Von Krems bis Palästina

Bericht von Markus Wolf, Mai 2008

Olly Salzmann (geb.Nemschitz) wurde am 15. April 1927 in Krems/Donau als drittes Kind von Stefanie und Josef Nemschitz geboren. Auf höchst abenteuerliche Art und Weise ist Olly, ihren Eltern sowie den Brüdern Bernhard (Abraham) und Fritz die Flucht nach Palästina gelungen. Der Rest der Familie wurde nach Theresienstadt deportiert und in Auschwitz ermordet.

„dort hat man sie alle durch den Rauchfang in den Himmel geschickt“ (Aussage Olly Salzmann)

Die Familie Nemschitz führte bis 1933 ein glückliches Leben in der Stadt Krems. Die Großeltern von Olly (Katharina und Jakob Sachs) führten ein Damenkonfektionsgeschäft. Der Vater Josef Nemschitz war als Handlungsreisender in der Textilbranche tätig, die Mutter war als gelernte Schneiderin im Geschäft der Großeltern tätig. So wie viele Juden war Familie Nemschitz stark verwurzelt in Krems und in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in Krems integriert. Olly berichtet: Ihr Vater sei ein leidenschaftlicher Fußballer gewesen und viele sportliche Erfolge für den Kremser Fußballverein gehen auf sein Konto. Die Familie wohnte in der Dinstlstraße 10 an der Ecke zur Ringstraße in Krems.

Meine ersten Erinnerungen sind die Landstraße, wo meine Großeltern das Geschäft hatten. Vis a Vis war ein kleines Beisl, da ist Großvater immer zum Gabelfrühstück mit einem Achtel Wein, einem Würstel und einem Wachauerlaberl gegangen. (Aussage Olly Salzmann)

Die jüdischen Feiertage waren immer eine Gelegenheit, wo sich die gesamte Familie eingefunden hat. An den hohen Festtagen besuchte die Familie die Synagoge, die sich unweit der Wohnung in der Dinstlstraße befand.

Zur Kremser Synagoge sei noch angemerkt: der Tempel überlebte unbeschadet die Tumulte in der Reichskristallnacht sowie die schweren Bombenangriffe 1945 und wurde einfach 1978 abgetragen. Nach dem Krieg gab es keine jüdische Gemeinde mehr in Krems. Heute erinnert lediglich eine Gedenktafel an die Synagoge von Krems.

Nach dem Kindergarten besuchte Olly die Volksschule am Hafnerplatz in Krems, während Ihre Brüder Bernhard (auch liebevoll Hardy genannt) und Fritz bereits in die Realschule auf der Ringstraße eingetreten waren. Meine Erinnerungen an Krems: Der Hof in der Dinstlstraße, dort habe ich mit einem Nachbarskind meines Alters, er hieß Kurti gespielt, das Strandbad, der Markt bei der Kirche, der Aufgang zur Piaristenkirche (Aussage Olly Salzmann)

Zu weiteren schönen Erinnerungen gehörten Ausflüge in die Umgebung von Krems, wie z.B. nach Göttweig, zum Jauerling oder in die Wachau nach Dürnstein und Mautern und nicht zu vergessen das Schwimmen in der Donau.

Diese unbeschwerten Jahre fanden ein jähes Ende 1933 – zu diesem Zeitpunkt gab es in Krems bereits viele Anhänger des Nationalsozialismus. Wirtschaftlich gesehen ging es bergab und die Familie musste in den Sommermonaten 1934 nach Wien übersiedeln. Die Familie mietete im 19. Bezirk (Ecke Heiligenstätterstraße und Barawitzkagasse) eine kleine Wohnung. Die Wohnung befand sich in einem einstöckigen Haus nebst einer Holzfabrik. Das Schuljahr 1934/35 begann für Olly bereits in der Volksschule in der Silbergasse. In die 2. Klasse eingetreten, musste sich Olly in der neuen Schule ein wenig umstellen. Während in Krems das Schreiben auf einer Schiefertafel mit einem Griffel in Korinthschrift gelehrt wurde, wurde in der Volksschule in Wien bereits mit Feder und Tinte ins Heft geschrieben, außerdem schrieb man hier schon mit Lateinbuchstaben. Mit ihren 7 Jahren ist Olly diese Umstellung nicht schwer gefallen. Nach der Volksschule absolvierte Olly eine Aufnahmeprüfung im Realgymnasium Unterbergergasse im 20. Bezirk.

