Robert Streibel: Nachwort
Robert Streibel: Nachwort
Ich lernte Anna Lambert durch einen Brief kennen, es war eine Antwort auf ein Rundschreiben an alle vertriebenen Kremser Juden. Ihre Antwort war mit Maschine geschrieben, ihre Unterschrift zittrig. Nicht ganz eine Seite hatte sie sich abgerungen, denn die Hand wolle nicht mehr so richtig und die Schreibmaschine hätte sie auch schon lange nicht mehr bedient, merkte sie an. Ein Kampf für eine Seite. Doch zwischen den Zeilen Humor und ein starker Wille, sich doch nicht von den Nebenerscheinungen des Alters unterkriegen zu lassen.
Anna Lambert nahm, soweit es ihre Kondition zuließ, brieflich regen Anteil an meiner Forschungsarbeit über die Juden von Krems, sie munterte mich auf und schickte mir schließlich ein englischsprachiges Manuskript: den Beginn ihrer Erinnerungen. Vor einigen Jahren habe sie begonnen, ihr Leben für ihre Kinder aufzuschreiben, ihre Kinder sollten wissen, woher sie kämen, wie sie ins Land gekommen seien, denn einmal werde sie nicht mehr sein, und dann werde niemand mehr fragen können.
Erinnerungen an Krems, eine Abrechnung mit ihrem Vater. Nach der ersten Lektüre war ich verunsichert. Samuel Kohn schlägt seine Frau, tyrannisiert die Familie. In der Erinnerung von Anna war ihr Vater ein seelischer Jekill und Hyde. War diese Demaskierung eines Angehörigen der verfolgten jüdischen Bevölkerung der niederösterreichischen Kleinstadt statthaft oder Wasser auf die Mühlen Unverbesserlicher?
Nach einigen Monaten und meiner Frage, ob es zu diesen Erinnerungen auch noch eine Fortsetzung gäbe, schickte mir Anna die Geschichte ihrer Flucht nach England, eine in Rückblenden geschriebene Erinnerung. Den dritten Teil ihres Lebensberichtes über ihre Ausbildung zur Krankenschwester und Hebamme und ihre Arbeit als Bezirkskrankenschwester bekam ich erst viel später, bei meinem Besuch in Poole, in England.
Die Fortsetzung von Annas Leben in England kannte ich allerdings in groben Zügen bereits vor meinem Besuch bei ihr. Abraham Nemschitz, entfernt verwandt mit Anna Lambert – seine Großmutter und der Vater von Anna waren Geschwister – hatte mir geschrieben, erzählt, angedeutet und von verschiedenen Besuchen bei Anna berichtet.
Nach der Lektüre des zweiten Teils der Erinnerungen, der oft nur angedeuteten Geschichte der Kinder in England. stellte sich für mich die Frage, was wohl aus dieser „Familie“ geworden war? Würden sich die Kinder erinnern können, von ihrem Schicksal, dem sie entronnen sind, wissen?
Es dauerte zwei Jahre, bis ich Anna persönlich kennenlernen sollte. Anna besuchte damals mit ihrem Sohn und dessen Tochter ihre alte Heimat. Eine Wiederbegegnung mit der Heimat im Alter von 82 Jahren.
Gemeinsam fahren wir nach Krems, besuchen Annas Bruder Hans. Die Geschwister haben, hoch gerechnet, höchstens acht Jahre gemeinsam verbracht. Die Mutter starb, der jüngere Bruder Richard kam in ein Waisenhaus, Hans ging als Goldschmied in Wien in die Lehre, Rosi war als Kindermädchen in Ungarn. Und Anna zerstritt sich mit dem Vater, verließ Krems, heiratete in Wien und zog zu ihrem Mann nach Bad Vöslau. Es gab einige kurze Begegnungen bei Besuchen Annas in Krems. Das letzte Treffen mit Hans fand 1938 statt, als die Nazis bereits im Land waren.
Hans lebte damals in Krems mit seiner Frau Melanie zusammen, die ein Kind erwartete. Als Melanie in den Wehen lag, wollte ein SA-Mann Hans abholen, es kam zu einem Streit und zu Handgreiflichkeiten. Die Erinnerung der beiden Überlebenden unterscheidet sich in Nuancen. Hans berichtet, er habe zur Hacke gegriffen, den SA-Mann bedroht und damit in die Flucht geschlagen. Anna erzählt von einem Streit, bei dem der SA-Mann über die Treppe gestoßen worden sei.
