25. Vielleicht hat die Welt noch eine Chance auf friedlichere Zeiten? Aus den Briefen von Abraham Nemschitz

Vielleicht hat die Welt noch eine Chance auf friedlichere Zeiten?
Aus den Briefen von Abraham Nemschitz
Im Jahre 1986 erzählte mir der ehemalige Arbeiter in der Tischlerei Otto Adler, Edwin Wendt, von Willi Glass, mit dem er gemeinsam bei den Roten Falken in Krems politisch aktiv gewesen sei. Der Kontakt zwischen den ehemaligen Roten Falken beschränkte sich nach 1945 lange Zeit auf Weihnachtsgrüße. Anfang der siebziger Jahre besuchte Willi Glass seine ehemalige Heimat und traf auch mit den alten Bekannten zusammen. Nach diesem Interview schrieb ich Willi Glass von meinem Projekt, die Geschichte der Juden von Krems aufzuarbeiten, und bat ihn, mir den Kontakt zu anderen Kremser Juden herzustellen. Die Antwort kam nach einigen Wochen: Es gäbe noch Kremser Juden in Israel, doch aus verständlichen Gründen könne er mir die Adressen nicht geben, werde aber in einem Brief von meinem Vorhaben berichten. Es liege dann bei seinen Freunden in Israel, mit mir in Kontakt zu treten oder nicht. Ein Beginn mit vielen Unbekannten. Anfang des Jahres 1987 erhielt ich überraschend Post aus Herzlia in Israel. Abraham Nemschitz schrieb von einer schlaflosen Nacht, die ihm mein Brief, den er von Willi Glass via USA bekommen habe, bereitet habe. Ein Beginn, mehr nicht. Mit meinem Antwortbrief wollte ich keinen Tag warten. Ein Briefwechsel begann, die Zeit war günstig und ungünstig zu gleich. Günstig, weil, wie Abraham Nemschitz in einem Gespräch später erläuterte, er gerade in Pension ging und plötzlich Zeit hatte, über sein Leben und das Schicksal seiner Familie nachzudenken. In dieser Phase der Reflexion begann Abraham Nemschitz, das Fluchttagebuch seines Vaters, das in millimetergroßer Schrift Tag für Tag die Flucht aus Wien belegt, zu transkribieren. Ungünstig, weil diese Kontaktaufnahme für viele schon zu spät kam. Die Feststellung, daß in Briefen nicht alles gesagt werden könne, am besten in einem Gespräch die Geschichte der Familie erläutert werden könne, schien nicht mehr zu sein als eine Floskel. Es ist aber letztlich der Initiative von Abraham Nemschitz und Robert Kohn zu danken, der ebenfalls auf das Schreiben von Willi Glas antwortete, daß ich einen Forschungsaufenthalt im Juni 1987 planen konnte. Der Kontakt nach diesem Besuch und den Interviews mit den noch lebenden Kremser Juden in Israel vertiefte sich, trotz des Altersunterschiedes entstand eine Freundschaft. Die „Bilanz“ des Beginns mit vielen Unbekannten ist ermutigend. Abraham Nemschitz besuchte zweimal Krems und hatte vor allem 1989 nicht mehr das Gefühl, das ihn vorher bei Besuchen in seiner alten Heimat immer beschlichen hatte, sofort wieder „wegzuwollen“. Er konnte in Wien auf Grund eines „profil-Artikels“‚ eine weitschichtige Verwandte wiederlinden, er half mit, Politiker von der Notwendigkeit der Renovierung des jüdischen Friedhofes zu überzeugen. In den Briefen, die hier ausschnittweise dokumentiert sind, wurde unter anderem über das ProjektKrems 1938-1945, die Aktivitäten im Zusammenhang mit der Renovierung des jüdischen Friedhofes und die Einstellung „der“ Stadt zu ihrer Vergangenheit berichtet und diskutiert. Die Ausschnitte dieses Briefwechsels sind das Dokument einer Entwicklung, ein anderer Zugang zur Geschichte der Stadt abseits von Gedenktagen.

Erinerungen sollte mann ruhen lassen!
Wirklich?

