Die ‚Gauhauptstadt‘ war niemals ‚judenfrei‘

Die ‚Gauhauptstadt‘ war niemals ‚judenfrei‘
Es gehört wohl zu den paradoxesten Erscheinungen der politischen Geschichte der Stadt Krems, daß trotz der langen antisemitischen und nationalsozialistischen Tradition, trotz der Ernennung zur Gauhauptstadt, kein einziges Mal in der Zeit zwischen 1938-1945 die Schlagzeile publiziert werden konnte: „Krems ist judenfrei“. Krems war niemals „judenfrei“. Die Zahl der Juden, die 1938 Krems verlassen hatten, kann auf rund 100 Personen geschätzt werden.‘ Im Gegensatz zu Städten wie Horn, wo die Vertreibung kollektiv auf Lastwagen erfolgte, setzten die NSDAP Krems und ihre Gliederungen auf einen permanenten Terror als Mittel zur Vertreibung der Juden. Daß auch den Kremser Juden ein Termin gesetzt wurde, der mit der jährlichen Abgabe der Haushaltslisten zusammengefallen sein dürfte, geht aus der Erzählung von Johann Kohn hervor, der mit dem Hinweis auf die Abgabe dieser Listen von seinen Freunden gewarnt wurde. Gertrude Hirsch (geb. Pisker, vereh. Erlanger) kam nach dem „Anschluß“, den sie bei ihren Eltern in Knittelfeld erlebt hatte, nochmals nach Krems, um Formalitäten zu erledigen. Über den Druck zur Ausreise berichtet sie folgendes: Erlanger: „Wir haben die Befehle bekommen und mußten bis dann und dann die Wohnung aufgeben.“ Frage: „Kam da ein Brief?“ Erlanger: „Das weiß ich nicht mehr, wie der Befehl war. Aber an einem bestimmten Datum mußten wir weg und nach Wien. Dort durfte man keine Wohnung haben und mußte wieder zu Juden ziehen.“2 Neben den in einer Liste im Jahr 1940 erfaßten „Glaubensjuden“ lebten in Krems nach den damaligen Gesetzen noch eine Reihe von Personen „jüdischer Abstammung“. Wie diese Personen überlebten, ist eine eigene Geschichte, wobei eine Hauptrolle dabei die Beziehungen zu Vertretern der NSDAP und ihrer Gliederungen gespielt haben dürften. So weist zum Beispiel Frau Ida Ptak darauf hin, daß ihr als „Volljüdin“ ihre Wohnung in der Rosseggerstraße weggenommen hätte werden sollen und sie sich daraufhin mit Dr. Max Thorwesten in Verbindung gesetzt habe, der ein Schulkamerad ihres Sohnes Emil Ptak war. „Dieser versprach ihm, daß er sich für ihn einsetzen werde und gab ihm eine Bestätigung dahin, daß mein Sohn Hauptmieter sei. Da mein Sohn nur jüdischer Mischling war, konnte er sich leichter behaupten und wir behielten die Wohnung.“ 3 Im Fall von Frau B., die heute noch in Krems lebt, dürften Beziehungen und die Tatsache, daß sie mit einem „Arier“ verheiratet war, wesentlich dazu beigetragen haben, daß sie in Krems überleben konnte. Dazu kommt noch, daß Frau B. keine gebürtige Kremserin war, sondern erst durch Heirat 1936 nach Krems kam und etwas außerhalb der Stadt wohnte. Der Mann von Frau B. war mit dem SA-Standartenführer Leo Pilz in die Schule gegangen. Als Frau B. den Judenstern tragen mußte, sei er, so Frau B., zur Parteistelle in Krems gegangen und habe sich beschwert: „`Ich halt für euch draußen an der Front den Kopf hin und meine Frau soll den Stern tragen‘, so oder so ähnlich hat er es erzählt.“4 Mehmals wurde Herr B. nach Angaben der Familie von Leo Pilz aufgefordert: „Gib‘ ihr einen Tritt in den Arsch und du bist ein gemachter Mann.` Daß Frau B. tatsächlich keinen Judenstern tragen mußte, geht aus der Erzählung einer Tabakarbeiterin hervor, die Frau B. auf dem Markt in Krems getroffen hat. „Die Marktfrau hat nicht gewußt, daß wir uns kennen. Als die Frau B. weg war, sagt die eine Frau, die auch dort gestanden ist: `Wissen Sie wer das war?-Nein-Das war doch die Jüdin, die B.- Na Na sowas, wenn ich das gewußt hätte, dann hätte ich der nichts gegeben, die soll sich noch einmal zu mir hertrauen.