Die Mühen der Ebene

Als der Krieg ausbrach, war ich von dem brennender Wunsch beseelt, etwas zum Sieg beitragen zu können. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass England siegreich sein würde, und wie viele andere dachte ich, der Krieg würde binnen Jahresfrist zu Ende sein. Was für eine unschuldige Naivität! Ich sah mich selbst schon als große Heldin. Ich schrieb dem Home Office, dem Innenministerium, und bot mich für einen Einsatz hinter den feindlicher Linien, als Spionin, an. Etwa in Österreich, meinem Geburtsland. Um den Nazis ein Schnippchen zu schlagen und den Krieg für England zu gewinnen!

Ich lebte in einer Traumwelt, bis ich die Antwort erhielt, Ich war einigermaßen niedergeschlagen, denn ich hatte nicht mit einer Absage gerechnet. Viel später war ich dankbar für diese Ablehnung, als ich erkennen musste, dass ich absolut keinen Orientierungssinn hatte. Ich hatte immer nur sehr vage Vorstellungen von Nord und Süd, Ost und West, und ich möchte gar nicht daran denken, was für Fehler mir unterlaufen wären. Ungezählte Male habe ich mich verirrt, wenn ich an einem mir unbekannten Ort war.

Aber ich meinte es gut und war immer noch bereit, zum Sieg in diesem Krieg als Krankenschwester beizutragen. Es war vielleicht ein bescheidener Beitrag gewesen, aber als die braune Pest im Mai 1945 besiegt wurde, schmückte ich das Fenster meines Hauses mit dem Victory-Zeichen. Am liebsten hätte ich das V auf mein Haus gemalt, aber zu mehr als einem Fensterschmuck hatte ich das Geld nicht. Im Mai 1945 wurde ein Kapitel Weltgeschichte entschieden, und auch ich hatte es in meinem Leben geschafft, war Bezirkskrankenschwester in einem kleinen Ort in Essex, hatte ein eigenes Häuschen und konnte meine Kinder zu mir holen. Ein harter Kampf war gewonnen.

Im Rückblick muss ich gestehen, dass ich nicht unbedingt die bestgeeignete für diese Arbeit war. Ich war voll der besten Absichten und voll Begeisterung, aber ich war zu weich, zu zimperlich, zu unerfahren und viel zu leicht durch die rauhen Seiten des Lebens aus der Fassung zu bringen. Es wurde ein harter Kampf gegen mein inneres Wesen. Ich schreckte vor dem Grauen des Krankenhausalltags zurück. Wenn ich abends auf mein Bett fiel, war ich meistens erschöpft und zerschlagen von all dem Leid, das ich den Tag über mit ansehen hatte müssen.

Glücklicherweise wurde ich schon bald von meiner ursprünglichen Absicht, als Krankenhausschwester zu arbeiten, durch eine Hebamme abgebracht, die mich überredete, ebenfalls als Hebamme zu arbeiten. Sie meinte, das Land dürste nach Hebammen, von denen es viel zu wenige gäbe. Die Vorstellung gefiel mir gut. Ich habe Babys immer geliebt, schon als Kind habe ich mich lieber um Babys als um meine Puppen gekümmert. Also begann ich in einer Geburtsklinik, die auf Problemgeburten spezialisiert war.

Wir waren die letzten in der Spitalshierarchie, minderer noch als Dienstboten. Neben unseren Hebammenaufgaben und dem Besuch der Kurse mussten wir putzen, den Nachmittags-Tee servieren, penibelst auf die Diätvorschriften achten und häufig auch das Nachtmahl verfüttern. Da musste dann meistens sogar ausserhalb unserer Arbeitszeit geschehen. Wir begannen um 8 Uhr morgens und waren erst um 8 Uhr abends fertig. Drei bis vier Stunden bliebet tagsüber arbeitsfrei. Die reichten uns gerade für das Schlange gestehen um unser Essen, das Zurückbringen der Tabletts noch mit dem letzten Bissen im Mund, um dann, hastig nach unseren Mänteln greifend, im Höchsttempo auf die Universität zu rasen, wo wir gerade noch rechtzeitig zu den Vorlesungen ankamen.

Ich hätte mich nie getraut, den Hörsaal zu betreten nachdem die Vorlesung schon begonnen hatte. Schließlich ging es mir auch darum, in der ersten Reihe zu sitzen, denn ich hatte immer noch Schwierigkeiten mit der Sprache. So aber konnte ich die Mundbewegungen des großen Mannes beobachten und ihm daher leichter folgen. Es waren nicht immer sehr artikulierte Laute, die ich hörte, und häufig klangen sie für uns künftige Hebammen so zynisch und herablassend, dass ich gewissermaßen erst ihr Spreu von Weizen trennen musste, was eine weitere Verständnisschwierigkeit bedeutet, wenn man an jedem Wort hängt. Es war eine ziemlich einsame Stellung, da in der ersten Reihe alle anderen drängten sich in den hinteren Reihen. Ich fühlte mich sehr verletzbar, und oft schien es mir, als sei de: witzige und oft bissige Sarkasmus der Professoren an mich persönlich gerichtet. Sie müssen sich oft gefragt haben, ob ich ein bewunderndes Weibchen war, das mit seinen Augen an ihren Lippen hing, oder ob ich eine offene Gegnerin war die sie respektlos herausforderte. Nur mit Röntgenblicken wäre es offenkundig gewesen, dass keines von beiden stimmte und ich vor Angst zitterte.

Meine Aufgaben, um zur Sache zu kommen, bestanden vor allem in der Versorgung mit Bettschüsseln, im Waschen, Füttern und Pflegen. Ich war ständig im Konflikt mit der Oberin. Sie war ein echtes Streitross und hasste mein gelocktes Haar. Es war damals die Regel, ein Hebammenhäubchen zu tragen, das fest auf der Stirn saß, bis zu den Ohren reichte und kein Haar hervorblicken ließ. Ich straffte täglich meine Haare an meinen Kopf, aber bis zu der Stunde, in der die Oberschwester ihre Runde machte, tanzte das Häubchen bereits wieder auf meinen Locken, die an allen Enden herauslugten. Es war kein Wunder, schließlich rannte ich seit 8 Uhr herum wie ein gehetzter Hase. Aber für die Oberin war das ein rotes Tuch. Im gröbsten Ton teilte sie mir mit, dass ich nie Hebamme werden würde, denn die erste und oberste Pflicht jeder Hebamme sei Reinlichkeit und Ordnungssinn. Diese Vorwürfe schnitten mir ins Herz, denn ich war immer sauber und ordentlich, wenn man von meinem ungestümen Haar absah. Ausserdem erwischte sie mich öfters dabei, wie ich durch die Klinik lief, was ihrer Meinung nach eine unentschuldbare Sünde war. Laufen sei nur im Falle eines Brandes oder einer Blutung erlaubt. Sie war allerdings nicht bereit mir zu erklären, wie ich wissen sollte, ob es sich um einen Notfall handelte, wenn ich auf das Läuten aus einem Zimmer reagierte.

Sie war ein Drache und wusste genau, dass ich nicht weglaufen konnte, was auch immer sie zu mir sagen würde und wie unfair sie mich auch behandelte. Ich hatte meine eigene Art, darauf zu reagieren, verpatzte keine einzige Prüfung und schaffte die erste Teilprüfung auf den ersten Anhieb.

Ich hatte mich rechtzeitig um einen Platz in einer Entbindungsklinik im Südosten Englands gekümmert, wo ich den zweiten Teil der Ausbildung ohne Unterbrechung machen konnte.

Nach der Prüfung, aber noch bevor die Ergebnisse bekanntgegeben waren, rief sie mich in ihr Büro und forderte mich auf, eine Anmeldung für den zweiten Ausbildungsteil in einem nahegelegenen Krankenhaus zu unterschreiben, damit ich nach Abschluss der Ausbildung wieder in ihr Krankenhaus zurückkommen könne.

Es war eine große Genugtuung, dass ich ihr sagen konnte, dass mein Vertrag mit ihr ausgelaufen sei und ich am nächsten Tag abreisen würde. Die Ergebnisse, die ihren Vorhersagen zufolge ja ohnehin negativ sein mussten, möge sie mir doch nachschicken. Ich entschuldigte mich und ließ sie, wütend, stehen. Es war trotzdem traurig, als ich mich von der Schwester im Kreißsaal verabschiedete. Sie war eine hervorragende Hebamme und ich hatte viel von ihr gelernt.

