Kann man Schachtelhalme vermissen? Eindrücke bei einer Wanderung durch Krems mit Robert und Hilde Kohn

"Schachtelhalme, die habe ich seit damals nicht mehr wieder gesehen, die gibt es bei uns nicht." Der Mensch lebt mit oder ohne Schachtelhalme. Kann man Schachtelhalme vermissen? Eine sonderbare Frage, sicherlich. Die Suche nach Schachtelhalmen stand am Ende eines intensiven Rundganges durch Krems. Robert und Hilde Kohn wanderten durch die Stadt ihrer Jugend. Robert Kohn, mit seinen Eltern im Jahr 1910 nach Krems übersiedelt, lernte seine Frau Hilde, die aus Schlesien stammt, in Krems kennen. Eine Geschichte, die es noch zu erzählen gibt. Nach fast 60 Jahren besuchen sie wieder die Orte ihrer Jugend, Plätze, die mit einer vernichteten jüdischen Kultur verbunden sind. Und am Ende dieses Tages fällt der Satz: Ich möchte nur einmal ganz kurz im Wald spazieren gehen, denn das kann man bei uns nicht. Bei diesem Spaziergang tauchen plötzlich die Schachtelhalme der Jugenderinnerung auf. Auf dem kurzen Wegstück zwischen Kleinwien und Göttweig gibt es aber keine Schachtelhalme. In einer Zeit, in der die Abge-stumpftheit gegen die Erinnerung vertriebener Juden durch das wehmütige Klischee ersetzt wurde, können nur wenige Äußerungen berühren. Vielleicht ist die Suche nach den Schachtelhalmen eine solche Szene. Die neue Heimat, Palästina, jetzt Israel, ist eben doch ein Land ohne Schachtelhalme, ohne – hier ließe sich so manches einsetzen…

"ICH MÖCHTE MIT KEINEM KREMSER REDEN"

Begonnen hat der Besuch mit einer Autofahrt von Wien nach Krems und dem Versprechen, das mir abgenommen wurde: "Ich möchte mit keinem Kremser reden." Warum? Es blieb unausgesprochen. Ich kenne seine Vergangenheit nicht, er könnte ein Nazi gewesen sein … Die Annäherung an Krems beginnt mit Geschichten: Zum Beispiel auf der Höhe der Burg Kreuzenstein. "Einmal haben wir da in der Realschule mit dem Religionslehrer Holzer einen Ausflug zur Burg Kreuzenstein gemacht, das war an einem Samstag. Zur gleichen Zeit feierte Bela Neubauer seine Bar-Mitzwa. Damit wir bei dieser Feier anwesend sein können, schärfte uns der Vater von Bela, der Kantor Samuel Neubauer ein, wir sollen in der Schule melden, daß Juden am Sabbat nicht reisen dürfen und deswegen zu Hause bleiben würden. Der Holzer ist fuchsteufelswild geworden. `Was ist denn das jetzt auf einmal?‘ Da hatte er recht, denn mit den Bräuchen haben wir es nie sehr genau genommen. Wir sind zu Hause geblieben. Kreuzenstein habe ich nie gesehen." Rechtzeitig, bevor wir die erste Station passieren, beim Kreisgericht in Krems ("Ich habe nicht in Erinnerung, daß es so groß ist, da hat man eine falsche Erinnerung!") beginnt die Vorgeschichte der Beziehung von Robert und Hilde: Es war die Brieffreundschaft zwischen zwei Mädchen, die andere war Marion Wasservogel, deren Vater das Elektrogeschäft am Anfang der Landstraße hatte. "Wir haben uns einige Zeit geschrieben und dann habe ich die Marion zu uns nach Haus eingeladen, als Erkennungszeichen habe ich ein Täschchen gehabt, das sie mir geschickt hatte. Der Zug kam an, die Mutter und Marion stiegen aus. Das erste, was ich gehört habe, war: ‚Koit is.‘ Ich habe mir damals nur gedacht, wenn die Leute schon Englisch sprechen müssen, dann sollen sie wenigstens ‚It is cold‘ sagen. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir uns aneinander gewöhnt haben." Zwischenstation am Ansichtskartenständer nach der Galerie am Stadtpark: Das Steinertor, wie gehabt, das Brauhaus, ja dort hat der Adler die Bar gemacht, und nach einem Blick in die Auslage: Diesen Marillenlikör hat doch der Wolter erzeugt, mein Gott. Unklarheiten über die Geographie: Beginnt die Ringstraße nicht hier? Die Suche nach dem Geburtshaus des Vaters in der Margaretenstraße. Der Blick zu den Englischen Fräulein: Ach, meine älteste Tante, die Julie Wolf, die ist dort in die Schule gegangen, obwohl sie Jüdin war. Einige Schritte zur Wegscheid: Da sieht man den oberen Teil unseres Hauses, man konnte nicht durchgehen, aber von unserem Dachboden haben wir in ihr Fenster hineingeschaut.