22.1.1987
„Herr Glass2 hat mir Ihren Brief vom Juli 86 eingesandt und, ehrlich gesagt, hat er mich eine schlaflose Nacht gekostet. Erinnerungen sollte man ruhen lassen. Überschrift Krems 1938-1945 hat bei mir einen bitteren Geschmack. Ich war dritte Generation Krems. Eine große Familie. Bereits 1934 mußten wir sowie viele andere Familien Ihre Geschäfte liquidieren, da sie dem Boykott nicht mehr standhalten konnten. Wir machten den Fehler, nach Wien zu gehen und nicht einigen anderen jüdischen Familien nach Erez Israel zu folgen. (Wir hatten ein Damenkonfektionsgeschäft auf der Unteren Landstraße, ein Handarbeitsgeschäft mit Strickwaren in der Dinstlstraße und ein Onkel war der lokale Vertreter von Sokamy Vacuum Öle.) Unser Fehler kostete das Leben des Großteils der Familie. Großmutter und Cousine und ein Onkel starben in Theresien-stadt. Ein zweiter Onkel und beide Frauen endeten in Auschwitz 1944. Ich selbst, mit meinem Bruder, verließ Österreich im November 1938, vor der Kristallnacht. Mein Vater wurde damals verhaftet, ging nach Dachau und später zur Befestigungsarbeit nach Friesland. Er, mit meiner Mutter und meiner Schwester, kam dannn auch 1940 illegal nach Erez Israel.

Wiedersehen mit Willi Glass in Israel
Olly Salzmann, Frieda Neumann, Miriam Karpfen, Fritz Nemschitz (v.l.n.r.)
(2. Reihe) Willi Glass, Abraham Nemschitz und Kurt Karpfen

Ich besuchte Krems erst wieder im Jahre 1972 und habe von diesem Besuch eine Photographie des Tempels in der Dinstlstraße. Er überlebte die Zeit von 1894-1972. Mußte der abgerissen werden? (…) Bei meinem nächsten Besuch 1978 hatten wir Zeit für einen Spaziergang durch die Stadt. Ich hatte in Erinnerung einen hebräischen Grabstein in der Mauer der Piaristenkirche (vollkommen leserlich). Diesmal waren nur noch die obersten Zeilen zu lesen. Die Piaristenkirche wurde im 15. Jahrhundert erbaut, auch der Sandstein hielt allen Wetterverhältnissen stand bis 1938. Wir gingen damals durch die Piaristenstiege und fanden eine Stufe aus rosa Marmor mit hebräischer Inschrift. Auf meine Intervention wurde diese Stufe entfernt und ins Museum geschafft. Ich war noch zweimal in Krems, immer auf der Durchfahrt, hatte noch nicht genügend Mut, auf den Friedhof zu gehen in Weinzierl. 1936 waren wir gezwungen, die Gräber des alten jüdischen Friedhofs am Berg zu exhumieren und nach Weinzierl zu überführen, wegen dauernder Grabschändung. Das sind meine Erinnerungen an Krems. Ich besuchte Volks- und Realschule und kann mich an keine Freunde außerhalb des jüdischen Kreises erinnern. (…)“

Einfach nicht mehr errinern wollen
24.3.1987
„Nach Ihrem Telefongespräch habe ich meine Freunde angerufen und nochmals urgiert und versucht, sie zu einem Schreiben an Sie anzuspornen. Leider hatte ich keinen Erfolg. Da es sich meistens um Freunde in meinem Alter handelt, war ihre Antwort meistens ähnlich jener, die Sie von Frau Harvey3 erhielten. Oder andere, welche, wie ich Ihnen erklärt habe, schon in den Jahren 32-34 Krems verlassen haben und sich einfach nicht mehr erinnern wollen. Wir alle sind heute voll mit unseren eigenen Kindern und Enkel beschäftigt und an der so zweifelhaften Zukunft interessiert. Ich selbst bin schon der Meinung, daß die Vergangenheit wahrheitsgetreu wiedergeschrieben werden sollte, da dies wohl die Grundlage für eine bessere Zukunft geben könnte. (…)“