Heute kann ich nur mehr darüber lachen, wenn ich an die Angstzustände denke, die mich während des ersten Teils meiner Ausbildung immer wieder befielen. Natürlich war mir das alles sehr fremd, und ich hatte meine frühe Jugend schon hinter mir, die einem normalerweise hilft, die Dinge etwas leichter zu nehmen. Ich hatte immer schon große Angst vor abnormalen Dingen gehabt. Ich hatte noch nie irgendjemanden tot oder auch nur ohnmächtig gesehen gehabt, ausser meiner Mutter. Aber meine Mutter war nicht irgend jemand, tot oder lebendig war sie meine Mutter. Unter ausserdem, nebenbei bemerkt, sah ich sie auch nur für einen wirklich kurzen Augenblick als Tote.

Da es sich aber nun einmal um ein Krankenhaus für abnorme Fälle handelte, sah ich etliches Ungewöhnliche, was mich von einem Grauen in das nächste stürzte, oder von der Ekstase über den ersten Schrei eines Neugeborenen in die Abgründe der Verweiflung, wenn ich miterlebte, wei eine Mutter starb. Ich musste mehr als einmal ermahnt werden, mich emotional von meinen Patienten abzulösen. Es war eine der harten Lektionen in meinem Leben.

Als ich meinen Dienst in der allgemeinen Abteilung des Krankenhauses zu leisten hatte, wurde ich zu meinem Entsetzen eingeteilt, in der Leichenkammer zu arbeiten. Das bedeutete, dass ich täglich in diese ammer gehen und die Namensschilder überprüfen musste, die den Toten an der Brust befestigt worden waren und Sterbedatum und -urasche trugen. Das war für mich der Höhepunkt des Grauens. Es war damals Krieg und Verdunkelung. Der ganze hof und der Zugang zur Leichenkammer lagen im Dunkeln, und ich musste, mit schlotternden Knien, mit einer Taschenlampe in der Hand die Tür öffnen. Man musste dann etwa zehn Schritte machen, bis man den Lichtschalter erreichte, und natürlich musste man vorher, wegen der Verdunkelungsvorschriften, die Tür wieder schließen. Es kostete mich die letzte Willenskraft, zu den einzelnen Wagen zu gehen, die Decke anzuheben und die Angaben auf den Zetteln zu überprüfen. Ich war häufig nahe dran, zu schreien.

Das schlimmste Erlebnis in diesem Zusammenhang kommt mir heute wie eine Straflektion für meine damalige Feigheit vor. Vor toten Babies hatte ich nicht dasselbe Grauen wie vor anderen Leichen. Auf dem Weg zur Leichenkammer vergoß ich oft heiße Tränen über sie, häufig in der uneingestandenen Hoffnung, dass ich sie wieder zum Leben erwecken könnte, wenn ich sie nur fest genug an mich presste.

Eines Nachts sollte ich einen jener kleinen Engel hinunterbringen, und ich nahm bei dieser Gelegenheit gleich meine Liste mit, um die Zettel zu überprüfen. Ich fühlte mich besonders schlecht und plante, in der Wäscherei oder sonstwo einen Pförtner zu fniden, der mit in die Totenkammer mitgehen könnte. Ich schob also das Wägelchen mit dem kleinen Baby langsam durch den Hof vor mir her, in der Hoffnung jemandem zu begegnen. Die Wäscherei war völlig finster und schien geschlossen zu sein. Ich ging zweimal hinauf und hinunter, aber nirgends gab es ein Lebenszeichen, was meine Beunruhigung noch steigerte. Denn ich wusste, ich würde nicht die ganze Nacht im Freien stehen bleiben können, nach einiger Zeit musste mein Fehlen auffallen. Also sperrte ich mit zitternden Händen die Leichenkammer auf. Ich machte ein paar rasche Schritte zum Lichtschalter und stieß dabei gegen einen Wagen, den jemand achtlos im Weg stehen gelassen hatte. Durh den plötzlichen Zusammenstoß glitt mir der Wage mit dem toten Baby aus der Hand, während mir gleichzeitig die Taschenlampe aus der Hand fiel. Ich war völlig blind, und der Lärm des umfallenden Wagens musste Tote zum Leben erwecken. Ich fand schließlich den Lichtschalter und blickte wirr um mich. Alles in Ordnung und totenstill.

Als ich das Baby unter einem der Totenwagen liegen sah, brach ich in Tränen aus. Ich glaube, dass diese Tränen, die nun nicht mehr aufzuhalten waren, mich vor dem Überschnappen gerettet haben. Es war merkwürdig, aber als ich das Baby aufgehoben und auf den Wagen zurückgelegt hatte, war ich in der Lage, in aller Rueh und ohne jede Hast die Zettel zu überprüfen, auch wenn ich am ganzen Körper schlotterte.

Das war das schrecklichste Erlebnis, aber irgendwie heilte es mich von dieser feigen Angst. Ich konnte es natürlich auch später nicht leiden, in die Totenkammer zu gehen, aber damit war ich nicht allein, keine der Schwestern tat das gerne.

Es gab da noch ein anderes Erlebnis, im zweiten Abschnitt meiner Ausbildung, das mich ebenso erschütterte. Ich hatte es immer vermieden, eine verstorbene Patientin waschen zu müssen. Wenn man sich um eine Patientin kümmerte und sie starb, so musste man die Tote entkleiden und waschen. Manchmal ging es nur um wenige Stunden, aber ich war immer froh, nicht Dienst zu haben, wenn eine meiner Patientinnen starb. Das kam nur im ersten Teil meiner Ausbildung vor, weder im zweiten Teil noch später, in meiner Zeit als Bezirksschwester, starb jemand in meiner Obhut.

Ich hatte eines Tages einen infizierten Finger, war nun „unrein“, was bedeutete, dass ich für die Dauer der Infektion nicht als Hebamme arbeiten konnte. Ich hatte also dienstfrei und nutzte die Zeit, meine Kinder zu sehen, die damals am anderen Ende der Stadt bei Pflegeeltern lebten. Auf dem Heimweg gab es Fliegeralarm, die Bomben kamen ganz in der Nähe herunter, unweit der Straße mit dem Heim der Bezirksschwestern. Kurz nach der Entwarnung kam ich zu Hause an. Jemand war mir gefolgt, weil er Hilfe suchte. Ich rief die Oberschwester, und während ich mir einen Kaffee machte, erhaschte ich einige Fragmente des Gesprächs.

„Ja, wir haben sie in den Luftschutzraum gebracht… sie war völlig verschreckt durch den Fliegeralarm … als dann die Bomben gefallen waren… nach der Entwarnung war sie tot!… Keine Krankenwagen frei… im Luftschutzraum lassen, bis ein Krankenwagen zu bekommen ist… wir werden gegen neun Uhr morgen Früh dort sein.“

Dann kam die Oberschwester in die Küche und nahm mir die Ruhe für die kommende Nacht. Der Fliegeralarm hatte mich nicht besonders erschüttert, aber sie schaffte es. Sie meinte, da ich ja nicht im Hebammendienst sei, solle ich mich am Morgen darum kümmern, die Tote zu waschen. Ich protestierte und meinte, ich wisse ja gar nicht, was da zu tun sei, ich hätte so etwas noch nie getan. Aber sie antwortete nur ruhig, dann sei es ja höchste Zeit, es einmal zu tun, schließlich könne ich meine Ausbildung nicht abschließen, ohne einmal einen Toten gewaschen zu haben. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen.

Am nächsten Tag wiederholte ich, dass ich ja nicht wisse, was zu tun sei, und erreichte immerhin das Zugeständnis, dass sie mir eine andere Schwester zur Seite stellen wollte, die mir zeigen sollte, was zu tun sei. Ich brachte das Frühstück nicht hinunter und schmollte. Ich war so nah daran gewesen, dieser Aufgabe zu entkommen, da wir doch als Hebammen keine Totenwäsche machen durften, weil wir in den folgenden achtundvierzig Stunden an keiner Entbindung mehr teilnehmen hätten können. Warum also musste das gerade jetzt auf mich zukommen!

Wir machten uns auf den Weg. Als wir bei dem Haus ankamen, stellten wir fest, dass es sich bei der Toten um eine ältere Frau mit ausgemergeltem Gesicht handelte, die in Panik gestorben war. Sie fletschte die Zähne, oder vielmehr ihr falsches Gebiss, und es schien dadurch, als habe sie ein hinterhältiges Grinsen aufgesetzt. Ihr Körper war schon ziemlich steif, und es war daher sehr schwierig, damit umzugehen. Ein Arm war in Panik ausgestreckt und steif wie bei einem Schreckgespenst. Es war nicht leicht, ihn wieder geradezubiegen und an den Körper zu legen, aber noch schwieriger war es, sie zu entkleiden und ihr das vorbereitete Gewand für die letzte Ruhe anzulegen.