13. März 1938 „Adieu liebe Kindheit“
Ich denke diese Worte beschreiben schon sehr eindeutig, welche dramatische Wendung sich nun im Leben von Olly und ihrer Familie vollzogen hat. Olly schreibt auch in Ihren Erinnerungen, dass sie beinahe ein halbes Jahrhundert versucht hatte, die Jahre von März 1938 bis September 1940 aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Über diesen Lebensabschnitt zu sprechen bzw. zu schreiben fällt ihr sehr schwer. An einem Tag sollte sich alles ändern – Olly wollte wie jeden Tag am 13. März 1938 zur Schule fahren. Dieses Mal sollte Olly von Ihrer Mutter zur Schule begleitet werden. Das Vorhaben der Mutter war für Olly sehr ungewöhnlich, da sie ja schon 11 Jahre alt war und den Schulweg immer alleine bestritten hatte. Mit der Schultasche am Rücken betrat Olly mit Ihrer Mutter das Stiegenhaus und dort kam es zu einer Konfrontation mit einer boshaften Nachbarin. „Aber Frau Nemschitz, Sie glauben doch nicht, dass es heute Schule gibt, und schon gar nicht für Juden, schließlich ist doch unser Führer endlich bei uns“, das waren die Worte der Nachbarin. Olly blickte ihre Mutter an und bemerkte, dass diese fassungslos war über die Aussage der Nachbarin. Trotz dieses schmerzhaften Erlebnisses machten sich Olly und Ihre Mutter auf den Weg zur Schule. Dort angekommen, mussten sie feststellen, dass an diesem Tag alles anders war als sonst. Die Tore zur Schule waren verschlossen und eine Menge von Schülern hatte sich vor der Schule versammelt. Eine der Schülerinnen erzählte Olly, dass eine Schulkameradin tot sei. Der Vater der Schülerin hatte mit seiner Familie Selbstmord begangen, indem er nachts den Gashahn aufgedreht hatte. Den Grund für dieses furchtbare Ereignis hatte sie nie erfahren, Olly vermutete, die Schülerin sei Halbjüdin gewesen oder der Vater war Sozialist oder Antinazi. Auf dem Weg nach Hause stellten Olly und ihre Mutter fest, die Stadt Wien hatte sich scheinbar über Nacht gewandelt – die Häuser waren mit Hackenkreuzfahnen beflaggt (noch heute führen viele Fahnen bei Olly Salzmann zu einem gewissen Unbehagen) und überall schrieen die Menschen „Heil Hitler“. Österreich hatte seine Eigenständigkeit verloren und wurde ins Dritte Reich als „Ostmark“ eingegliedert. Hetzparolen wie „Deutschland erwache – Jude verrecke“, waren nun zu hören. Olly schreibt in Ihren Erinnerungen: “ ich war schon nicht mehr Österreicherin, sondern eine „Saujüdin“ oder von kultivierteren Leuten wurde ich als ‚Nichtarierin‘ bezeichnet“

Anfang November 1938 gelang es den Brüdern von Olly (Abraham und Fritz) das Land zu verlassen, die Großeltern übersiedelten ebenfalls von Krems nach Wien und wohnten nun bei Olly und ihren Eltern. Seit September 1938 besuchte Olly nun die Hauptschule in der Währingerstraße. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurden sämtlichen Juden in Wien gezwungen ihre Wohnungen zu verlassen und mussten sich in den 2. Bezirk begeben. Dieses Schicksal machte auch vor Familie Nemschitz nicht halt. Olly erinnert sich an diese Wendung: eines Tages, als sie von der Schule heimkam, wurde die Familie aufgefordert binnen kürzester Zeit die Wohnung zu verlassen und in den 2. Bezirk zu übersiedeln. Die Familie musste alle Möbel zurücklassen. Olly bewohnte nun mit ihren Eltern und Großeltern und mit anderen Familien eine Wohnung in der Donaustraße im 2. Bezirk. Nun wurde die Familie wieder getrennt, nachdem bereits die beiden Brüder von Olly das Land verlassen haben, wurde der Vater von Olly in ein Arbeitslager gebracht – später hat die Familie erst erfahren, dass man ihn auch nach Dachau verlegt hatte. In der Wohnung teilten sich Olly, ihre Mutter und die Großeltern ein Zimmer. Diese Ereignisse gingen natürlich nicht spurlos an der Familie vorbei. Der Großvater von Olly (Jakob Sachs) wurde krank und starb am 06.03.1940. Er wurde noch in Wien am Zentralfriedhof beerdigt. Die weiteren Ereignisse zwischen November 1938 bis September 1940 sind Olly nur teilweise in Erinnerung, sie meint auch, sie habe eine kleine Gedächtnislücke, vieles hat sie erst Jahre später von Ihren Eltern erfahren. Der Onkel von Olly – Norbert Sachs (Bruder von Ollys Mutter) versuchte der Familie zur Auswanderung zu helfen. Norbert Sachs war Kriegsinvalide vom 1. Weltkrieg und dachte, das würde ihm einen gewissen Schutz bieten. Er erreichte die Freilassung von Ollys Vater aus dem Arbeitslager und somit konnte die Familie am 3. September 1940 aus Österreich fliehen. Norbert Sachs und seiner Familie sowie der Großmutter von Olly gelang es nicht mehr Österreich zu verlassen. Sie wurden nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert. Die Großmutter Katharina Sachs starb 1943 in Theresienstadt, Norbert, seine Frau Margit und die Tochter Judith starben 1944 in Auschwitz. Außerdem wurden ein weiterer Onkel von Olly, Karl Sachs und seine Frau Stefanie sowie eine Großtante, Rosa Kohn, in Auschwitz ermordet.