In dieser Nacht war Anna jedenfalls zum letzten Mal in Krems. Gemeinsam mit dem Vater und Melanie überredete Anna ihren Bruder Hans zur Flucht aus Krems. Hans erfuhr von der Geburt seines Sohnes erst, als er bei einem Bauern in Oberösterreich Zuflucht gefunden hatte. Nach einigen Wochen holte ein Dorfgendarm Hans aber auch von dort ab, die Fahrt ging über Linz ins Konzentrationslager nach Dachau. Durch einen Zufall oder eine Verwechslung wurde Hans aber wieder freigelassen, die näheren Umstände bleiben für die Betroffenen ein Rätsel.
Anna floh mit ihren beiden Kindern nach England, Hans bekam ebenfalls ein Visum für England und arbeitete dort auf einer Farm. Obwohl die Geschwister nun im selben Land Zuflucht gefunden hatten, kam es nur zu seltenen gegenseitigen Besuchen, einige Bilder im Fotoalbum von Anna erinnern daran: Hans mit den beiden Kindern Freddy und Kurt.
Kurt, der ältere Sohn Annas, erinnert sich an diese Begegnungen: „Einmal hat es geheißen, der Onkel Hansi kommt. Gekannt haben wir ihn nicht, aber ich dürfte gefühlt haben, wie viel dieses Treffen meiner Mutter bedeutet hat. Ich weiß noch, wir sind ihm auf der Straße entgegengelaufen. Ein Bild, das ich heute noch vor mir sehe.“
Hans kehrte 1947 nach Krems zurück, Hans und Anna blieben Geschwister auf Distanz. Sie wechselten regelmäßig Briefe, es kam zu wenigen Besuchen in regelmäßigen Abständen im Lauf der Jahrzehnte.
Nun, im Sommer 1990, kam es in Krems zu einem weiteren Wiedersehen der Geschwister. Gemeinsam spazierten wir durch die Stadt. Anna erinnert sich: „Dort war die Kanzlei des Dr. Adler, am Ende dieser Gasse stand das Haus, in das mein Vater 1938 alle seine Habseligkeiten bringen musste, weil er aus seiner Wohnung in der Schwedengasse ausziehen musste. Die Nazis hatten angedeutet: Eine Jude im Haus, Herr Billek, wie sieht das aus?‘ Der Hausherr in der Schwedengasse reagierte prompt.“
Anna und Hans sind nicht mehr die jüngsten. Langsam tasten sie sich die Landstraße vor, sie erscheint ihnen so lange wie damals, als sie als Kinder um Semmeln liefen. In ihrer Erinnerung existieren noch die alten Zuckerbäcker, Gasthäuser und Textilgeschäfte, Namen, die heute den wenigsten Einheimischen etwas sagen. Dieser Spaziergang ist Vergangenheit pur, Trauer über den Verlust, Wut über die „Besudelung“ durch die Nazis. Eine Szene jedoch ohne Pathos.
Kurz bevor wir das Steinertor erreichen, biegen wir in die Schwedengasse ein, wo das Haus stand, in dem Anna gewohnt hat. Im Erdgeschoss befand sich einst das Caffe Billek, wo der Vater jeden Abend und manchmal bereits am Nachmittag saß.
Anna steht vor dem Elternhaus: ein Foto. „Ach, die Nachbarn, das waren auch Nazis“, hat sie schon vor zehn Minuten festgestellt. Ein Mann lehnt am Fenster. Eine Gesprächsanknüpfung auf offener Straße. „Können Sie sich vielleicht an diese Frau erinnern?“ Sie komme ihm schon bekannt vor, meint der Mann im Fenster, ob sie nicht vielleicht „eine Kohn“ sei? Der Samuel Kohn habe doch bei seinem Vater in der Fleischhauerei geschächtet.