Meine Kollegin ging die Sache sehr geschickt an, sie hatte eine Menge einschlägiger Erfahrung. Sie sah mich an und meinte nur: „Schau mir einfach zu,“ was mich sehr erleichterte. Aber der Gedanke war mir unangenehm, dass sie mit diesem Körper zu kämpfen hatte, während ich nichts tat. Als ich das Gefühl hatte, dass sie meine Hilfe benötigen würde, trat ich also zu dem Bett hin. Genau in diesem Augenblick versetzte sie dem Körper einen starken Stoß und rollte ihn auf eine Seite, wodurch mich der steife, ausgestreckte Arm so fest auf der Brust traf, dass ich das Gleichgewicht verlor und nach hinten taumelte, bis ich an der Wand Halt fand. In meinem Gesicht muss all das Grauen gestanden sein, das mich ergriffen hatte, denn meine Kollegin bekam einen Lachkrampf. Es war ein traumatisierendes Erlebnis, und ich fühlte die harte Hand auf meiner Brust noch tagelang.

Ich kam an meinem neuen Bestimmungsort Colchester in der Tiefe einer bitterkalten Nacht an, die Straßen waren spiegelglatt, und aus dem schwarzen Nichts tauchte ein jämmerlicher kleiner Bahnhof auf. Der Stationsvorstand war so freundlich, für mich im Schwesternheim anzurufen. Dort bat man ihn, mich so bequem wie möglich zu versorgen, da das einzige Auto für eine Entbindung unterwegs war. Angesichts des Straßenzustands schien es vernünftiger, die Nacht im Bahnhof zu verbringen, als mit all meinem Gepäck auf einem Fahrrad ins Schwesternheim gebracht zu werden. Der Stationsvorsteher heizte also den Ofen im Wartesaal an, brachte mein Gepäck herein und erschien nach kurzer Zeit mit einem heissen Getränk und einer Decke. Von so viel fürsorglicher Freundlichkeit ermutigt und von dem Drink belebt, trat ich vor den Eingang des Stationsgebäudes. Natürlich konnte ich nicht mehr als ein schwarzes Meer sehen. Ich zeigte in die eisige Luft und pries die Ruhe und den Frieden. Ich machte einen weiteren tiefen Atemzug, und ohne es mir erklären zu können, fühlte ich mich „daheim“ und war überzeugt, dass es mir hier gefallen würde.

Man hatte mich darüber aufgeklärt, dass ich mich in einer Schutzzone befand, wofür eine Spezialerlaubnis des „chief constable“ notwendig sei. Jedenfalls fühlte ich mich bereits entspannt und glücklich. Colchester ist eine alter romanischer Ort und stammt etwa aus derselben Zeit wie mein Geburtsort Krems in Österreich. Es ist also kein Wunder, dass es zum zweitliebsten Ort in meinem Leben geworden ist und das auch bleiben wird. Es erklärt auch, warum ich bereits im ersten Augenblick meiner Ankunft diese Vertrautheit gespürt habe.

Die erste Hälfte meines zweiten Ausbildungsabschnitts in der Geburtsklinik war praktisch ereignislos verlaufen. Nun war ich in das Bezirksschwesternheim gekommen, um die zweite Hälfte der Ausbildung zur Bezirksschwester bei den Queens Nurses zu bekommen.

Die Oberschwester dieses Heimes war eine große, knöcherne Person, mit einer immerroten Nase und einem Gesichtsausdruck, als wäre sie gerade von einem Begräbnis gekommen. Ihre Stimme war eintönig und ihr gesamtes Wesen so farblos, dass ich mich aus meiner ganzen Ausbildungszeit an keine einzige Begebenheit im Zusammenhang mit ihr erinnern kann. Sie stand damals bereits kurz vor ihrer Pensionierung.

Nach der Prüfung, noch bevor ich die Noten erhalten und die Bezirksschwestern-Ausbildung begonnen hatte, fuhr ich für einige Wochen in den Norden, weil ich einer angesehenen Gynäkologin versprochen hatte, eine ihrer Privatpatientinnen zu pflegen, bei der sie selbst eine Hausentbindung plante. Es sollte das erste Geld sein, das ich verdiente, seit ich meine Ausbildung begonnen hatte. Bis dahin ließen mir die Quäker 5 Schilling Taschengeld zukommen, von denen ich alle persönlichen Ausgaben, vom Schuster über Schreibzeug bis zu den Besuchen bei den Kindern zu begleichen hatte. Sie ließen mir ausserdem die notwendigen weißen Arbeitskleider, die Uniform in den Geburtskliniken, zukommen. Öfter hätte ich die Kinder übrigens gar nicht besuchen können, denn wir hatten im Monat nur einen freien Tag, beziehungsweise eine freie Nacht, wenn wir Nachtschicht hatten. Ich frage mich, wieviele Schwestern wohl heute unter solchen Bedingungen arbeiten würden! Ein freies Wochenende war damals völlig undenkbar.

Ich war mit meinem ersten eigenen Fall überglücklich. Keine Schwester, keine Stationsschwester, nur meine Patientin, die Ärztin und ich. Es war ein Vorgeschmack auf mein künftiges Wirken als Bezirksschwester.

Als ich von dieser Aufgabe zurückkehrte, fühlte ich mich unendlich reich! Es gelang mir, eine Pflegemutter für meine Kinder im selben Städtchen zu finden, und ich verlor keine Zeit, sie rasch zu mir in den Süden zu holen. Hier, im Bezirksschwesternheim, gab es immerhin einen halben freien Tag pro Woche! Es wurde eine neue Oberin bestellt, und mir schien es wie ein frischer Windstoß, der durch das Haus gefegt war.

Während ich meine Ausbildung absolvierte, waren meine Kinder bei verschiedenen Pflegeeltern untergebracht. Für einige Zeit hatte ich zwei Plätze in einem katholischen Internat bekommen. Als ich einmal dorthin auf Besuchkam, verschränkten die Kinder ihre Hände bei der Begrüssung hinter dem Rücken, sie wollten sie mir auf keinen Fall zeigen. Kein Wunder, denn es stellte sich heraus, dass sie über und über mit Krätze übersät waren. Ihre guten Kleider hatte man ihnen weggenommen, wir erhielten sie auch später nicht mehr wieder. Als ich meine Kinder derart verdreckt und mit Krätze übersät sah, war das zu viel für mich. Ich fragte nach dem verantwortlichen Kirchenmann und besuchte diesen Monsignore in London. Als Begleitung fuhr eine irische Schwester mit.

Wir wurden von einem Mann im vollem Ornat empfangen. Ich sagte ihm schreckliche Sachen ins Gesicht. Meine irische Begleiterin stand hinter mir, zupfte mich immer am Rock und flehte mich inständig an: „Das können Sie doch zu Monsignore nicht sagen, das ist eine Sünde.“ Wenn ich etwas nicht ertragen kann, dann ist das Ungerechtigkeit, bis heute rege ich mich darüber auf, immer noch. Ungerechtigkeiten werde ich immer bekämpfen, auch wenn es aussichtslos scheint, das kann ich nicht lassen. Ich schickte meine irische Begleiterin also hinaus und stritt mit dem Monsignore. Wenn ich nicht so wütend gewesen wäre, hätte ich mich vor ihm gefürchtet, so wild wurde er. Fast hätte er Feuer gespuckt, dann stand er mit dem Kreuz in der Hand vor mir: „Ich werde Sie exkommunizieren, Sie kommen in die Hölle.“ Mag sein, dass ich tatsächlich in die Hölle komme, aber eines war für mich sicher: Monsignore würde ich dort sicher treffen.

Ich vollendete meine Ausbildung in Colchester, und Monsignore vergass mich nicht. Regelmässig schickte er mir Priester hinterher, die mich ermahnten, dass ich Katholikin sei und danach leben müsse. Ich schickte diese Sendboten der Religion regelmässig zum Teufel.

Der letzte Erinnerungsbesuch in Sachen Religion war ein junger, sympathischer Mann. Ich war die ganze Nacht mit einer Entbindung beschäftigt gewesen und erst in der Früh nach Hause gekommen. Mein Frühstück stand noch unangetastet auf dem Tisch, als es an der Tür läutete. Der junge Priester erklärte mir, dass er von seinem Vorgesetzten geschickt sei, um mich zu fragen, ob ich zur katholischen Kirche halten würde und ob ich zur Kirche ginge. Ich war sehr grob zu ihm. „Nehmen Sie es nicht persönlich, aber eure verdammte Gesellschaft steht mir schon bis hierher, ich habe genug davon.“ Der junge Mann verließ sehr betrübt mein Haus, er tat mir fast leid. Das war jedenfalls das Ende dieser „Verfolgung“, die ein ganzes Jahr gedauert hatte.