Flucht nach Israel – eine Odyssee
Im September gelangten Olly und Ihre Eltern sowie viele weitere Emigranten mit einem Donauschiff nach Pressburg (heutiges Bratislava). Dort warteten bereits viele weitere österreichische Emigranten, die in einem Lager (namens Patronka1)) stationiert waren. Das Schiff war extrem überfüllt – Olly meint, sie seien sich wie Sardinen in einer Büchse vorgekommen. Unter den Neuankömmlingen waren zwei Mädchen (Susi und Helli2)) gleichen Alters wie Olly, die drei Mädchen haben sich sofort angefreundet. Mit den neuen Freundinnen konnte Olly ein wenig den Alltag vergessen. In Rumänien machte das Schiff dann in Tulcea3) halt und den Emigranten wurde angekündigt, sie würden nun auf 3 „seetüchtige“ Schiffe aufgeteilt. Diese seetüchtigen Schiffe (die Milos, Atlantic und Pacific) erwiesen sich als wahre Wracks. Die Emigranten wurden daraufhin auf die Schiffe aufgeteilt. Olly, Ihre Eltern und die beiden Freundinnen kamen auf die Pacific. Nach 2 Tagen konnte die Fahrt Donau abwärts fortgesetzt werden. In Sulina4) ging es von der Donau weiter ins Schwarze Meer.

Olly erinnert sich an folgende Begebenheit: Wenn die See ruhig war riefen die Matrosen immer „abadie abadie“ – auf die andere Seite, keiner wusste was das genau bedeutete, aber wenn die Matrosen „abadie“ riefen mussten alle entweder nach links oder rechts laufen, um das Schiff vom umkippen abzuhalten. Oft befanden sich die Schiffe in wahrer Seenot – Olly erinnert sich: naiv, wie ich damals war, dachte ich als gute Schwimmern kann ich ja zum Ufer schwimmen. Die Schiffe gelangten über Istanbul durch das Marmarameer und den Dardanellen bis nach Rhodos. In Rhodos musste die Pacific anlegen, da die Nahrungsmittel bereits zur Neige gingen. Kaum hatte das Schiff am Hafen angelegt, kamen bereits private Händler und so mancher konnte eine teure Uhr gegen einen Laib Brot eintauschen. Olly tauschte ihre Füllfeder gegen eine Flasche Süßwasser ein.

Weiter ging die Reise nun von Rhodos in Richtung Mittelmeer. Dort angekommen brach am Schiff die Diarrhö aus und keiner an Bord war davon gefeit. Auch Olly wurde krank und war dadurch einige Tage sehr geschwächt. Das Leben am Schiff ging seinen Lauf und freudige Ereignisse wie die Geburt eines Kindes und eine Trauung ließen den Flüchtlingen ihre Situation etwas vergessen. Langsam erreichten die Schiffe die Küste von Palästina. Die englische Küstenpolizei (die Engländer hatten das Mandat der Regierung in Palästina zu dieser Zeit) versuchte die Schiffe am Anlegen zu hindern. Keiner der Emigranten hatte eine Einreisebewilligung – da nach internationalem Gesetz Schiffbrüchige aufgenommen werden mussten, hatte man versucht die Schiffe zu „verheizen“, um dadurch „schiffbrüchig“ zu werden. Die Küstenpolizei hat daraufhin das bereits brennende Schiff gestürmt und alle Passagiere von der Atlantic und der Pacific auf den großen Dampfer – die Patria – umgebootet. Alle Flüchtlinge sollten mit dem Dampfer ins Exil nach Mauritius gebracht werden. Olly und ihre Eltern sowie alle anderen Flüchtlinge waren der neuen Heimat „Erez Israel“5) so nahe, doch die Engländer hinderten die Flüchtlinge an Land zu gehen.

Olly erinnert sich: wir wollten doch nur ein neues zu Hause finden und außerdem meine Brüder wieder sehen, die bereits in Israel angekommen waren.

