein reger Handel begann. Die Menschen waren diese Nahrung nicht mehr gewohnt, und das Resultat waren verdorbene Mägen und die paar Mark, die wir mitnehmen durften, waren auch weg. Wir durften bei der Ausreise nur DM 10,- mitnehmen. Nachdem wir Mersina verlassen hatten, ging es Richtung Palästina.

ENDLICH „AUSGEBOOTET“

Nach einigen Tagen kam ein kleines Schiff, ein Fischerboot. Der Höhenunterschied vom Schiff zum Boot betrug ungefähr zwei Meter. Zwei Matrosen standen auf unserem Schiff und zwei auf dem anderen. Die zwei oben packten einen Mann, Frau oder Kind und warfen sie eins, zwei, drei, wie einen Sack Kartoffel, in die Arme der unteren zwei. Immer genau im Takt, weil das auf See war und der Abstand zwischen den beiden Schiffen regelmäßig breiter und schmäler wurde. Es ging ohne Verletzungen ab und die ersten hundert waren Familien und ältere Leute. Das wiederholte sich nun täglich, jeweils ca. hundert Menschen Wir Jugendlichen blieben bis zuletzt, wurden noch auf den nächstkommenden Transport verfrachtet und waren dann der erste Schub von diesem Schiff, „Braga“ genannt. Das Fischerboot trug den Namen „Artemissia“ und diente Wochen und Monate zum Ausbooten. Es näherte sich der Küste, wartete auf Lichtsignale in Ruderbooten. Jeweils acht Mann wurden so an „Land“ gebracht, das letzte Stück mußten wir in einem einen Meter tiefen Wasser waten. Bei dieser Aktion verloren mein Bruder und ich einen unserer beiden Ruck-säcke. Trotzdem waren wir sehr froh, wieder auf festem Boden zu stehen. Viele küßten die Erde, nicht alle aus Frömmigkeit, aber alle mit Erlösung und Berechtigung. Diese Ausbootung wurde durch den Englischen Kommandeur des naheliegenden Militärlagers ermöglicht, der den jüdischen Untergrund benachrichtigte, wann keine Strandpatrouillen waren. Derselbe ermöglichte es auch, Identitätskarten an illegale Einwanderer auszustellen. Das kostete ihn später seinen Posten.