Gegen Ende meiner Ausbildung erschien die Landesinspektren und teilte mir mit, dass sie mich einem Bezirk versprochen habe, der sehr weit von meinem Ausbildungsort entfernt sei, und wo mich die Frau des Vikars, eine Belgierin, mit offenen Armen erwarten würde. Nur das nicht! Weder konnte ich mir vorstellen, in den Armen irgendeiner Vikarsfrau zu landen, noch wollte ich diese Stadt verlassen, in der ich mich so wohl fühlte.

Das Problem war, dass das Komitee des Bezirks St. Osyth, den ich ausgewählt hatte, einen besonders schlechten Ruf hatte. Die Schwestern waren meistens schon nach einigen Monaten wieder weggelaufen. Die Vorsteherin meinte: „Das ist keine gute Stelle dort, noch keine Schwester ist dort geblieben, und du bist zu unerfahren. Es fehlt dir jede Praxis und du würdest dort sofort scheitern.“ Aber ich gab nicht nach, wenn ich meine Pflicht tat, was sollte dann schon passieren?

Was mich besonders anzog, war das Amtshaus, das die Schwester mieten konnte, statt irgendwo in Untermiete zu wohnen. Und ich benötigte dringend ein Haus für meine Kinder. Ich hatte mich ja bereits in anderen Bezirken umgesehen, aber dort gab es Öllampen, Brunnenlöcher im Garten oder das Klo im Hinterhof kurz Bedingungen, die nicht gerade für kleine Kinder geeignet waren, die einen großen Teil des Tages und häufig auch der Nacht allein gelassen werden sollten.

Ich blieb also standhaft, und schließlich meinte die Vorsteherin: „Also gut, aber komm dann nicht zu mir, dich ausheulen! Ich habe dich gewarnt.“ Ich war voll des besten Willens und konnte mir daher nicht vorstellen, warum es irgendwelche Probleme geben sollte. Aber es gab welche, und nicht wenige!

Bevor ich den Norden verließ, empfahl mir eine der Ärztinnen, als Privatschwester zu arbeiten, was ausgesprochen lukrativ sein sollte. Sie meinte, dann würde es mir auch möglich sein, meine Buben in eine gute Schule zu schicken. Ich dachte darüber nach. Einerseits würde es für meine Buben eine gute Erziehung bedeuten, für mich eine leichte Arbeit in angenehmer Umgebung, eine sichere Existenz und gutes Geld. Aber andererseits hätte es mich nicht befriedigt. Es hätte mir das Gefühl gegeben, als Parasit auf Kosten anderer Leute in deren Häusern zu leben, meine Kinder hätten kein Zuhause gehabt, ich hätte sie weiterhin nur ab und zu sehen können. Und ausserdem wollte ich für Menschen arbeiten, die mich brauchten und sich keine Alternative leisten konnten. Ich war von großem Idealismus beseelt. Ich wollte helfen, ich wollte mein Bestes geben! Ich wusste, es würde hart für uns werden, ich würde mit nichts beginnen müssen und mein Lohn würde äusserst bescheiden sein. Bezirksschwestern wurden schlechter bezahlt als Krankenhausschwestern, obwohl sie mehr Fixausgaben als diese hatten. So etwa Miete, Strom und Heizung und das Essen. Aber es war eine Herausforderung. Ich wollte meine eigenen Patienten haben, für die ich allein verantwortlich wäre, es gäbe seelischen Lohn an Stelle finanzieller Belohnung, und ich könnte mit meinen Kindern zusammen leben.

All diese Überlegungen hatte ich bereits angestellt als ich Richtung Süden fuhr. Und als der langersehnte Tag endlich kam, verließ ich das Bezirksschwesternheim, von vielen guten Wünschen begleitet, mit einer Kiste mit altem Tongeschirr im Gepäck und einem alten Fahrrad, das man mir geborgt hatte, damit ich die 14 Meilen bis St. Osyth zurücklegen und eine neue Seite in meinem Leben aufschlagen konnte.

Als ich bei dem Haus ankam, das bis auf das alte Dienstfahrrad, das in der Küche stand, leer war, fand ich im Wohnzimmer einen alten Vikar vor, der damit beschäftigt war, einen beigefarbenen Stoff an Schnüren über das Fenster zu hängen. Er stellte sich vor und erklärte, dass es sich bei dem „Vorhang“ um alte Zeppelin-Seide aus dem Ersten Weltkrieg handle, die er noch bei sich gehabt habe. Er meinte, das würde dem Raum ein Minimum an Behaglichkeit verleihen, bis ich mich um die Einrichtung kümmern könne. Ich war erstaunt über die Freundlichkeit dieses alten Herrn, denn keine der Damen des Komitees hatte je eine derartige Sorge gehabt. Auffälligerweise war auch keine von ihnen erschienen, wahrscheinlich war es ihnen mühsam, mit mir, einer Ausländerin, zu tun zu haben. Die Leute von der St. John’s Ambulance schickten im Lauf des Nachmittags ein eisernes Bettgestell, einen Polster und einige graue Decken zu mir. Meine Vorgängerin hatte bei ihrer Abreise jede einzelne Glühbirne im Haus mitgenommen. Aber es schien ein wundervoller Mond, in dessen silbernem Glanz ich mich am Abend auszog und zu Bett legte.

Mein Gepäck war bereits am Vortag angekommen, aber das Haus war so unglaublich verschmutzt, dass ich beschloss, die Koffer nicht auszupacken. Ich setzte mich auf mein eisernes Bettgestell an das Fenster, blickte in die zauberhafte Mondnacht und dachte nur: „Mein liebes Kind, du bist angekommen!“

Als ich beschlossen hatte, diesen Bezirk zu übernehmen, vereinbarte meine Vorsteherin mit dem Komitee einen Tag vor meiner Ankunft, an dem ich den Damen im Haus des Arztes vorgestellt werden sollte. Ich fürchtete mich sehr vor diesem Tag, aber als es so weit war und ich alle diese Gesichter sah, da machten sie keinen besonderen Eindruck auf mich. Der Arzt war mir zunächst eher unsympathisch, aber er sollte später ein echter Freund werden. Er war mein zuverlässigster Unterstützer und Lehrer in harten Zeiten.

Das bedeutete natürlich nicht, dass ich mich nicht über ihn ärgern musste. Er hatte eine Leidenschaft, und das waren Pferderennen. Wenn an einem Wochenende eine komplizierte Entbindung zu erwarten war, schärfte ich ihm immer ein, nicht auf den Rennplatz zu gehen, damit ich ihn auch im entscheidenden Moment rufen könne. Besonders dramatisch war es bei einer Geburt von Zwillingen. Ich wusste es bereits im siebenten Monat, dass die Frau Zwillinge bekommen würde, mein Arzt hatte es bezweifelt. Wenige Tage vor dem Geburtstermin, der auf ein Wochenende fallen sollte, ermahnte ich ihn, auf den Besuch des Rennplatzes zu verzichten. Die Frau lag in den Wehen, aber der Arzt war nirgends zu erreichen. Es waren meine ersten Zwillinge, und ich musste ohne Hilfe auskommen. Ein Kind schrie lustig, das andere wurde fast erwürgt, aber es überlebte schließlich. Am nächsten Tag las ich meinem Doktor die Leviten, aber er lachte nur und gratulierte mir.

Als er nach zehn Jahren, in denen wir gemeinsam gearbeitet hatten, starb, saß ich die ganze Nacht an seinem Bett und hielt ihm die Hand, obwohl er schon bewusstlos war. Es war mir, als würde der Boden unter meinen Füßen weggezogen.

Am Morgen nach meiner Ankunft packte ich mein Putzzeug aus und begann das Haus von oben bis unten zu schrubben. Dann wusch ich mich, legte die Uniform an und ging ins Sekretariat der Schwesterngesellschaft, um bekanntzugeben, dass ich meinen Dienst antreten wollte, wozu ich meine Bücher, die Instruktionen und verschiedene Informationen benötigte. Somit wurde ich am 15. August 1944 die neue Bezirksschwester in einem Dorf in Essex, an der Ostküste, also im damaligen Invasionsbereich. Die meisten Männer waren eingerückt, die meisten Kinder evakuiert, es gab aber jede Menge junge Frauen und alte Leute. Einige Nachbarorte gehörten ebenfalls zu meinem Revier, und es erfüllte mich mit großem Stolz, gleich für die Gesundheit mehrerer Dörfer verantwortlich zu sein.

Vor meiner Ankunft in dem Bezirk hatte der Vikar von der Kanzel aus seine Herde dazu aufgerufen, mir soviel Unterstützung wie möglich zukommen zu lassen, da ich mit überhaupt nichts anfangen müsse und keine Verwandten im Land habe. Die Leute reagierten wunderbar. Immer wenn ich von meinen täglichen Runden zurückkam, fand ich vor meiner Haustür Teller, Tassen, Töpfe, ja Möbelstücke, die mir geschenkt oder zumindest geborgt wurden. Die Leute von der St. John’s Ambulante hatten eine kleine Summe für mich gesammelt, die wie vom Himmel gesandt kam, denn mein erstes Gehalt sollte ich erst zu Monatsende bekommen.