Anna beteiligt sich, soweit sie mit ihrem Hörapparat die Nebengeräusche der vorbeifahrenden Autos ausschalten kann, an der Konversation. Als wir wieder gehen, meint sie im Weggehen: „Ein netter Mensch, wer war das?“ Es ist ein Sohn jener Familie, die „auch alle Nazis waren“, erinnere ich Anna. „Na sowas, das hätte ich nicht geglaubt, so ein netter Mensch.“
Nach Erscheinen meines Buches „Plötzlich waren sie alle weg“, sichte ich jene Unterlagen, die nicht mehr in das Buch über die Kremser Juden aufgenommen hatten werden können. Die Erinnerungen von Anna sind darunter. Sie sind lückenhaft, die fehlenden Lebensabschnitte müßten durch Interviews ergänzt, Details geklärt werden. Ich rufe in Poole an. „Ich komme nächste Woche, wenn Sie wollen“. „Kommen Sie!“, ist ihre Antwort, so als hätte Anna auf meinen Besuch seit Jahren gewartet. Einige Tage später vergewissert sich ihr Sohn nochmals. Die Mutter habe von einem Telefonat erzählt, wann ich denn kommen wolle, alle würden sich freuen.
Wenige Tage später, Ende November 1991, reise ich also nach Poole. Kurt und Freddy holen mich ab, gemeinsam besuchen wir Anna, die in einer Wohnhausanlage für Senioren lebt. Überzeugungsarbeit für mein Projekt muss fast keine geleistet werden. Einige Ausflüchte: „Aber mein Leben ist doch uninteressant, ich glaube nicht, dass das wirklich ein Buch wird.“
Die Arbeit hat begonnen. Die Annäherung an die Geschichte von Annas Leben. Die Rollen in den folgenden dreieinhalb Tagen wechseln wie die Sitzgelegenheiten. Dreieinhalb Tage Interview. Schaukelstuhl, Fauteuil, Bank oder Sessel. Frage, Erzählung, Kommentar.
Am Schluss der Interviews sind wir bei Annas unglücklichen Lieben angelangt. Phasenweise sind Anna und ihre beiden Söhne gemeinsam dem eigenen Leben auf der Spur. Entdeckungen im Dreiergespräch.
In den mehr als fünf Jahren, in denen Anna ihre Ausbildung zur Krankenschwester und Hebamme absolvierte, waren die Kinder bei Pflegeeltern und in Internaten untergebracht. Manchmal waren Besuche nur in Abständen von drei Monaten möglich. Für den Älteren, Kurt, war diese Zeit besonders schlimm, denn er hatte in Österreich schon ein normales Familienleben erlebt. Auf den Bildern im Familienalbum sieht man Kurt die Lebensumstände dieser Jahre an. Erst 1945 lachte er wieder. Dieses Jahr hatte nicht nur die weltpolitische Entscheidung gebracht, sondern es Anna auch ermöglicht, nachdem sie als Bezirkskrankenschwester in St. Osyth begonnen hatte, ihre Kinder zu sich zu holen. „Wir waren wieder eine Familie“.
Über die Situation in den Internaten will Kurt nichts erzählen, es käme ihm vor wie eine unzulässige Beschmutzung des Landes und seiner Werte. „Uns wurde so viel geholfen in diesem Land, es wäre nicht richtig, darüber zu sprechen.“ Es bleibt vorerst bei Andeutungen. Die Härte des britischen Erziehungssystems ist sprichwörtlich.
Als Freddy zum Interview in Annas Wohnung kommt, ist eine seiner ersten Fragen an Kurt, ob er auch die Geschichten vom Internat erzählt habe. Freddy sieht einige Szenen vor sich, als ob es gestern gewesen wäre: „Wenn jemand ausgerissen ist oder gegen die Regeln des Hauses verstoßen hat, ist es zu öffentlichen Disziplinierungen gekommen. Im Schulhof standen die Kinder im Quadrat, der Delinquent in der Mitte.“ Die Prügelstrafe als Schauspiel, auch Schläge mit dem Schlüsselbund sollen keine Seltenheit gewesen sein.