50 Jahren kannten wir keinen Hass
28.4.1987
„(…) Wenn ich heute versuche, aus Erzählungen meiner Eltern und Großeltern, mir ein Bild über die jüdische Gemeinde in Krems zu machen, möchte ich sagen, daß über eine Spanne von 50 Jahren (1880-1930) das Leben in Krems frei von Haß war. Grundlegend hat man wohl einen Sündenbock für die Ursache der Weltkrise gesucht und da mußten eben die Juden herhalten, wie so oft in der Geschichte. Die Frage ist wohl, warum die Welt für wirtschaftliche Fehler, die meist spekulativ gemacht werden, politische Lösungen sucht? Die Situation heute ist noch viel schlechter. Alle Staaten der Welt sind mit Milliarden verschuldet. Wer wird hier herhalten müssen? Wird man auch hier wieder das alte Rezept herausholen, um die wahren Schuldner zu verschleiern? Das gibt wohl viel zu denken, besser nicht antasten. (…)“

Viele atle Geiser Heraufbeschwört
29.7.1987
„(…) Dein Besuch bei uns hat so viele alte Geister heraufbeschwört und hat es so weit gebracht, daß ich mit meinem Bruder und meiner Schwester über Dinge sprach, die wir früher nie berührt haben. Fritz4 war 14 Tage in Haft und Ollys war dabei, wie sie aus der Wohnung am Heiligen Abend evakuiert wurden. (…) Nun zum Alltag. Die Hitzewelle hält an und wir leiden an einer hohen Feuchtigkeit. Täglich sind wir um 8 Uhr früh im Schwimmbad, um uns für den laufenden Tag zu erfrischen, und abends erfreuen wir uns an der Aircondition. Bei Nacht ist es selten unter 25 Grad. Erinnert mich an einen alten Schlager:

‚Wenn es im Sommer heiß ist immer
hab ich a eigene Manier
da sitz ich splitternackt im Zimmer
es kommt ja a ka Mensch zu mir!
Doch neulich hab ich mich besonnen,
ich nehm mir um den Hals an Schal
es könnt vielleicht doch jemand kommen,
Ich glaub, ich bin nicht ganz normal!“‚6

Ich zwinge mich zu Schreiben
5.9.1987
„Leider muß ich mit der traurigen Nachricht über das plötzliche Ableben (27.8.) meines Bruders Fritz beginnen. Ich hoffe, im nächsten Mai Dir die Umstände mündlich geben zu können. Es war eine Herzattacke. Ich bin sehr betroffen und zwinge mich zu schreiben. (…) Ich werde mich schon wieder langsam erholen, es wird nur ein bißchen Zeit dauern. Danach hoffe ich, daß wir im nächsten Mai zusammen (illegal) nach Krems fahren werden. (…)“

6.10.1987
„Unseren herzlichsten Dank für Dein Kondolenzschreiben. Ja, der Tod meines Bruders war ein schwerer und plötzlicher, vollkommen unerwarteter Schlag. Aber das Leben geht weiter, das Grabmal wurde letzte Woche enthüllt und alle Kremser, die Du kennst, waren versammelt bei der Enthüllung. (…) Ich weiß nicht, ob ich bereits erwähnt habe, daß mir H. geantwortet hat. Sie war etwas betroffen und ihr Brief war eigentlich ein Beweis dafür, daß jeder Mensch eine selektive Erinnerung mit sich trägt und daß eben verschiedene Menschen dieselben Ereignisse in manchmal vollkommen gegenseitiger Form in Erinnerung haben. Wer ist dann klug genug, um die reine Wahrheit zu erkennen und zu beurteilen.(…)“

2.12.1987
„(…) Bei uns geht langsam alles in den alten Trott zurück. Das Leben geht weiter. Ich hatte einen leichten Zusammenbruch und bin beim Kardiologen in Behandlung. Am 7.12. ist mein nächster Checkup. Aber ich fühle, alles ist wieder in Ordnung. (…) Ich habe mich wieder ins Studium gestürzt, die beste Medizin. Ich nehme zwei Kurse an der Universität, Lineare Algebra und Polymer-Chemie. (…)“