Es war am ersten oder zweiten Sonntag, den ich in St. Ost verbrachte. Sonntag Nachmittag, die Kinder saßen um den Tisch, wir hatten unseren Nachmittagstee, ich hatte arbeitsfrei – von solchen Sonntagen gab es nicht viele. Plötzlich läutete es, ich öffnete, und draussen stand ein kleiner Mann, etwa in meiner Größe. Er trug einen schwarzen Rock und wirkte sehr feierlich. Er fragte, ob er hereinkommen könne, er habe dringend mit mir zu reden. Ich kannte ihn, obwohl er mir nicht vorgestellt worden war. Es war der Tischler, ich hatte ihn immer mit seinen Arbeitskleidern herumgehen sehen.

„Ist es denn etwas Geschäftliches?“ „Nein, nein, es ist privat, bitte, kann ich eintreten?“ Ich musste ihn hereinbitten, er nahm sich sofort einen Stuhl, setzte sich und begann: „Nun, ich wollte Ihnen vorschlagen …, ich möchte Sie gerne heiraten!“ Hatte ich mich verhört? „Was wollen Sie?“ Also fing er neuerlich an: „Ich möchte Sie gerne heiraten, Sie haben zwei Kinder, das Leben ist für Sie ein Kampf, Sie brauchen einen Mann.“

Ich brauchte aber keinen Mann, ich war selbständig. Das konnte er nicht verstehen: „Aber natürlich brauchen Sie einen Mann!“ Meine Weigerung hatte ihn verletzt, er hatte geglaubt, wenn er komme, werde ich gleich ja sagen. Zuerst hatte ich ihm eine Schale Tee anbieten wollen, aber nach seinem Antrag und seiner Empörung verzichtete ich darauf. „Sie gehen besser nach Hause. Ich habe für Sie keine Zeit.“

Der Tischler wurde grob: „Nun, wenn Sie nicht verstehen, dass man es gut mit Ihnen meint… Sie hätten es sich verbessern können.“ Ich hatte mich aber schon ausreichend verbessert, für meinen Geschmack. Ich drängte ihn förmlich zur Tür hinaus. Für Jahre sah er mich überhaupt nicht mehr an, er grüsste mich nicht einmal mehr.

Nach diesem Erlebnis wurde ich sehr vorsichtig. Ich ließ niemanden herein, fertigte alle bei der Tür ab, was immer sie wollten. Später einmal machte mir dann noch ein Mann, als ich gerade mit meinem Auto zu Patientenbesuchen unterwegs war, bei einem Bahnschranken einen Heiratsantrag. Ich musste warten, da fuhr der Mann mit seinem Fahrrad zu meinem Fenster und meinte: „Nurse?“

Ich kurbelte das Fenster herunter und hörte Unglaubliches: „Ich habe schon mehrere Male hier auf Sie gewartet.“ „Brauchen Sie jemanden? Ist jemand krank?“ fragte ich ihn ahnungslos.

„Nein, aber ich hätte Sie gerne geheiratet.“ Ich kannte den Mann gar nicht, doch er meinte, das sei gar nicht notwendig. „Müssen Sie mich kennen? Ist es nicht gut genug, dass ich Sie heiraten will?“

Ich kurbelte das Fenster hoch, und gottseidank gingen die Schranken im nächsten Moment hinauf, so dass ich weiterfahren konnte. Ich glaube noch heute, dass der Mann nicht ganz richtig im Kopf war.

Nach diesem zweiten Versuch in St. Osyth kam mir niemand mehr nahe, ich hatte es ziemlich klar gemacht. Natürlich gab es in meinem Rayon Männer, die nicht wussten, wo sie ihre Hände halten sollten, wenn ich im Haus jemand zu betreuen hatte. Ihre Hände waren meist dort, wo sie nicht sein sollten. Mein Standardsatz war immer: „Ich mag keine Hände um mich, behalten Sie Ihre Hände.“

Es war nicht leicht, als Frau ohne Mann in so einem kleinen Dorf, die Männer hatten keinen Respekt. Es war immer ein Kampf. Aber nachdem ich ein paar Mal energisch geworden war, wollte mich niemand mehr heiraten. Vielleicht stand ich dann auch schon in einem schlechten Ruf. So war es jedenfalls klar, dass die Frauen im Ort nicht auf mich eifersüchtig sein mussten. Schlimm war es immer nur, wenn meine Urlaubsvertretung einige Wochen Dienst gemacht hatte. Bei meiner Ankunft fand ich jedesmal ein großes Durcheinander vor, aufgeschreckte Frauen, die behaupteten, diese neue Schwester sei hinter ihrem Mann her. Es brauchte immer einige Zeit, bis sich die Gemüter wieder beruhigten.

Der Besitzer der Drogerie kam eines Tages zu mir und fragte mich, ob ich nicht mit ihm ins Kino gehen wolle. Ich konnte nur verwundert lachen. „Sie haben doch eine Frau, was würde denn ihre Frau dazu sagen?“ Er fühlte sich abgewiesen, und wenn ich in der Folge zu ihm ins Geschäft kam, bediente er mich ausgesprochen unfreundlich, so tief verletzt schien er gewesen zu sein. Ich zog die Konsequenz daraus, suchte mir ein anderes Geschäft und nahm sogar den Nachteil eines längeren Einkaufsweges in Kauf.

Meine Weigerung, mit dem Geschäftsmann ins Kino zu gehen, hatte Jahre später ein Nachspiel, als ich mein Haus, in dem ich als Bezirkskrankenschwester wohnte, kaufen wollte. In der Gemeinde wurde darüber in einer öffentlichen Debatte diskutiert und der besagte Geschäftsmann führte alle nur erdenklichen Gründe an, warum die Gemeinde mir das Haus nicht verkaufen sollte. Nach der Sitzung zeigte sich ein Bekannter über dieses Engagement verwundert, da konnte ich nicht umhin, ihm den Hintergrund zu erläutern und ihn gleichzeitig zu bitten, diese Erläuterung auch den anderen Sitzungsteilnehmern mitzuteilen. So konnte ich es doch noch verhindern, dass die einmalige Weigerung ins Kino zu gehen entscheidende nachteilige Folgen für mich haben sollte.

Bis September, als die Schule begann, hatte ich die wichtigsten Dinge gekauft oder geliehen, und so war ich in der Lage, die Kinder zu mir zu holen, die das Schuljahr hier beginnen konnten. Und so wurden wir wieder zu einer kleinen Familie.

Das alte Fahrrad, das für meine Arbeit zur Verfügung stand, schien mindestens eine Tonne zu wiegen, aber es gab da auch noch einen alten Austin 8, den die Schwestern-Gesellschaft vom Besitzer der Probstei geschenkt bekommen hatte. Das Auto war die erste unerwartete Hürde, die ich zu überwinden hatte. Ich konnte nicht Auto fahren, aber ich musste es können, denn die Schwester des angrenzenden Bezirks, die fünf Meilen von mir entfernt wohnte, hatte ausgerechnet den Augenblick meiner Ankunft dazu genutzt, ihr Interesse an dem Auto anzumelden. Ihr Revier umfasste ebenfalls Orte in einem Radius von 7 bis 10 Kilometer von ihrem Standort entfernt.

Es war keine Zeit, Fahrunterricht zu nehmen, selbst wenn irgendwer dafür zur Verfügung gestanden wäre. Man sagte mir, Autofahren sei so einfach wie aus dem Bett fallen. Ich hatte zwar Angst, war aber willig. Der Sohn eines örtlichen Garagenbesitzers, der nach einer Kinderlähmungsattacke von seinem Einsatz im Fernen Osten nach Hause geschickt worden war, musste zweimal wöchentlich in das städtische Krankenhaus zur Heilgymnastik gebracht werden. Er gab mir ein halbes Dutzend Lektionen, vier davon im Krankenwagen, die anderen beiden während meiner Runden – und ich war alles andere als technisch interessiert.