3 Wochen mussten Olly und ihre Eltern mit den anderen Flüchtlingen auf der Patria ausharren. Der Dampfer hatte zwar „Luxus“ wie Waschräume, richtige Schlafplätze, genug Trinkwasser und Nahrungsmittel geboten, aber alle waren traurig und enttäuscht. Die Hafenstadt Haifa war nur mehr 1 km entfernt und doch war das lang ersehnte Ziel soweit wieder in die Ferne gerückt. Nachdem das dritte Schiff, die Milos, ebenfalls die Küste erreicht hatte, wurden auch diese Neuankömmlinge auf die Patria verlegt, um alle nach Mauritius zu verschiffen. Der Alltag auf der Patria nahm seinen geregelten Lauf, bis zum 25. November 1940. Der Tag begann wie immer mit dem morgigen Ritual, waschen und Zähne putzen und dann aufs Deck. Ordnung musste sein und diese strickte Tagesordnung hatte Olly und ihren Eltern schließlich auch das Leben gerettet. Ein dumpfer Knall ereignete sich gegen 9 Uhr Früh und sofort begann das Schiff zu kippen.

Um die Verschleppung ihrer Kameraden zu verhindern, schmuggelte die jüdische Widerstandsgruppe Haganah6) Sprengstoff an Bord der „Patria“. Das Schiff sollte seeuntüchtig gemacht werden. Am 25. November 1940 morgens gegen neun Uhr erschütterte eine gewaltige Explosion den Hafen von Haifa. Die Haganah hatte die Menge des Sprengstoffs falsch berechnet.

(Quelle: http://www.hagalil.com/archiv/2000/11/patria.htm) Olly und ihre Eltern befanden sich zu diesem Zeitpunkt an der Reling die nach oben kippte, die Passagiere auf der anderen Seite sanken ins Wasser. Olly und ihre Mutter kletterten daraufhin über die Reling und konnten das Wasser erreichen und in Richtung Küste schwimmen, wo sie dann von einem Rettungsboot aufgenommen wurden. Es gab nur ein Problem, Ollys Vater war Nichtschwimmer. Schließlich wurde auch Ollys Vater mit einem Rettungsboot an die Küste gebracht. Binnen einer viertel Stunde lag das komplette Schiff auf einer Seite. Auf der Patria befanden sich ca. 3000 Passagiere, der Untergang kostete 240 Menschen das Leben. In Haifa angekommen, wurden Olly und ihre Familie sowie die anderen Flüchtlinge von der englischen Küstenpolizei in einem Lagerhaus eingesperrt. Daraufhin brachte man alle mit einem streng bewachten Konvoi von Autobussen in das Internierungslager „Atlit“7). Ein Teil der Flüchtlinge wurde dann trotzdem nach Mauritius abgeschoben. Olly, ihre Eltern und die beiden Freundinnen hatten Glück und konnten in Israel bleiben. Diese lange Odyssee endete schließlich im Juli 1941, wo Olly und ihre Mutter freigelassen wurden. Der Vater wurde 1942 aus dem Lager entlassen. Ein neuer Lebensabschnitt begann nun für Olly und ihre Familie in einer neuen Heimat. Olly lebt heute 81jährig mit ihrer Familie in Kfar Sava, einem Vorort von Tel Aviv. Olly übte bis zu ihrem 70. Geburtstag den Beruf als diplomierte Krankenschwester aus und war dann noch weitere 5 Jahre voluntarisch im Krankenhaus tätig.

Anmerkung:
1) Patronka ˆ Lager in Pressburg, ehemalige aufgelassene Patronenfabrik 2) Tulcea ˆ Stadt in Rumänien und Hauptstadt des gleichnamigen Bezirkes Tulcea 3) Der Kontakt zu den beiden Mädchen ˆ Susi und Helli ˆ konnte weitergeführt werden 4) Sulina ˆ Stadt in Rumänien, Donaudelta zum Schwarzen Meer 5) Erez Israel ˆ Heiliges Israel 6) Hagana (hebr. ˆ die Verteidigung) zionistische paramilitärische Organisation in Palästina während des britischen Mandats (1920-1948) 7) Atlit ˆ kleine landwirtschaftlich geprägte Ortschaft südlich von Haifa

Quellenverweis: Schilderungen Olly Salzmann http://www.judeninkrems.at/ http://www.hagalil.com/archiv/2000/11/patria.htm

Ich bin dankbar, über die Organisation „letter-to-the-stars“ Olly Salzmann kennen gelernt zu haben. Die Geschichte von Olly und ihrer Familie hat mich sehr berührt und es ist mir ein großes Anliegen, dass diese Geschichte so wie die vielen anderen Lebensgeschichten und Schicksale der Opfer und Überlebenden des Holocaust nie in Vergessenheit geraten.

(Anmerkung Markus Wolf)