Familiengeschichten
13.1.1988
„Danke für Deinen Brief und die Kopie aus dem ‚profil‘. Zufällig hatte ich auch das Original (profil) und habe mit Interesse einen Artikel von Bronner gelesen. (…) An die Frau K. schreibe ich mit gleicher Post. Unsere Familie geht zurück ins 18. Jahrhundert in Mähren. Dort ist ein Dorf mit selbem Namen. Es gibt aber hier in Israel eine Familie Nemschitz, die aus Jugoslawien kommt, und glaubt, sie seien die einzigen Nemschitz. Sie wohnen im Norden und ich hatte noch keine Gelegenheit, mich mit diesen zusammenzusetzen, um die Roots zu vergleichen. Was das Grab meines Großvaters betrifft: Er ruht in Wien am 4. Tor des Zentralfriedhofs. Bei jedem meiner Besuche gehe ich hin. In Krems liegt mein Urgroßvater. Aber der alte jüdische Friedhof war am Berg‘ und im Sommer 1935 wurden die Gräber und die Gebeine überführt nach Weinzierl. Da der Friedhof dauernd geschändet wurde, Ziegel und Steine wurden weggeschleppt, Schweine gestochen und deren Blut über die Gräber gegossen. Darüber besser schweigen. (…)“

„Rege dich nicht auf…“
1.3.1988
„Deinen Brief haben wir gestern erhalten und ich schreibe Dir sofort. Darf ich Dir einen Rat geben: Rege Dich weniger auf und akzeptiere Tatsachen, um die man nicht hinweg-kommt. Waldheim wurde demokratisch gewählt! Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. In den Augen eines Teiles der Welt sind wir Nazis und andere sehen in uns Menschen, die ihr Lebensrecht verteidigen. Dieselben Menschen sind einesteils Freiheits-kämpfer und werden gleichzeitig als Terroristen betrachtet. Jeder hat das Recht, meines Erachtens, Stellung zu nehmen auf seine subjektive Art, solange er die Einstellung anderer honoriert und nicht versucht, dieselbe durch Zwang und Faustrecht zu ändern. (…)“

28.6.1988
„(…) Es fällt mir schwer, in Worten unseren Dank‘ auszudrücken, und Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was es für mich persönlich bedeutet hat, Eure liebe Freundschaft und Eure offene Gastlichkeit uns gegenüber hat meine Gefühle und mein Verhalten Wien und Österreich gegenüber grundsätzlich verändert. Das Verlangen, so schnell wie möglich wieder wegzufahren, das bei meinen früheren Besuchen immer vorherrschend war, war diesmal nicht vorhanden. Einzig und allein Eure Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft hat alle bitteren Gedanken in den Schatten gedrängt. (…)“

„Ist das nicht Typisch?“
3.7.1988
„Danke für Deinen Brief mit Beilage. Apropos `Jude Abraham’9. Ist das nicht typisch? Wie der Menschen Hirn arbeitet. (…) Hattest Du noch irgendwelche Reaktionen von Krems? Für mich und Terry war es ein richtiges Erlebnis, und daß ich der Vergangenheit so richtig ins Gesicht schauen konnte, haben wir einzig und allein Dir und den Deinen zu verdanken. Welchen Eindruck Mauthausen und Dachau auf uns machten, kann ich unmöglich beschreiben und kann ich nur immer wieder danken, was uns erspart blieb, dadurch, daß wir vor den großen Razzien abtauchen konnten. Genug darüber. (…)“

Wieder nach Österreich
17.10.1988
„(…) Wir spielen jetzt mit dem Gedanken, da wir diesen Sommer unter der Hitze sehr gelitten hatten, den nächsten Sommer 15. Juni bis 15. August in Österreich zu verbringen. (…) Werde in der nächsten Zeit an das TGM schreiben. Mein Jahrgang hat 1990 50-jähriges Jubiläum, wäre interessiert, daran teilzunehmen. Wir waren ja nur 18 im dritten Jahrgang (davon 4 Juden).“

4.11.1988
„(…) Von der Anzeige zur Mahnwache10 war ich erschüttert und ich hoffe, es kommt zu keiner Schlägerei. Bitte berichte mir, was los war. (…) Hast Du die Ankündigung der Mahnwache an andere Kremser hier geschickt? Kann ich es vervielfältigen und weiter-senden? Wäre gerne am 9. November dortgewesen als unsichtbarer Beobachter. (…) Ich rege mich immer wieder von neuem auf, wenn ich an die Zeit erinnert werde. Bin aber sehr erfreut, daß es Menschen gibt, die die Zeit nicht vergessen. Vielleicht hat die Welt noch Aussicht auf friedliche Zeiten. (…)“