Wenn man von der ernsten Gefahr absieht, in die ich mich und andere dabei brachte, war es eine ausgesprochen komische Angelegenheit. Wenn ich den Wagen startete, heulte der Motor auf wie ein Zirkuspferd. Ich fuhr los wie ein Sprinter nach dem Startsignal. Ich konnte einfach nicht langsam fahren oder die Geschwindigkeit kontrollieren. Wenn ich bremsen musste, brachte ich den Wagen mit hochdrehendem Motor, auf dem Gaspedal stehend, zum Stillstand. Ich raste durch die Gegend wie ein Flugzeug. Große Schweißperlen bedeckten die Stirn meines gütigen Fahrlehrers. Wenn wir keine Leichenspur hinter uns ließen, war dies allein dem Umstand zu verdanken, dass die Straßen weitgehend menschenleer waren. Die Benzinrationierung war damals sehr streng, was zu einer erheblichen Verminderung des Verkehrsaufkommens führte und mich davor bewahrte, mein halbes Leben wegen Menschenschlächterei im Zuchthaus zu verbringen.

Nach einer Woche sagte mein Lehrer zu mir: „Also gut, ich muss jetzt für eine Weile ins Krankenhaus, du wirst es schon schaffen!“ Ich war jetzt auf mich gestellt, benötigte aber noch einen Führerscheinbesitzer, der mich begleitete. Die Sekretärin der Schwestern-Vereinigung stellte sich freundlicherweise zur Verfügung, weshalb ich ihr eine gewisse Selbstmordneigung attestierte. Nach einiger Zeit erhielt ich schließlich einen Führerschein, und nun konnte ich das Auto völlig selbständig benützen – was ich ausser für nächtliche Fahrten nicht so bald freiwillig getan hätte.

An einem wunderbaren Morgen im Mai 1945 wurde ich zu einer Geburt gerufen. Ich war ziemlich beunruhigt durch die Tatsache, dass in diesem Monat vier Geburten zu erwarten waren und die voraussichtlichen Entbindungstermini nahe beieinander, die Adressen der Mütter aber Meiler voneinander entfernt lagen. Glücklich darüber, dass es nur bei der ersten der Mütter so weit war, machte ich mich um 6 Uhr morgens auf den Weg. Ich hatte an diesem Tag eine besonders lange Terminliste, meine Patienten wohntet weit über das Gebiet verstreut. Als ich bei meiner „Mutter“ ankam, wirkte sie viel zu glücklich und entspannt für eine Frau knapp vor der Niederkunft. Ich bereitete sie, da Zimmer und das Bett vor, und nachdem ich sie einige Zeit beobachtet hatte, schrieb ich ihr auf, wo sie mich erreichet würde können, und versicherte ihr, dass vor Mittag sicher nichts geschehen werde.

Der nächste auf der Liste war ein Mann, der eines Schlaganfall gehabt hatte, er war bewusstlos und inkontinent. Er war ein schwieriger Fall und benötigte zwei Besuche täglich. Es war mittlerweile bereits 8 Uhr, und dis Sonne war ungewöhnlich heiss. Ich fuhr vor mich hin, als ich plötzlich ein Auto sah, das geradewegs auf mich zusteuerte Ich bremste scharf und riss das Steuer unsinnig nach links Mein Auto schleuderte um die eigene Achse und von eine Straßenseite zur anderen und kam mit einem ohrenbetäubenden Krachen zum Stillstand. Ich verlor das Bewusst sein…

Langsam drang eine Stimme von weit weg an mein Ohr Ein fernes: „Sind Sie in Ordnung?“ wurde immer drängen der wiederholt, und ich wunderte mich, warum man mir s, eine Frage stellte. Ich öffnete die Augen und bemerkte, da: ich völlig von zerbrochenem Glas umgeben war, das Autodach hing vor mir herunter und der strahlend blaue Himmel blickte auf mich. Ich versuchte den Kopf zu heben, aber ich verlor sofort wieder das Bewusstsein und versank in eine alles verschlingende Dunkelheit.

Als ich wieder zu mir kam, blickte ein Gesicht beim Seitenfenster herein und meinte: „Ist es nicht ein bisschen früh zum Blumen pflücken?“ Ich blickte flüchtig um mich und sah, dass der Wagen an einem kräftigen Baumstamm gelandet war, nachdem er den Zaun der Probstei durchschlagen hatte und durch den baumbestandenen Teil des Gartens gedrungen war. Ich schloss die Augen in der Hoffnung, dass es sich um einen bösen Traum handelte, der bald vorübergehen würde. Da kam wieder diese durchdringende Stimme: „Sind Sie in Ordnung?“ fragte sie, und jemand versuchte, die Fahrertür zu öffnen. Völlig benommen antwortete ich: „Ja, natürlich!“, und mit letzter Kraft schaffte ich es, bei der anderen Tür auszusteigen.

Ich fühlte mich, als hätte ich zwei Köpfe nebeneinander, und war verblüfft, dass ich sonst überhaupt nichts fühlen konnte. Der Mann, der mich entdeckt hatte, war von der Pannenhilfe und brachte mich auf dem Beifahrersitz seines Motorrades zum Dorfarzt. Der Arzt war noch im Pyjama, über den er seinen weißen Mantel anzog, um mich in seinem Auto in das 5 Meilen entfernt liegende Krankenhaus zu bringen. Dort wurde ich röntgenisiert und untersucht. Zu unserem Erstaunen war der Schädel nicht gebrochen, aber einige Rippen an der rechten Seite.

Der Arzt brachte mich nach Hause und bestand darauf, dass ich zunächst im Bett bleiben sollte, um den Schock zu verkraften. Ich sagte, ich wolle erst ein wenig in meinem Lehnstuhl Platz nehmen, bevor ich die Stiegen hinaufsteigen und mich niederlegen würde. Ich hatte aber nicht die geringste Absicht, mich an seine Anweisungen zu halten, ich war viel zu beunruhigt dazu. Nach und nach kam mir die ganze Tragweite des schrecklichen Ereignisses zu Bewusstsein: Ich würde gekündigt werden, das war mir klar, und womöglich würde ich noch den Wagen bezahlen müssen, was natürlich unmöglich war.

Meine beiden Söhne gingen damals bereits zur Schule. Ich hinterließ ihnen eine Nachricht, dass ich erst spät heimkäme und sie sich selbst um ihr Essen kümmern sollten. Glücklicherweise hatte der Mann von der Pannenhilfe auch meine Taschen aus dem Auto geborgen und mir mitgegeben. Langsam schob ich das alte Fahrrad aus dem Haus und hängte die Taschen darauf. Ich war immer noch ziemlich zittrig. Ich schob das Fahrrad durch das enge Gartentor und trug es die Stufen hinunter. Meine Rippen schmerzten jetzt, und mein Kopf war so groß und schwer, dass ich größte Bedenken hatte, ob ich das Gleichgewicht auf dem Fahrrad halten würde können.

Mein Schlaganfall-Patient wohnte zweieinhalb Meilen entfernt, ich hatte eine Menge Zeit verloren, und nun hatte ich ausserdem kein Auto! Als ich endlich bei der „Mutter“ ankam, tat sie nichts, was auf eine bevorstehende Geburt schließen ließ, sondern kochte das Abendessen. Ich traf den Arzt, der sehr verärgert darüber war, dass ich seine Anweisungen nicht befolgt hatte. Ich teilte ihm kurzangebunden mit, dass ich meine Arbeit benötigte und er mir lieber helfen sollte, damit zurande zu kommen. Er nannte mich eine sture Eselin und legte mir einen Stützverband an die Rippen, um meine Schmerzen zu lindern.

Das Auto war ein Schrotthaufen – die Leute von der Werkstatt waren überzeugt, dass der Unglücksfahrer tot sein musste – und ich musste bis in den September mit meinem Fahrrad auskommen, denn es war Krieg und nicht einfach, Ersatzteile zu bekommen.

Die Lehre aus diesem Unglück war, dass man auf einer frisch geteerten Straße nicht scharf bremst, und schon gar nicht, wenn man gleichzeitig das Steuer wild herumreisst. Ich hatte noch einmal viel Glück gehabt, sagte man mir, in neun von zehn Fällen wäre so ein Unfall tödlich ausgegangen.

Eine Woche nach dem Autounfall hatte ich drei Entbindungen innerhalb. von 48 Stunden. Wann immer ich mich über meine Patienten beugen musste, und das war ungezählte Male notwendig, drangen unüberhörbare Seufzer durch meine geschlossenen Zähne. Drei aufeinanderfolgende Nächte musste ich auf Schlaf verzichten. Es war ganz offenkundig ein Härte- und Ausdauertest.

Damals stellten die deutschen V 2, die im Volksmund „doodlebugs“ genannt wurden, die einzige, wenn auch ungeliebte, Abwechslung dar. An die Sirene hatten wir uns bereits mehr oder weniger gewöhnt.

Bis zum Ausbruch des Krieges tauschten Franz und ich regelmäßig Briefe aus, danach korrespondierten wir über Holland, und als das auch nicht mehr ging, musste ich mich hier monatlichen Rot-Kreuz-Nachrichten bedienen, wobei man sich auf zehn Wörter zu beschränken hatte. Während des Krieges kamen auch diese Nachrichten nur mehr sporadisch, manchmal monatelang nicht, dann kamen wieder mehrere fast gleichzeitig. Im letzte Kriegsjahr wurden sie völlig eingestellt und es gab keinerlei Möglichkeit der Kommunikation mehr.