“‚6 Praktiziert hat diesen persönlichen Boykott, der von der Marktfrau in Erwägung gezogen wurde, die Blockleiterin G.,‘ die für den Block, in dem Frau B. wohnte, zuständig war: „Wir hatten hier eine Blockfrau, die eben über alle Verhältnisse genau Bescheid gewußt hat, die hat gewußt, daß ich Jüdin bin. Daher hat sie auf meine Karte ein großes J geschrieben. Auf den Karten, die alle bekommen haben, hat sie mir aus eigenem immer meine Fleischmarken gestrichen.“ Der Mann von Frau B. beschwerte sich persönlich bei der Blockleiterin, nachdem er von Bekannten von der demütigenden Prozedur erfahren hatte. „Mein Mann ist, so wie er war (in Uniform, Anm. R. St.) zu ihr hingegangen und hat sie darauf angesprochen. ‚Wie können Sie meinen kleinen Kindern das letzte was sie bekommen wegnehmen?‘ Da hat sie sich niedergekniet, das war schon 1944. ‚Wenn Sie ein Mann wären, dann würde ich sie mit dem nächstbesten Trumm erschlagen.‘ Sie war feig, furchtbar feig. Nur mit mir hat sie gemacht, was sie wollte, weil ich rechtlos war.“

Die Mutter hat heimlich Geweint
Beide Kinder von Frau B. durften nur die Volksschule besuchen. Sowohl Fritz B., der Sohn, wie Hannah Kienbacher, die Tochter, bestätigen, daß ihre Mutter es sehr gut verstanden habe, die Kinder nichts von ihren Sorgen merken zu lassen. „Nur manchmal in der Nacht, da habe ich gemerkt, daß sie geweint hat, furchtbar geweint. Ich habe mir damals nicht erklären können, warum.“ Zu diesem Zeitpunkt weinte Frau B. um ihre Angehörigen, die in der Tschechoslowakei gelebt hatten und in ein Konzentrationslager verschleppt worden waren. („Die Mama hat ihnen immer Pakete geschickt, da war nicht viel drinnen, das war immer eine Prozedur. Da ist das Brot immer im Rohr getrocknet worden, damit es nicht schimmelig wird.“)8 Daß beide Kinder (Fritz war 1938 sechs Jahre, und Hannah vier Jahre alt) mit dem Jahr 1938 zu Außenseitern wurden, merkten sie nicht im vollen Ausmaß. Für Fritz B. war das Ausgeschlossensein „nicht so dramatisch. Wir haben so und so immer auf der Gasse gespielt.“ Für Hannah Kienbacher entstand dadurch keine „Kluft“ zu den Freundinnen, da die Nachbarn ihre Kinder auch nicht in die Heimabende geschickt hätten, „weil wir ganz einfach viel zu weit weg von der Stadt gewohnt haben.“ Erst im Zusammenhang mit einem Küchengespräch wurde es für Hannah Kienbacher faßlich, daß die Zeit eine Umwertung der Werte mit sich gebracht hatte: „Die einzige Szene, an die ich mich noch erinnern kann, als ob es gestern gewesen wäre. Da sind Bekannte von uns und meine Mutter in unserer Küche gestanden und haben getuschelt, aber nicht heimlich, sondern ich habe den Eindruck gehabt, die reden so, daß es nicht unter ihnen bleibt. Da hat es geheißen, daß der Vater von I., einer Schulfreundin, gar nicht der richtige Vater ist, sondern daß die I. von einem anderen Mann sei. Damals hab ich das nicht verstanden, warum das plötzlich ein Vorteil sein sollte, wenn der Vater nicht der Vater war. Warum das jetzt herumerzählt wird, warum es jetzt wichtig sein sollte, daß dies möglichst viele Menschen wissen.“ In der Schule wurde Hannah von ihrer Lehrerin „besonders liebevoll behandelt“. „Im Jahr 1944, da hat sie mir über den Kopf gestrichen und zu mir gesagt, auch du wirst einmal in die Mittelschule gehen, es wird noch ein bißchen dauern, aber nicht mehr lange.“