5.12.1988
„(…) Glaube mir, `Krems bleibt Krems‘ und wird es immer bleiben. Manchmal bewun-dere ich Deinen Mut, zu versuchen, das zu ändern. Hast Du nicht manchmal das Gefühl, wie Don Quichote gegen Windmühlen zu kämpfen? Ich wollte, ich wäre ein Vöglein gewesen und hätte mir das am 9. November 88 ansehen können und in die Gehirne einiger Kremser eindringen. (…)“
´

Der Schwarze Himmel der Geschichte
8.1.1989
„(…) Mit Kurt Karpfen“ waren wir zusammen und er hat mir von Deinem Brief erzählt. Ich habe mein möglichstes getan, ihn zu überreden, Dir zu schreiben. Das einfachste wäre allerdings, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, dann kannst du ihn hier unter die Lupe nehmen. (…)In der Anlage sende ich, wie ersichtlich, ein Lied und Karte von einem Abend 50 Jahre Wiedersehen der illegalen Schiffe, die vom Schwarzen Meer nach Israel fuhren. Das Lied wurde vom Reiseleiter verfaßt. Einige tausend österreichische und tschechische Juden verdanken ihr Leben dem organisatorischen Talent und der Initiative eines Willi Perl, der diese Transporte organisierte, beginnend im Mai 1938. Vom 1.11.38 auf der Donau zum Schwarzen Meer. Der Transport meiner Eltern war der letzte aus Wien. Verständlich wegen Weltkrieg. (…) Wie geht es mit dem Friedhof in Krems? Ich war sehr überrascht von Herrn Hofrat Lentner12 und angenehm berührt über die freundlichen Zeilen, die er mir sandte und hoffe, ihn bei meinem nächsten Besuch kennenzulernen. Gott sei Dank, daß es noch Menschen gibt wie Euch, die wie ein Lichtstrahl am schwarzen Himmel der Weltpolitik und Geschichte, das Leben überhaupt wert machen. (…)“

Das Leben mit geborgter Zeit
29.1.1989
„(…) Ich erinnere mich nur, als ich einmal im Deutschunterricht einen Aufsatz schrieb, übertitelt `Das Papier ist geduldig‘. Letzte Woche hatten wir im TV einen Film in deutscher Sprache `Die Wannsee-Konferenz‘. Wenn man dazu die täglichen Nachrichten hört, beginnt man an der ganzen Welt zu zweifeln. (…) Manchmal habe ich das Gefühl, wir leben von heute auf morgen und mit geborgter Zeit. (…)“

15.5.1989
„(…) Wir waren letzte Woche in Givat Haim bei Robert und Hilde“ (hast wahrscheinlich Aufstoßen gehabt) und Du mit Deiner Arbeit warst ein großer Teil des Gesprächs. Wir nutzten die Gelegenheit, das Theresienstadt-Museum zu besuchen. (…)“

27.9.1989
„Wir sind jetzt seit über zwei Wochen von unserem Aufenthalt in Österreich wieder zurück und waren mit den Vorbereitungen zu dem am Samstag beginnenden Feiertag voll beschäftigt. (…) Dazu kommt alles, was sich in zehn Wochen angesammelt hat und erledigt werden muß. (…) Frieda Kerpen-Neumann14 ist sehr krank und kann nicht mehr gehen. Kurt Karpfen wartet auf den Termin für einen Herzkatheder. Alle anderen sind gesund. Die bösen Nachrichten erreichen uns schnell. (…)“

Ein Denkmal für die ermordetet Juden?
7.11.1989
„(…) Wie geht die Arbeit in Krems voran? Wann wir der restaurierte Friedhof eingeweiht? Wie würde das aussehen, ein Denkmal für die ermordeten und vergasten Juden des 2. Weltkrieges neben dem Mal zum Gedenken an die gefallenen Juden des 1. Weltkrieges zu errichten? Sollte angeregt werden. Eine neue jüdische Gemeinde wird sich wohl nicht so schnell wieder bilden in dieser Stadt und manchmal frage ich mich wirklich „Wozu das alles?“ Millionen suchen eine neue Heimat, Millionen hungern, und statt eine jüdischen Gemeinde wird bald eine buddhistische Gemeinschaft oder was ähnliches in Krems Wurzeln schlagen. (…)“