Anna sind diese Szenen neu: „Das habt ihr mir nie erzählt, das höre ich heute zum ersten Mal, ich habe nie gewusst, wie schwer euch das Leben in den Internaten gefallen ist.“ Kurt meint zu dieser „Verschwiegenheit“: „Wir wussten, wie schwer es unserer Mutter fiel, wir wollten sie nicht belasten, und als alles vorbei und wir wieder eine Familie waren, war dieses Kapitel abgeschlossen, warum daran rühren?“
Die Erinnerungen an den Vater sind bei Kurt aufgesplittert auf einige wenige Szenen: eine Fahrt in der Nacht auf dem Kindersitz des Fahrrades, während in der Ferne ein Zug vorbeifährt und die Funken sprühen; das letzte Weihnachtsfest in Österreich mit einem Spielzeugpanzer, der ebenfalls Funken sprühte; und dann der Einmarsch der deutschen Truppen, bei dem überall gelbe Flugblätter durch die Luft wirbelten. Für Kurt in der Erinnerung ein lustiges Bild. Es war der Vater, der den verstörten Dreijährigen zurückriss, als er eines der Flugblätter erhaschen wollte, so energisch, als würde er in den Schmutz oder Kot greifen.
Anna zeichnet sich heute nicht nur durch den Mut, ihr Leben im Alter nochmals mit der Heimat zu konfrontieren, aus, sondern auch durch die Haltung der Chronistin, die zumindest für die eigene Familie ihr Leben aufzeichnen wollte.
Diese Haltung ist ein Versuch, mit dem Leben fertigzuwerden. Anna trug ihre Vergangenheit mit sich, und nicht nur in Form ihrer Erinnerungen und ihrer Fotos. Das Hauskleid, das sie sich anfertigen ließ, und das dem ihrer Mutter glich, ersetzte den Verlust der Geborgenheit in der Familie, die einzig durch die Mutter verkörpert wurde. Der frühe Tod der Mutter war für die 16-jährige ein Schock, der sie auf sich alleine zurückgeworfen hatte. Rückblickend ist Anna heute entsetzt, wie wenig sie über ihre Geschwister und deren Leben sagen kann. Auf den Boden blickend, nicht nach links und rechts schauend, so beschreibt Anna ihren Gang zum Friedhof. Der Weg zum jüdischen Friedhof ist somit typisch für die persönliche Situation und Annas Verhältnis zur Umwelt. Erst die Bekanntschaft mit Franz lässt sie aus ihrem Gefängnis aus Trauer und Unglück ausbrechen.
Die eigene verlorene und früh vermisste Geborgenheit will Anna mit Franz ihren Kindern bieten. Vielleicht war es gerade das Wissen um die eigene Geschichte, das sie besonders hellhörig und sensibel machte für Entwicklungen, die den möglichen Verlust dieser Gemeinsamkeit bedeuten konnte. Diese Angst ließ sie auch die Kraft aufbringen, gegen den Willen ihres Mannes, die Ausreise mit zwei Kleinkindern zu betreiben.
Nachdem Anna in St. Osyth beruflich Fuß gefasst hatte, ordnete sie ihre Familienfotos. Das erste Fotoalbum beginnt programmatisch, über der ersten Seite steht in weißer Tinte geschrieben „My Mother“. Zu sehen sind zwei Bilder der Mutter im Alter von 10 und 19 Jahren, selbst die verblassenden Fotografien lassen die Schönheit der Frau erahnen.
Die zweite Seite, „My Father“, zeigt ein Passbild, den schlafenden Vater auf der Ofenbank, den Vater mit seiner Kakteenzucht sowie zwei Aufnahmen von blühenden Kakteen. Die Szenen, in denen der Vater im Fotoalbum präsentiert wird, lassen nichts -können auch nichts -von den Konflikten vermitteln, die das Leben der Mutter und der Kinder geprägt haben; es ist alleine die Präsenz des Vaters, die symbolisch für die Allgegenwart durch die Jahrzehnte steht. Den Hass auf den Vater nahm Anna selbst noch nach England mit. Im Zusammenhang mit diesen Vaterbildern sind es zwei Bilder in ihren Fotoalben, die eine andere Kontinuität andeuten. Die Erklärung zu den Detailaufnahmen von zwei blühenden Kakteen lieferte Anna im Interview, ein Kaktus gehörte ihr. Die einzige gemeinsame Unternehmung von Vater und Tochter sei das Heraus- und Hereinholen der Kakteen vom Blechdach gewesen. Jahrzehnte später steht in Annas Haus in St. Osyth wieder ein Kaktus in der Veranda. In ihrer kleinen Wohnung in der Schwedengasse in Krems war es nur ein Blechdach gewesen, das zum Garten umfunktioniert wurde, in ihrem Haus in St. Osyth und im Haus des Sohnes, mit dem sie lebte, verwendete Anna jede freie Minute für die Gestaltung des Gartens. Den Gedanken, dass die Liebe zu Blumen und Kakteen eigentlich durch ihren Vater beeinflusst sein musste, wollte Anna im Interview nicht gelten lassen.