Dasselbe galt für die Nachrichten von meiner Schwester Tosi, nur dass sie bereits viel früher endgültig aussetzten. Ich habe nie herausfinden können, was mit ihr geschehen ist.

Nach dem Krieg schrieb ich, sobald das möglich war meinem Mann, meiner Schwester Rosi und meinen Freunden, ohne eine Antwort zu bekommen. Darauf schrieb ich an unseren Familienanwalt, und bat ihn, nach meiner Schwester und meinem Mann zu suchen. Nach und nach kamen Antwortbriefe von Freunden, aber keiner wusste etwas übe: meine Schwester zu berichten. Viele von ihnen waren ebenfalls von ihren Wohnorten weggegangen, und da: Alltagsleben war unterbrochen worden. Mein Anwalt versicherte mir, dass mein Mann wieder in unser Haus zurück gekehrt sei, aber nicht mit ihm in Kontakt habe treten wollen. Da der Anwalt ein Freund war, beschloss er, seiner Sohn zu dem Haus zu schicken, um einen Brief persönlich abzugeben. Ihm wurde der Zutritt aber verwehrt und die Tür blieb verschlossen. Ich war von diesen Neuigkeiten mehr als beunruhigt.

Und plötzlich fiel der Schlag. Ich erhielt einen kurzer Brief meines Mannes, in dem er mir sachlich mitteilte, dass er die ganze Zeit über nicht allein habe bleiben können, und dass er nicht beabsichtige, unsere eheliche Beziehung wie. der aufzunehmen. Aber der Satz, der mich buchstäblich in; Herz traf, war: „Tu mit den Kindern was Du willst, behalte sie oder schicke sie nach Österreich, mir ist es gleich.“ Ich war erschüttert. Ich wiederholte mir diese Worte immer wieder, dann folgte mein Zusammenbruch.

Ich erinnere mich nur an Schreckliches. Ich ertrug plötzlich das Tageslicht nicht mehr, wollte nichts weiter als schlafen, nicht aufstehen, nicht mich anziehen, ich lief niemanden in mein Schlafzimmer, sprach mit niemandem, und aß nichts. Ich konnte mich nicht einsperren, es gab keinen Schlüssel, aber wenn ich Schritte hörte, die sich der Zimmer näherten, rief ich „Geh weg, bleib draussen!“

Der Arzt kam und gab mir eine Spritze. Ich kam kurz zu mir, als man mich in den Krankenwagen legte. Dann wieder, als ich Schreie an meinem Bett hörte. Es waren Krankenschwestern, die verzweifelt versuchten, mir Nahrung einzuflößen. Ich kam zu mir und fiel wieder in Ohnmacht, hatte fürchterliche Schmerzen im Kopf und in den Augen, das Tageslicht tat weh. Die meiste Zeit übe schwamm ich in einem lauwarmen Strom. Alles war sehr eigenartig, mein Kopf war völlig leer.

Später hat man mir erzählt, dass ich tagelang geschlafen habe. Eines Tages wachte ich dann auf und wollte, dass meine Kinder kommen. Die Kinder! Wo waren sie? Wo war ich gewesen? Der Arzt setzte sich an mein Bett und lächelte „So ist es schon viel besser, wenn Sie wieder anfangen, siel für die wichtigen Dinge zu interessieren. Ich kann Sie beruhigen, den Kindern geht es gut, man kümmert sich um sie. Aber Sie müssen jetzt essen und wieder zu Kräften kommen, damit Sie sich um sich selbst kümmern können Die Kinder werden bald bei Ihnen sein.“

Ich war völlig durcheinander, eine Bürde lastete auf mir aber ich wusste nicht, was es war. Plötzlich erinnerte ich mich, und Tränen schossen aus meinen Augen. Der Arzt meinte nur, ich solle mich „zum Abschluss“ noch einmal ordentlich ausweinen, und ihm dann den Grund für meine Verzweiflung mitteilen. Ich konnte nicht aufhören zu weinen, aber gleichzeitig schämte ich mich, für meine Schwäche, die so weit geführt hatte.

Der Arzt hatte mich für ein paar Minuten allein gelassen und kam jetzt zurück mit einem warmen Getränk, in denn irgend etwas drinnen war, das ich nicht identifizieren konnte. Er sagte: „Trinken Sie das, dann können Sie sich ausschlafen. Sie sind über dem Berg. Wollen Sie über alles reden?“ Ich meinte, es täte mir leid, dass ich soviel Arbeit gemacht hätte, aber ich wollte eher nicht reden. Er meinte nur: „Wie Sie wollen.“ Ich war ihm schrecklich dankbar für sein Verständnis, und dann wurde ich entsetzlich müde.

Als ich aufwachte, saßen eine Kollegin und meine Söhne am Bett. Sie erklärte mir, dass sie die beiden zu sich, auf einen Bauernhof, genommen hätte, und dass beide sich dort wohl fühlten. Sie hatte die beiden auch gleich in die Schule in ihrem Ort geschickt. Ich erholte mich jetzt rasch, sollte aber auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht gleich nach Hause gehen. Mein Inspektor arrangierte für mich einen Aufenthalt bei einer Kollegin, die ich nur flüchtig kannte, und die nach einem Grippe-Rückfall ebenfalls rekonvaleszent war. Ich war ungeduldig, nach Hause zu kommen und meine Arbeit wieder aufzunehmen, aber ich begriff, dass meine ganze Kraft für kurze Zeit verloren gegangen war, und ich nahm mir vor, mich nie wieder so fallen zu lassen. Als ich nach Hause gehen durfte, hatte ich noch eine ganze weitere Woche frei, um wieder auf die Füße zu kommen.

Ich bemühte mich, alles so weit wie möglich aus meinem Bewusstsein zu drängen. Ich wünschte, ich hätte meinen Söhnen erlaubt gehabt, ihren Vater zu vergessen. In meinem Wahn – ich hatte auf Loyalität und gegebene Versprechen vertraut – hatte ich die Möglichkeit des Betrugs nicht miteingeplant. Ich selbst hatte niemals einen Gedanken daran verschwendet und nur ein Ziel gehabt: meine Familie wieder herzustellen. Nachdem ich mir vorstellen konnte, in welchem Zustand sich Österreich nach dem Krieg befinden musste, hatte ich geplant, hier in England ein Stück Land von einem Bauern zu pachten, wo mein Mann Tiere halten und Gemüse anbauen hätte können. Ich wusste, dass er das gerne getan hätte, es war sein geheimer Wunsch gewesen, Bauer zu werden, statt das Handwerk seines Vaters zu übernehmen. Wir hatten immer Hühner und Kaninchen gehalten, und er hatte ein Stück Land bebaut, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte. Das war sein Freizeitvergnügen. Ich hatte geplant, ihn nach dem Krieg zu mir zu holen, denn ich hatte Arbeit und ein Heim. Dann hätte er entscheiden können, wie es weitergehen sollte. Aber jetzt… Jetzt, waren wir wieder auf uns selbst gestellt, wie zuvor, es hatte sich physisch nichts verändert, nur unser Traum hatte sich in Luft aufgelöst.

Ohne Lebenstraum zu sein, entspricht nicht meinem Wesen. Alles hing nun von mir ab, und wir wollten das Beste daraus machen. Ich beschloss, den Kindern die Wahrheit zu sagen. Ich erklärte ihnen auch, dass ihr Vater vielleicht eines Tages nach ihnen verlangen würde, was sein Recht sei, dass ich mich von ihm scheiden lassen wollte, und dass sie sich entscheiden würden müssen, ob sie hier oder in Österreich, bei ihrem Vater, leben wollten.

Dieser „Rückschlag“ hatte mich emotional um mindestens zehn Jahre reifer werden lassen. Physisch verausgabte ich mich total bei der Arbeit. Ich sparte mich nicht auf, und gab auch viel von meiner Freizeit auf. Und wenn auch meine Söhne dabei vielleicht manchmal etwas zu kurz kamen, ich war der Meinung, dass ich das diesem Land schuldete. Ich betrachtete nun meine gegenwärtige Heimat als das Fundament unserer Zukunft.

Rückblickend muss ich feststellen, dass mein Mann sein Leben nach sehr kurzsichtigen und kleinlichen Kriterien gestaltete, denn der Besitz bedeutete ihm mehr als seine Familie. Er brachte es nicht über sein Herz, das Haus zurückzulassen, lieber gab er seine Familie auf. Er brauchte aber eine Frau, er war ein Familienmensch. Uns benötigte er dann nicht mehr, und es war ihm gleichgültig, was aus seinen Kindern wurde. Ich konnte es einfach nicht verstehen, er war doch so verliebt in seine Kinder gewesen und ein so guter Vater.