20.11.1989
„(…) Wir hoffen, in der nächsten Zeit, wenn es nicht regnet, Robert Kohn wieder zu besuchen und die diversen anderen Kremser. Man wird faul und rührt sich nicht aus dem Haus und ist nur mit der engsten Familie beschäftigt. (…)“

Der Stadtrat wird sich nie einigen
12.12.1989
„Meine Bemerkung im letzten Brief bezüglich Denkmal war eigentlich sarkastisch gemeint. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Stadtrat in Krems sich je über den Platz, wo dieses aufgestellt werden könnte, einigen würde. Ich glaube auch, daß der Friedhof der einzige Platz wäre, wo ein Denkmal ungeschändet auf die Dauer überleben kann. Ich weiß, Du möchtest bestimmten Menschen etwas unter die Nase reiben. Das hat noch nie geholfen, was Du als Historiker ganz genau weißt. Für mich persönlich bedeutet es einen Platz, an dem ich mich derer erinnern kann, die auf vollkommen unschuldige Weise ver-trieben, vernichtet und ermordet wurden. Was aber praktisch tun? Robert Kohn hat mich angerufen und hatte die Idee, wir sollten uns mit Geldspenden beteiligen. Ich halte davon nichts. Meines Erachtens ist der Zweck dieser Aktion, in der Geschichte von Krems die Tatsache festzuhalten, daß es hier einmal eine jüdische Gemeinde gab, die ein integraler Teil der Bevölkerung der Stadt war, und über Nacht ausgelöscht wurde. Du selbst schreibst in Deinem Brief, daß die Aktion Gedenktafeln die nächsten 20 Jahre in Anspruch nehmen wird. Wer wird sich dann noch an uns erinnern? Es ist ohne Zweifel lobenswert, daß sich jetzt, nach zwei Generationen, Menschen fanden, um die Ereignisse dieser Zeit geschichtlich festzuhalten. Du weißt aber auch, daß es nicht an Gelehrten fehlt, die mit Überzeugung behaupten, daß alles Lüge und Propaganda war. Wer wird die Oberhand behalten? Selbstverständlich werde ich mit den Kremsern hier sprechen (…) Von Frau K. hatte ich eine Neujahrskarte, der ein Zeitungsausschnitt, ich weiß aber nicht von welcher Zeitung, beigelegt war, mit einem Bild, das die Schüler bei der Arbeit an der Friedhofsmauer zeigt und einer kurzen Reportage. Scheinbar gibt es doch noch eine Anzahl guter, uneigennütziger Menschen. Also besteht noch Hoffnung für uns auf dieser Erde.

15.1.1990
„(…) Bei uns gibt’s nicht viel Neues, außer daß es abends und nachts sehr kalt ist. Aber das geht auch bald vorbei und in ein bis zwei Monaten können wir wieder schwitzen. Wenn wir es erleben, in letzter Zeit gab es so eine Unfallsträhne im Bekannten- und Freundes-kreis (…) Von den Kremsern weiß ich nur, daß es Frieda Neumann (Kerpen) wieder sehr schlecht geht und Kurt Karpfen wird wahrscheinlich eine Herzoperation über sich ergehen lassen müssen. Es gibt so immer Perioden, wo man nur traurige Nachrichten hat. (…)“

Die Menschen ändern sich nicht
4.3.1990 „Was Du über Krems schreibst, ist sehr interessant und ich beneide Dich, würde gerne diese Akten selbst sehen und durchgehen. Es ist ja zum Staunen, wie diese Dinge so nach und nach auftauchen. Kein Wunder, daß solche Recherchen jahrelang dauern. Jetzt bin ich schon ganz gespannt, wieder bei Dir nachzulesen und wäre natürlich sehr interessiert, die Liste der Kremser Juden durchzusehen. Tatsächlich gibt es einige, die uns vollkommen aus den Augen verschwunden sind. Wundere mich, wer auf der Liste verzeichnet ist. (…) Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, alles in Ruhe zu lassen. Gerade in unserer Zeit jetzt sieht man, daß sich die Menschen nicht ändern, nicht lernen und aus der Geschichte keine Konsequenzen ziehen. Ein Glück, daß man Radio, TV abschalten kann. Zeitung lese ich nur mehr einmal in der Woche, das genügt. Die Politiker sind alle gleich, egal ob rechts, links oder Zentrum. Auch ihre Gehälter sind gleich. Ich kann jetzt so mehr oder weniger auf ein Jahrhundert zurückblicken. Es schaut wirklich wie ein Rad aus, auf dem wir reiten. Auf und ab. Vor hundert Jahren war es mit Pferdeantrieb, jetzt geht es mit Jet, das ist der ganze Unterschied. Hauptsache, gesund sein und auf den nächsten Urlaub warten. (…)“