Die Neuordnung der Fotos wird für Anna zu einer Rekonstruktion der eigenen Familie, eine Form der versuchten Wiedergutmachung für ihre Verschlossenheit gegenüber den Geschwistern, denen sie zwei eigene Alben widmet Über die von den Nazis ermordete Schwester Rosi findet sich nur einige wenige Fotos, von den Besuchen im Haus im Bad Vöslau, eine Aufnahme im Badeanzug und Passbilder Für Richard, der 1933 nach Palästina ausgewandert ist, ha Anna markante Lebensabschnitte dokumentiert, die Arbeit im Kibbuz und die Besuche von Richard bei Hans in Krems.
Für die Geschwister Anna, Hans, Rosi und Richard ist somit das Fotoalbum der einzige Ort, in dem sie zusammen sind. In diesen Fotoalben sind auch Annas Söhne in jenes fünf Jahren präsent, in denen die Familie durch die Schwesternausbildung getrennt war und Besuche nur einige Mali im Jahr möglich waren.
Die Bilder aus diesen Jahren, die die Söhne in den verschiedenen Internaten und bei Gastfamilien zeigen, waren keine Selbstverständlichkeit und eine Folge von Anna couragiertem Auftreten. Anna musste wie alle Ausländer bei Ausbruch des Krieges vor einer Kommission erscheinen, wo sie über ihr Leben und ihre Beziehungen zum Ausland befragt wurde, da Personen aus dem „feindlicher Ausland“ in der Regel interniert wurden. Vor dieser Befragung hatten Freunde Anna eingeschärft, weder den Briefkontakt mit ihrem Mann, der über Holland lief, noch der Fotoapparat zu erwähnen. „Ich hatte mir fest vorgenommen dieses Gebot zu befolgen, aber dann brachte ich es nicht fertig, ich konnte nicht lügen.“ Im Laufe des Gespräche; wurde Anna mitgeteilt, dass sowohl der Briefkontakt als auch der Besitz des Fotoapparates aktenkundig seien. De: eindringliche Appell, dass sie den Fotoapparat brauche, und ihre Kinder zu fotografieren, die sie nur alle drei Monate besuchen könne, dürfte die Kommission überzeugt haben Anna behielt ihren Fotoapparat, durfte aber nur Aufnahmen vor einem neutralen Hintergrund machen. Angesichts dieser Vorgeschichte ist es verständlich, dass Anna – auch wenn das Geld damals knapp war – einen Freund beauftragte, professionelle Bilder von der endgültigen „Vereinigung“ mit ihren Söhnen 1945 zu machen.
Die Fotoalben waren der erste Schritt, Unwiederbringliches zumindest durch Anordnung und mit der Hilfe von Fotoecken und Kleber zusammenzufügen, die Niederschrift ihrer Erinnerungen Ende der siebziger Jahre waren eine konsequente Fortsetzung.
Ausgenommen von dieser Neuordnung ihrer Familienbilder wurden lediglich jene Aufnahmen, die Anna an ihren Mann Franz erinnern. Die Fotos, die sich von Franz‘ Auftritten als Akrobat angesammelt hatten, gab Anna der Vernichtung preis. Nur das Hochzeitsbild, einige Bilder von Ausflügen und Bilder von Franz mit den Kindern bewahrte Anna.