Ganz anders als Familie B., die geographisch abseits wohnte und bei der es zum Beispiel kein Geschäft zu arisieren gab, erlebte Ilse Iraschek (geb. Neuberger) ihre Schulzeit („Mir haben sie `Judenmensch‘ nachgerufen“)‘. So gab es in der Schulklasse der Übungsschule Eltern, die ihren Kindern verboten hatten, neben Ilse zu sitzen. „Manche Lehrer haben mich das sehr fühlen lassen.“ „Wir sind einmal auf der Straße gegangen und eine Lehrerin fällt nieder. Sie kommt dann zu mir her und haut mir eine Ohrfeige rein und sagt, ich hätte ihr den Fuß gestellt. Die haben mich dann aus der Schule hinausgeschmissen. Ich hab‘ mitten unterm Jahr in die normale Volksschule müssen. Der Direktor der Übungsschule, das war der Prof. Metzger.““ Der ehemalige Hauptschuldirektor Benedikt Lethmayer bestätigt, daß Ilse Iraschek aus der Übungsschule der Englischen Fräulein „aus rassischen Gründen“ in die Volksschule am Hafnerplatz überstellt wurde und später in die „Ab-schlußklasse, in der nur geistig minderbefähigte, d.i. zum Besuch der Haupt- bzw. einer höheren Schule ungeeigneten Schüler gesammelt werden, abgeschoben werden sollte.““ Die Übernahmne in die Hauptschule, deren Direktor Lethmayer zu diesem Zeitpunkt war, erfolgte schließlich im Einvernehmen mit dem Kreisschulrat und konnte von Ilse Iraschek „trotz wiederholter Anfeindungen“ abgeschlossen werden. Prof. Herta Melasfeld, die zu dieser Zeit strafversetzt in der ehemaligen Schule der Englischen Fräulein unterrichtet hat, erinnert sich an drei „Mischlinge“. „In der vierten Klasse hat unser Direktor zu ihnen gesagt, auf der Hochschule wirst du Schwierigkeiten haben, bitte, wenn du nicht gleich heiraten willst, dann mache einen Dienst, allzuviel Leistung bringst du nicht im geistigen Revier, wir verlieren keinen Dichter an dir, aber ich weiß ein Hotel, da brauchen sie eine Kellnerin.“ Schwierigkeiten hatten die Kinder aus sogenannten Mischehen nicht nur in der Schule, sondern auch bei der Arbeitssuche. Wie bei Frau B. waren auch die Grinblatts, die aus Albrechtsberg vertrieben wurden, in Krems nicht bekannt. Ähnlich verhält es sich bei Leopold P., der in den dreißiger Jahren mit seiner Mutter von Passau nach Krems kam.` Nachdem Gabriele Grinblatt bei der Schneiderin Stratzkanei in Krems im Herbst 1939 Arbeit fand, wurde sie nach acht Tagen aufs Arbeitsamt geschickt, wo man ihr mitteilte, daß sie nicht weiterlernen dürfe. „So naiv war ich und meinte, wenn ich nicht Schneiderin werden darf, dann lerne ich eben Friseurin. Ich mußte dann zum Kreisleiter und der hat mich über meinen Namen ausgefragt. Wieso ich Grinblatt heiße und so. Ich konnte dann bleiben und mußte nur unterschreiben, daß ich meine Ersparnisse nicht ins Ausland mitnehme. Ich habe sowieso nichts verdient.“ 3 Erst im Nachhinein erfuhr Frau R., daß in der Schneiderei die Mädchen gefragt wurden, ob sie etwas dagegen hätten, mit ihr zu lernen. „Nur ein Mädchen hat gemeint, da müsse sie erst ihren Papa fragen. Da haben die anderen gleich Feuer geschrien.“

Der Jahnsportler und die Jüdin
Abschließend sollen zwei Fälle dokumentiert werden, die zeigen, daß Interventionen in „rassischen Fragen“ nicht immer erfolgreich waren. Leopold Steinberger war seit seinen Jugendtagen in der nationalen Bewegung-vor allem in Turnvereinen – tätig und führte in der Turngemeinde Großkrems nach dem Anschluß auch die Kraftsportriege. Verheiratet war dieser „Jahnsportler“ allerdings mit einer Jüdin, von der er sich 1938 scheiden läßt. Im Jänner 1939 interveniert Steinberger bei Gauleiter Bürckel, da sein Sohn auf das Ehebewilligungsgesuch vom Juni des Vorjahres bisher noch keine Antwort erhalten habe. („Obengenannter ist Mischling, dadurch daß meine gewesene Frau jüdischer Abkunft ist „)14 Eine Nachbarin von Leopold Steinberger in der Missongasse in Krems berichtet, daß der Mann seiner Frau solange eingeredet habe, daß sie in Krems nicht mehr sicher sei, bis sie nach Wien gegangen sei, wo sie in einem Rüstungsbetrieb Schwerarbeit verrichten mußte. „Als er die Frau weggehabt hat, dann hat er mit seiner Freundin zusammenleben können.