17.8.1990
„Heute, Mitte August, zu sitzen und über Ereignisse aus dem Jahre 1938 und weiter zu schreiben“, nicht zu vergessen, anno 1990, scheint fast absurd, banal oder paradox. 600 km von hier kommt es zur größten Waffenkonzentration aller Zeiten, und sollte dieses Pulverfaß in die Luft gehen, sind aller Wahrscheinlichkeit nach wir die ersten Leidtragenden, wie üblich. Durch Jahrzehnte zitterte die Welt vor einer Auseinandersetzung der Großmächte. Im letzten Jahr hat sich dieses Problem sozusagen in Wohlgefallen aufgelöst. Die Menschen atmen auf, wir können auch in die Ostländer auf Urlaub fahren. Wir haben nur eines vergessen. Die kleinen Feuer in der ganzen Welt, die glimmen an allen Ecken und Enden, von den Großmächten behütet und plötzlich aus irgendwelchen Gründen, sich zu Buschfeuern oder Waldbränden entwickelnd. In den Jugendbünden lehrt man uns, wie das Lagerfeuer zu löschen ist, um einen Waldbrand zu verhüten. Die Universitäten haben Lehrstühle für Völkerrecht, mangeln aber an der Unterweisung über Menschenpflicht. Haben wir Anspruch auf Rechte solange wir nicht unsere Pflichten erfüllt haben? Die Ereignisse der letzten Tage sind leider von starkem Einfluß und es ist mir unmöglich, die Erzählungen über die Vergangenheit der Familie fortzusetzen. Ich hoffe, wie üblich, daß sich eine Lösung finden wird, dann werde ich meinen Schmus wieder zu Papier bringen. Die stündlichen Nachrichten im Radio sind ein richtiges Unglück. Ein Glück, daß die Kommentare so widersprechend sind, daß man sowieso nicht klug davon wird. Das tägliche Leben geht weiter. Man macht Pläne für die Zukunft und weiß nicht, was das Morgen bringt. Unser Enkel ist von seiner Reise in den Fernen Osten und Australien zurück und seine Erzählungen hören sich an, als ob das nicht dieselbe Welt wäre. Bedaure, aber ich hatte einfach das Bedürfnis, diese Gedanken zu lüften und zu Papier zu bringen, was einfacher ist als sie Dir zu schicken. Mit den allerherzlichsten Grüßen an Euch alle und in der Hoffnung, daß wir uns trotz all diesen Vorgängen wiedersehen werden.

Die Post fungtioniert
Jänner 1991 „Dies ist nur eine kurze Nachricht. Wir waren leider mit einer Grippe im Bett und ich war unfähig eine Feder zu halten. Auch jetzt bin ich noch schwach, also mach ich es kurz. Die Meldungen sind ja jetzt sehr alarmierend. – Was hast Du erwartet? Seit Jahren hat ein Staat, der selbst um Korn und Mehl in der Welt bettelt, genügend Milliarden in die Rüstung Iraks gesteckt und jetzt wundert man sich, wenn dieser diese Waffen auch wirklich benützen will. War es nicht selbstverständlich, daß wir die ersten direkten Leidtragenden sein werden? Auch die jetzt importierten Waffen werden ja früher oder später hier zurückbleiben und ich bin sicher, nicht als Museumsstücke oder Verzierungen. Für die Auswertung der Sonnenenergie gibt’s kein Geld, aber die Waffenindustrie und deren Research hat noch keiner gekürzt. Die bereichert sich an feinen Budgets. Irak mit seinen Einkünften vom Öl könnte ein wohlhabender Staat sein, aber für sanitäre Verhältnisse und allgemeine Erziehung wird nicht gesorgt. Waffen müssen gekauft werden und jeder Nachbarstaat wird um seinen Reichtum beneidet. Die Welt lernt aus den schwersten Kriegen nicht. Die Menschen suchen immer mehr nach Macht und Gier und wenn sich da nicht grundsätzlich was ändert, wird es keine Lösung zum Guten geben. Sorry, ich glaube, das Fieber hat wieder überhandgenommen. Also, auf baldiges Wiederhören. Die Post funktioniert.“