ZWISCHEN STERBEDATEN UND FILZPATSCHEN

Und dann die Überraschung: Den Friseur, den Jaksche, gab es damals auch schon, wahrscheinlich der Sohn. Die Sirene heult, die Vergewisserung kommt schnell, ist das wohl immer so am Samstag? Da oben bin ich geboren, im ersten Stock haben die Karpfen gewohnt. Wo früher das Geschäft des Vaters war, hängen heute Zeitungen. Es kommt doch zu einer Begegnung mit einem Kremser: "Guten Tag, Kurt Jaksche mein Name, sind sie nicht der Kurt? "Der Kurt Karpfen wohnte im ersten Stock, mein Vater hatte das Geschäft unten, ich bin der Robert Kohn und meine Eltern haben dann im Mondschein-Haus gewohnt." "Ja, ihrem Vater habe ich immer die Haare geschnitten und der hatte wunderschöne Filzpatschen. Ich hatte doch meine Jugend zwischen den beiden Geschäften." Sterbedaten werden ausgetauscht und Erinnerungen." "Die Väter sind immer vor dem Geschäft gestanden, es war j a nicht viel zu tun und ihr Vater hat herüber gerufen: Herr Jaksche, mein Robert macht Gold. Bei Kleinkindern war das wichtigste ja der Stuhlgang, verstehen sie." Lokalgeschichte: Neben dem Friseurgeschäft des Vaters war zuerst die Mehlhandlung Provin und dann das Textilgeschäft des Juden Bieler, das Haus zur Billigkeit. "Kein Kremser, dem hat aber das Haus gehört", meint Jaksche. " Das war das Tragische, der Bieler wollte meinen Vater aus dem Haus haben und hat das Haus für baufällig erklärt, ich war damals sechs Jahre und habe das miterlebt. Es war schon eine Räumungsklage, die Familie hat geheult, und dann kam das Jahr 1938, da war dann alles umgekehrt, der Bieler war dann über Nacht weg." Robert Kohn: "Hören Sie, es gibt bei allen gute und schlechte." "Ich weiß schon," meint Jaksche, "ich wollte ihnen nur die Geschichte erzählen." Krems, Samstag, 8. September 1990,12 Uhr 15. Kurt Jaksche: "Und wie fühlen Sie sich, wenn sie jetzt wieder in Krems sind?" "Ich gehe zwischen den Erinnerungen, aber zum Glück war ich 1938 nicht mehr da, ich bin ja schon vorher weg." Im Weggehen der Nachsatz: "Was der Jaksche über den Juden Bieler erzählt hat, das ist menschlich verständlich, wie kann man so etwas machen." Nach einem Gespräch zwischen erstem Stock und ebener Erde kommt es auch zu einem Wiedersehen mit der Tochter des ehemaligen Hausherren von Robert Kohn, mit Frau Göschl.

DAS JÜDISCHE HEIM VON KREMS

Schulkinder laufen die Schumachergasse hinunter, an das Trödlergeschäft der Tante Julie Wolf erinnertl 990 nichts mehr. "Ach, die war so neugierig, wenn wir hier vorbeigegangen sind, ist sie immer heraußengestanden und hat gefragt: Na wo wart ihr denn?" Ecke Churanek, Göglstraße: Ein spätes Bekenntnis: "Hier habe ich dich das erstemal gesehen, ich bin da herunter gekommen und du bist da vorbeigegangen – Richtung jüdisches Heim." Solch eine Verbindung zwischen dem gesellschaftlichen jüdischen Leben in Krems und der persönlichen Geschichte schärft die Erinnerungsgabe, die weder durch Jahrzehnte noch durch Bombenschäden – das Gebiet rund um den Eisentürhof wurde während des Bombardements von Krems im April 1945 ebenfalls zerstört – getrübt werden können. Nach wenigen Minuten stehen wir vor dem ehemaligen jüdischen Heim in Krems, wo heute Autos parken. Ein Regenguß erzwingt die Beendigung des Spazierganges durch die Erinnerungen. Zuflucht bietet der Goldene Hirsch auf dem Dreifaltigkeitsplatz. "Weißt Du, was ich mir jetzt bestelle, ein Gulasch." Als der Kellner den Teller über das mit einer Plastikfolie geschützte Tischtuch schiebt, kommt eine Bestätigung, die sich Robert Kohn selbst ausstellt: "Ja, so habe ich den Geruch in Erinnerung, so riecht das Gulasch nur in Krems."

weg S 195:

Robert und Hilde Kohn in Krems 1990
"An dieser Stelle habe ich meine spätere Frau
zum ersten Mal gesehen."