Annas Verhältnis zu Österreich ist am treffendsten als Hassliebe zu bezeichnen. Diesen Teil ihrer Geschichte kann sie nicht streichen, sie ist als Österreicherin geboren, auch wenn sie nicht stolz darauf sein kann. Anna wurde „very british“ und konnte sich im kleinen Dorf St. Osyth als Bezirkskrankenschwester behaupten. Die britische Königsfamilie wurde ihr zu einem selbstverständlichen Bestandteil ihres Lebens, wie für Briten. Die Apanagen der Königsfamilie sind Anna keine Diskussion wert, denn die Queen arbeite hart für ihr Geld und das Land würde sich nichts ersparen, wenn es die Familie nicht gäbe, dann sässen eben andere in den Schlössern… Um ein Telegramm von der Königin zu bekommen, will Anna jedoch nicht erst 100 Jahre alt werden müssen, wie ihre Nachbarin im Wohnheim in Poole, denn am liebsten, sagt sie, wäre sie schließlich seit zehn Jahren tot. Anna hat einen missglückten Selbstmordversuch hinter sich, und als sie mit 80 Jahren erfuhr, dass sie Krebs habe, setzte sie in die Operation in ihrem 84. Lebensjahr die Hoffnung, doch noch friedlich einschlafen zu können. Sie war sich sicher, dass ihr Herz das nicht aushalten würde, berichtet sie. Dass sie sich vor der Operation noch auf einen Einkaufsbummel begab, um einen langersehnten Schaukelstuhl zu bestellen, erwähnt sie nicht in ihrer Erinnerung, erst im persönlichen Gespräch. Ich frage angesichts dieser scheinbaren Unstimmigkeit vorsichtig: „So sicher kannst du doch nicht gewesen sein, dass du sterben würdest. Wer braucht schon einen Schaukelstuhl, der erst nach dem Sterben geliefert wird?“ Anna lächelt, sie ist nicht böse, dass ich nachhake: „Konnte ich mir sicher sein? Dass es für das Sterben keine Sicherheit gibt, hatte ich schon erfahren müssen. Der Schaukelstuhl sollte eine Belohnung für die Zeit danach sein, wenn es nicht klappen würde.“
Der zweite Panzer von Anna sind ihre schriftlichen Erinnerungen. Einmal von der Seele geschrieben, stellen sie eine Variante der subjektiven Wahrheit dar, damit ist das Kapitel ihres Lebens aufbewahrt, abgeschlossen. Nach dem Schluss noch fortzusetzen ist vielleicht bei Briefen möglich, aber im täglichen Leben? Annas Geschichte nach dem ersten Versuch, aus dem Leben zu scheiden, und der vergeblichen Hoffnung auf einen „glücklichen“ Ausgang der Operation, ist das erste Postskriptum ihres Lebens. In diesem Sinne war das Interview das zweite Postskriptum. Kein Zusatz, um in übergroßer Eile Vergessenes nachzutragen, wie im Falles eines Briefes. Das Interview brachte Stimmungen, Details, Variationen ihres Lebens zutage. Diese Passagen wurden an den entsprechenden Stellen in den biographischen „Urtext“ Text eingefügt. Wo im ersten Manuskript mitunter nur ein lapidarer Satz stand, werden nun Szenen lebendig.
In Dokumenten hat sich Annas Leben nur schlaglichtartig niedergeschlagen; da ein Geburtszeugnis, dort eine Arbeitsbestätigung, einige Postkarten und Briefe. Von ihrem Mann Franz erhielt Anna bis 1944 Rot-Kreuz-Nachrichten, danach riss dieser Kontakt ab. Nach zwei Jahren der Ungewissheit bat Anna Ende 1945 den befreundeten Rechtsanwalt Dr. Julius Hahn in Baden, etwas über das Schicksal ihres Mannes herauszufinden. Der Briefwechsel mit Dr. Hahn umfasst 16 Briefe vom Jänner 1946 bis zum Oktober 1949. Die Dokumentation des „Verlusts des Lebenstraums“, wie Anna die Erkenntnis beschrieb, dass ihr Mann an einer Weiterführung der Ehe nicht interessiert war und jedes Interesse an seinen Kindern verloren hatte. Die Gewissheit einer Trennung in 16 Briefen, in denen nicht nur auf persönliche Ängste, Hoffnungen und Befürchtungen Bezug genommen wird, sondern auch die praktischen Probleme der ersten Nachkriegsjahre Eingang gefunden haben.