5.3.1991 „Durch die Einstellung der Luftlinien hat es natürlich länger gedauert, bis Deine Briefe hier eingelangt sind. Briefe erhielten wir nach drei bis sechs Wochen von überall. Daß wir telephonisch schwer erreichbar waren, wundert mich nicht, aber wir bekamen von meiner Cousine aus Wien und von Willi Glass aus Amerika und auch aus England ohne Schwierigkeiten Anrufe, allerdings haben die meist bei Nacht angerufen. Tagsüber war es schwer, wie uns alle sagten. Jetzt ist nun gottlob das Ärgste vorbei, bleibt nur noch die Rechnung zu begleichen. Ein Glück, wir sind in Pension. Einen Teil der Zeit waren wir bei unserer Tochter in Beer Sheva, etwas abseits vom Schuß. Diese Woche fliegen auch die fremden Linien wieder und alles ist beim alten. Hört man die Kommentare scheint sich alles um das Palästinenser Problem zu drehen. Und was ist mit Irland, Südafrika, Chile, Sudan, Indien-Pakistan, um nur die einflußreichsten zu nennen. Dutzende kleinere Wirbel wie Albanien, Armenien und Mittelamerika werden überhaupt nicht beachtet. Das ist die Welt.. Mit dem Geld,, das für Waffenerzeugung und Entwicklung ausgegeben wird, könnte man die ganze Welt mit Kaviar und Steaks füttern. Ich frage mich, was unseren Enkeln bevorsteht.“

20.3.1991 „Danke für die Auszüge von ‚profil‘ die Serie über die ‚Auswanderungs‘ Transporte von Gabriele Anderl), die wieder alte Erinnerungen wachgerufen haben, deren Reaktion dann immer der Vergleich der Epochen. Der Unterschied ist halt, daß die Verkehrsmittel schneller sind und die Waffen verheerender. Lang werden wir schon nicht mehr als Statisten in diesem Theaterstück mitwirken. Also leben, solange es geht.“

Anmerkungen
1 Die letzten Tage in Krems. „profil“ 27.7.1987
2 Willi Glass. Siehe Seite 116
3 Herta Harvey (geborene Adler) erläuterte in einem Brief an den Verfasser, warum sie keinen weiteren Kontakt wünsche: „1 am now an old lady of nearly 70 years old. I lost both my parents and some of my family was murdered in Auschwitz Concentration Camp. It took me a liftetime to get over it and now there is nothing and nobody who will make me relieve the nightmare of 1938.“ Brief an den Verfasser.
4 Fritz Nemschitz. Siehe Seite 116
5 Olly Salzmann (geborene Nemschitz)
6 Strophe eines Couplets von Louis Taufstein und Armin Berg
7 Siehe Seite S 178 f
8 Nach dem ersten Besuch in Krems im Mai 1988.
9 Anspielung auf einen Artikel des Verfassers in den „Niederösterreichischen Nachrichten“ über den Besuch von Abraham Nemschitz, bei dem ohne Rücksprache der Titel geändert wurde. So ist in der NÖN am 9.6.1988 zu lesen: „Jude Abraham besucht nach 50 Jahren Krems“.
10 Am 9. November 1988 organisierte das Komitee für die Restaurierung des jüdischen Friedhofes in Krems und der Verein „Kultur im Alltag“ eine Mahnwache auf dem Platz vor der ehemaligen Synagoge in der Dinstlstraße in Krems. Im Aufruf dazu hieß es: „Man muß schweigen, um wieder reden zu können über Gedemütigte, Enteignete, Vertriebene, Ermordete“.
11 Siehe Seite 120 f
12 Hofrat Dr. Gerwald Lentner, damals Vizepräsident (heute Präsident) des Kreisgerichtes Krems war einer der Wortführer des Komitees zur Restaurierung des jüdischen Friedhofes in Krems.
13 Robert und Hilde Kohn
14 Frieda Neumann (geborene Kerpen) starb 1989 in Naharia in Israel
15 Abraham Nemschitz bezieht sich hier auf seinen Kommentar, den er zum Tagebuch seines Vaters geschrieben hat.

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