““ Leopold Steinberger, der als Parteianwärter für seine nationale Einstellung Bestätigun-gen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, der Deutschen Arbeitsfront und des Schulvereins Südmark erbingen konnte, mußte ein halbes Jahr auf eine positive Antwort warten, in der es lediglich hieß, daß die Eingabe an die zuständige Behörde „zur beschleu-nigten weiteren Veranlassung zugeleitet (wurde).“ Im Fall des Fast-Parteigenossen Leopold Steinberger wurde das Ansuchen zumindest mit Verspätung einer „beschleunigten Veranlassung“ zugeführt, wohingegen Herbert Müllers Bemühungen, in der Privatwirtschaft Arbeit zu finden, nach 1938 daran scheiter-ten, daß er als „Mischling 1. Grades“ angesehen wurde. Trotz eines ausführlichen Lebens-laufes, in dem die verschiedenen persönlichen und familiären „nationalen Verdienste“ hervorgehoben wurden, hieß es in der Antwort, daß gemäß einer Anordnung des Stellvertreters des Führers die Partei und ihre Gliederungen zur „strengsten Neutralität“ verpflichtet seien, was „wirtschaftliche Bestätigungen für Mischlinge“ betreffe.` Die 72-jährige Mutter Herbert Müllers wurde auf Grund einer Äußerung bei der „Arisierung“ ihrer Wohnung in Krems verhaftet und einem Sondergericht überstellt, weil sie bei der „Amtshandlung“ nach jenen Pillen verlangte, „wie die Irren in der Heilanstalt sie bekommen.““ Ohne mich auf nähere Angaben stützen zu können, möchte ich noch auf Josef Sallaba hinweisen, der in einem kurzen Lebenslauf in einem Ansuchen an die Opferfürsorge schrieb, daß er als „Mischling 1. Grades“ als Hilfsarbeiter im Getreidespeicher in Krems arbeiten mußte. („Während dieser Zeit hatte ich schwer unter der Rassenverfolgung zu leiden.“)“ Lediglich durch Interviews ist der Fall des Arztes Albert Neuner, der auch der Betriebs-arzt der Tabakfabrik war, belegt. Da Neuner über gute Drähte zur NSDAP verfügte, er soll illegales Mitglied gewesen sein und größere Geldbegträge gespendet haben, behielt er seinen Posten in Krems. Den Interviews zufolge soll Neuner jüdischer Abstammung gewesen sein und nach dem Krieg 1945 im amerikanischen Teil des besetzten Österreich auf diese jüdische Abstammung hingewiesen haben.“

Anmerkungen

1 Hannelore Hruschka: Die Juden in Krems. Bd.2. S.223
2 Gertrude Erlanger (geb. Pisker). Interview
3 Vg 8r Vr 6595/46 gegen Dr. Max Thorwesten. Zeugenvernehmung von Ida Ptak vom 10.2.1947
4 I. B. Interview
5 Ebd.
6 Pauline Auer. Interview
7 Auf Wunsch von Frau B. wird der Name der Blockleiterin, die heute noch in unmittelbarer Nähe wohnt („wenn ich beim Fenster hinausschaue, dann sehe ich ihr Wohnzimmer“) nicht ausgeschrieben.
8 Fritz B. Interview
9 Ilse Iraschek. Interview am 5.8.1987
10 Ebd. Prof. Metzger, illegaler Organisator der NS-Lehrerschaft, Direktor der Lehrerbildungsanstalt.
11 Privat. Bestätigung von Benedikt Lethmayer vom 10.2.1960.
12 Prof. Herta Melasfeld. Interview
13 Leopold P. Interview
14 Gabriele R. (geb. Grinblatt). Interview
15 AVA. Bürckel-Bestand/Personenregistratur. Leopold Steinberger K 89 0 183
16 Maria Pfriemer. Interview
17 AVA. Bürckel-Bestand/Personenregistratur. Herbert Müller K 60 0 124
18 Vgl. ebd. Schreiben aus der Kanzlei des Reichsstatthalters (Knissel i.A.) an Herbert Müller vom 21.2.1939
19 DÖW 5733a Gestapotagesbericht Nr. 11/27.1.1942. Zitiert nach: Friedrich B. Polleross: 100 Jahre Antisemitismus im Waldviertel. Krems. 1983. S. 81
20 DÖW 9985. Schreiben von Josef Sallaba ohne Datum
21 Albert Neuner arbeitete nach 1945 als Arzt in der Gebietskrankenkasse in Linz. Sein Sohn lehnte ein Interview ab.