Am 4. Jänner 1946 kann Dr. Hahn Anna mitteilen, dass „Ihr Gatte gesund ist und in Bad Vöslau in seinem Hause lebt… er hat alle Gefahren glücklich überstanden.“ Die Tatsache, dass sie seit 1944 keine Antwort bekommen habe, sei nicht verwunderlich, da ja „alle Verbindungen bis vor kurzem abgeschnitten (waren).“ Die Zuversicht Dr. Hahns, dass die beiden Ehepartner zusammenkommen würden, ist wenige Monate später einer Beunruhigung gewichen. „Auf Schreiben gibt mir Ihr Gatte keine Antwort“, selbst der Versuch des Sohnes des Rechtsanwaltes, direkt vorzusprechen, blieb ohne Erfolg: „… er ließ sich verleugnen, mit einem Wort, er weicht mir aus.“ Dr. Hahn bedauert es, „dass Ihre Ehe auf diese Weise ein Ende nimmt“, das Verhalten von Franz sei für ihn unverständlich, er habe „oft und oft während der Kriegszeit mit ihm über Sie und Ihre Kinder gesprochen und er hat nie zu erkennen gegeben, dass da etwas nicht stimmt.“ Monate später, als die Scheidungsklage bereits eingebracht ist, sendet Anna alle Briefe, die sie von Franz bekommen hat, an ihren Rechtsanwalt. Bei der Lektüre dieser Briefe, die bei den verschiedenen Übersiedlungen in der Zwischenzeit verloren gegangen sind, meinte Dr. Hahn: „Wenn man diese Briefe durchliest, die letzten noch vom Jänner 1944, wo auch schon die verbissensten Nazis die Aussichtslosigkeit ihres Krieges einsahen und Ihr Gatte daher wissen konnte, dass die Trennung zu Ende geht, so versteht man seine plötzliche Abneigung wirklich nicht.“ Im Mai 1946 begann Dr. Hahn die Formalitäten für eine Scheidung zu erläutern. Zu einer Aussprache zwischen Dr. Hahn und Franz kam es nicht, da „er sich scheut, zu mir zu kommen“. Die Schneiderwerkstätte in Baden sei „vollständig ausgeplündert und gesperrt“, während das Haus in Vöslau, in dem Franz jetzt sein Gewerbe, die Schneiderei, ausübe, in Ordnung sei.
Von einer Scheidungsklage riet Dr. Hahn zum damaligen Zeitpunkt ab, da erst in „einigen Wochen… ein Gesetz bezüglich der arisierten‘ Häuser, womit alle Übertragungen während der Nazizeit für ungültig erklärt werden“ erscheinen werde. Im Fall des Hauses von Anna und Franz sei an Hand dieses Gesetzes „der besondere Tatbestand“ zu prüfen.
Ob Anna tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hatte, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, lässt sich nicht eindeutig sagen – im Interview verneinte sie solche Überlegungen -, Dr. Hahn gab 1946 jedenfalls zu bedenken: „Mit dem Herüberkommen müssen Sie sich noch Zeit lassen, da Sie hier kein Quartier finden und auch keine Verpflegung… Den Zutritt in sein Haus wird Ihnen Ihr Gatte sicherlich verweigern und auch die Polizei kann Ihnen dabei nicht beistehen, da sich die Polizei in Privatsachen nicht einmischen kann. Auch würde ein eventueller handgreiflicher Übergriff Ihrerseits Ihre Stellung nicht verbessern… Zu erwägen ist auch, ob Sie mit Ihren Kindern nach Österreich wieder zurück müssen oder ob Sie in England bleiben können.“
Nach Annas prompter Antwort bereitete Dr. Hahn noch im Mai die Ehescheidungsklage vor. Die Nachforschungen nach der Lebensgefährtin von Franz ergaben, dass die Frau erst mit 3. Oktober 1945 in das Haus nach Bad Vöslau übersiedelt war. Als Dr. Hahn Anna dies mitteilte, konnte sie noch immer nicht glauben, dass ihr Mann kein Interesse an seinen Kindern mehr hätte und ließ ihm auch durch Dr. Hahn Bilder ihrer Söhne zukommen. Bezüglich der rechtlichen Klärung der Vermögensteilung riet Dr. Hahn, „wenn Sie die Kosten nicht scheuen… die Klage auf Rückübertragung zumindest der halben Liegenschaft“. Das Wiedergutmachungsgesetz würde soeben im Parlament verhandelt werden, aber es würde noch einige Zeit dauern, da das Gesetz auch vom alliierten Kontrollrat genehmigt werden müsse. Da der Zahlungsverkehr zwischen England und Österreich noch nicht funktionierte, bat Dr. Hahn als Ersatz für sein Honorar um zwei Lebensmittelpakete.
Die Scheidungsklage zog sich jedoch in die Länge, da „das Kreisgericht Wr. Neustadt wegen Mangel an Richtern seine Tätigkeit in Zivilrechtssachen eingestellt“ hatte. Auch beim Postverkehr mit England ließ eine Normalisierung auf sich warten. Die Nachricht, dass ab Juni die Paketpost mit England möglich sein würde, hatte sich als „verfrüht“ herausgestellt. Da auch im August 1946 noch keine Pakete befördert wurden, Anna aber drängte, ihren Rechtsanwalt für die geleistete Arbeit entlohnen zu können, bat sie Dr. Hahn, „mir ein oder zwei Farbbänder 13 mm für eine Underwood Schreibmaschine zu senden…, da hier Farbbänder fast nicht zu bekommen sind.“
Für die Nachforschungen nach der deportierten Schwester Rosi sah Dr. Hahn keinerlei Chancen. „Wir sind hier zu einflusslos, da könnten Sie nur durch Ihre Vertretungen in England Nachforschungen pflegen lassen. Ein Schreiben von hier aus findet keine Beachtung.“ Da eine Wiederaufnahme der Gerichtstätigkeit in Wr. Neustadt nicht abzusehen war, suchte Dr. Hahn „um Übertragung des Scheidungsprozesses nach Wien“ an, wo er am 7.2.1947 stattfinden sollte. In Gang kam nun offenbar auch die Paketpost, denn Anna kündigte die Übersendung eines Paketes, in dem sich unter anderem auch Kakao befand, an.
Die Verhandlung ging zu Annas Gunsten aus, Franz hatte die in der Klage angeführten Angaben „über sein liebloses Verhalten Ihnen gegenüber zugegeben… bei der Verhandlung selbst war er sehr kleinlaut und hat gegen Sie keinerlei Beschuldigungen erhoben, berichtete Dr. Hahn. Das angekündigte Paket mit Kakao erreichte Österreich allerdings nie, statt dessen bat Dr. Hahn, sofern die Möglichkeit bestünde, um Übersendung „eines Hemdes Nr. 40 oder 41 Halsweite, von Socken Nr. 42/43, Damenstrümpfe oder Knickerbockerstrümpfe Nr. 45.“
Der März 1947 brachte zwei Überraschungen: das erste Lebensmittelpaket erreichte Dr. Hahn, und Annas nun ehemaliger Mann stellte nach dem verlorenen Prozess plötzlich Ansprüche auf den jüngsten Sohn Freddy: „… er will diesen sein Handwerk lernen lassen, ihm sofort die Hälfte des Hauses überschreiben und ihm später seinen Betrieb übergeben.“ Die Regelungen für Vermögenstrennung konnte Dr. Hahn mit Annas Mann leider nicht in Güte treffen. „Ich habe daher den Rückstellungsantrag bezüglich der Liegenschaft in Vöslau überreicht und nun heisst es wieder darum kämpfen.“ Die Pakete Annas erreichten nun problemlos Österreich, im August 1947 waren in Baden offenbar „Rasierseife, Rasierklingen für Giletteapparat mit drei Löchern und einige Farbbänder schwarz 13 mm für Underwood-Schreibmaschine“ Mangelware. Derartige Gebrauchsgegenstände waren jedoch offenkundig auch für Anna nicht leicht zu bekommen, denn im nächsten Brief dankte Dr. Hahn „für Ihre Mühe, die sich bei der Beschaffung dieser Sachen ergeben hat. Wir können es hier gar nicht verstehen, dass auch Sie drüben ihre Nöte haben. Man glaubt hier, Sie brauchen nur in irgend ein Geschäft zu gehen und können kaufen, was Sie wollen. Durch diesen unheilvollen Krieg wurde leider die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen und alle haben nun schwer zu kämpfen. Der Vergleich, der mit Annas ehemaligem Mann ausgehandelt wurde, sah vor, dass die Hälfte der Liegenschaft an Annas Kinder überschrieben werden sollte und er der gesetzlichen Unterhaltspflicht nachkommen würde, sobald eine „Überweisung von Geldern nach England devisenrechtlich möglich ist.“ Das letzte Kapitel der Trennung war geschrieben.