Kurz nachdem die Russen aus Österreich abgezogen waren, fuhr ich mit meinen Söhnen das erste Mal mit einem geborgten Auto nach Österreich. So fuhr ich auch zu meinem alten Haus. Ich wollte sehen, was aus Franz geworden war.

Der Nachbar konnte sich noch an mich erinnern und erzählte mir, dass das Haus gegen Ende des Krieges von den Nazis besetzt gewesen war. Als die Russen die Hakenkreuze im Haus fanden, verprügelten sie Franz derartig, dass er für einen Tag das Bewusstsein verlor.

Mein Mann sah sehr schlecht aus, fast hätte ich ihn bedauert, er erzählte mir von seinem Schicksal und den Schlägen. Da meinte ich nur zu ihm: „Bitte nicht um Mitleid, du hast es verdient!“ Ich wollte ihn sehen und ich wollte, dass er die Kinder sieht. Er hätte doch stolz sein können auf seine beiden Buben. Aber ihm war das alles gleichgültig. Er beschuldigte mich, die Familie zerrissen zu haben, seiner Ansicht nach hätte ich nicht wegfahren sollen.

„Wenn du meinst, dass es mein Verschulden war, dann musst du dafür bezahlen, für mein ,Verschulden‘, und was du gelitten hast, war alles noch zu wenig. Du hast viel zu wenig gelitten.“

Die Bilder meiner Eltern, ein Hochzeitsbild in der Art eines Gemäldes, konnte ich im Haus nicht mehr finden, aber dafür noch einige Bücher, die ich mitnahm. Alle hätten leider in meinem Auto nicht Platz gehabt.

Einmal sah ich meinen ehemaligen Mann dann nochmals. Es war bei jenem Besuch in Österreich, bei dem ich meinem zweiten Mann, Rex, meine Heimat zeigte. Ich wollte ihm alle Orte, in denen ich gelebt hatte, zeigen: Krems, Wien, Vöslau und Baden. Bei dieser Gelegenheit besuchte ich auch Franz. Damals hatte er eine Werkstatt in einem kleinen armseligen Raum. Ich ging hinein. Als er mich sah, stellte er sich sofort mit dem Rücken zur Wand, er fürchtete sich, als ob ich ihn angreifen würde. Seine Frau meinte sofort: „Was wollen Sie von ihm, er ist jetzt mein Mann.“ Ich hätte ihn ohnehin nicht wiederhaben wollen. Ein paar Worte wechselte ich mit ihm, es waren keine Schmeichelworte. Mein Mann Rex drängte zum Aufbruch: „Was quälst du dich mit diesen alten Sachen?“ Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, ich hatte keine Sehnsucht mehr nach ihm.

1946 hatten meine Mütter, deren Babies und ich unser erstes, entscheidendes Jahr überstanden. Ich musste trotzdem noch lernen, meine Begeisterung zurückzuhalten. Ich wollte es allen recht machen, und heute weiß ich natürlich, dass das unmöglich ist. Aber es dauerte einige Zeit, bis ich das erkannte. Wenn die Entmutigung zu groß zu werden drohte, fragte ich meinen Arzt: „Was mache ich falsch?“

Er meinte nur: „Du strengst dich zu sehr an, … tu das nicht, …. du wirst es nie allen recht machen, das ist menschenunmöglich. Hör auf mich, dann ersparst du dir viel Kummer.“ Und natürlich hatte er recht damit.

Eines der ersten Fettnäpfchen, in das ich in meiner Naivität tappte, war die Bereitwilligkeit, mit der ich den Vorschlag akzeptierte, eine Wahl des schönsten Babys durchzuführen. Die Frauen, die mir das vorschlugen, versicherten mir, dass diesen Wettbewerb immer die Bezirkskrankenschwester organisiert habe. Es ging zu wie bei einer Misswahl, die Mütter stellten ihre Babys regelrecht zur Schau. Ich sollte die schönsten Babys auswählen. Ich kann mich nicht erinnern, nach welchen Kriterien ich vorging, aber es kam natürlich zu Streit und Eifersüchteleien und endete in einem großen Wirbel.

Bei einer Inspektion erkundigte ich mich dann, ob ich tatsächlich verpflichtet gewesen war, diese Wahl zu organisieren. Natürlich war ich das nicht, ich war hineingelegt worden. Die Wahl des schönsten Babys fand später auch nach meiner Weigerung mitzumachen wieder statt, aber den offiziellen Charakter hatte sie verloren.

Ich war unverbesserlich sentimental. Immer, wenn ich mich mitten in der Nacht auf den Weg machte, durch das schlafende Dorf, und erst in den frühen Morgenstunden zurückkam, wenn ein Schimmer eines rosa Lichtstreifens am Horizont einen neuen Tag ankündigte, dann fühlte ich eine Zärtlichkeit und Verantwortung in mir aufsteigen. So musste eine Königin gegenüber ihrem Land und ihren Untertanen empfinden. Was war ich doch für eine Romantikerin!

Natürlich gab es dann stets ein Erwachen. Die Dorfbewohner waren ein eigener Menschenschlag, und ich blieb immer eine Fremde. Ich konnte ihren Gedanken nie ganz folgen, und sie missverstanden vieles was ich tat, oder zumindest meine Absichten. Sie hatten nie viel Sinn dafür, darüber nachzudenken und waren viel zu beschäftigt damit, ihre kleinen Intrigen zu schmieden. Dass jeder mit jedem verwandt oder bekannt war, bot jede erdenkliche Möglichkeit für dieses Spiel, in dem ich als Pfand diente. Ich war ein gefundenes Fressen für sie und es dauerte lang, bis ich dieses dichte Netz durchschaute. Doch als der Groschen bei mir gefallen war, sagte ich zu jedem nur mehr: „Danke nein!“ Da ein kleines Lob, dort eine üble Nachrede, meistens fiel ich darauf hinein, und meistens ging es um etwas ganz anderes.

Eine Falle, in die ich nie tappte, war es, großzügig angebotenes Geld anzunehmen. Gott weiß, wie gut ich es hätte brauchen können, aber es verletzte meinen Stolz. Ich war hier, um der Gemeinschaft zu dienen, und ich wurde auch dafür bezahlt. Ich war keine Schmarotzerin, und das sagte ich auch. Es war merkwürdig, wie ich nach und nach diese Versuchung durchschaute. Wann immer man mir Geld angeboten hatte, hatte ich es abgelehnt.

Eines Tages rief mich eine Mutter an. Sie sollte ihr zweites Kind bekommen, und der Anruf kam circa um 11 Uhr abends, bei den allerersten Anzeichen der einsetzenden Wehen. Ich kam sofort und bereitete das Zimmer vor, während sie glücklich vor sich hin plauderte und mir die letzten Familiengeschichten erzählte. Ob ich schon wisse, dass Tante soundso gestürzt sei, und dass Cousin soundso eine Geliebte hätte, während deren Ehemann in der Armee sei, und so weiter. Da mir auffiel, dass bei ihr nichts weiterging, sagte ich ihr, dass ich die ganze vergangene Nacht auf den Beinen gewesen sei, und wenn nun auch alles für ihre Niederkunft vorbereitet sei, so sei sie noch lange nicht soweit. Ich wollte mich wenigstens für eine Stunde niederlegen, bevor ich am nächsten Morgen wieder hinaus musste. Ich ließ sie malerisch in ihrem Bett gelagert zurück, mit einer Wärmeflasche und zwei Schlaftabletten für den Fall, dass sie wirklich keinen Schlaf finden könnte.

Zu Hause reinigte ich meine zweite Hebammentasche und fiel ins Bett. Ich war gerade eingedöst, als ich hörte, wie jemand ans Haustor klopfte. Ich huschte hinunter und dachte, es sei mein nächster Fall. Aber es war der Ehemann der Frau, die ich gerade zurückgelassen hatte. „Bitte Schwester, kommen Sie schnell, sie ist in einem fürchterlichen Zustand und wird mich nicht schlafen lassen.“ Ich stürzte aus dem Haus, weil ich dachte, dass es sich um ein unerwartetes Einsetzen der Wehen handelte.

Aber als ich ankam, saß sie glücklich am Rand ihres Bettes, und meinte: „Es ist furchtbar, Schwester. Ich kann nicht einschlafen, und mein Mann will nicht mit mir wach bleiben. Er braucht seinen Schlaf, schließlich muss er morgen arbeiten gehen!“ Er war bereits im Nebenraum verschwunden. Die Schlaftabletten lagen unberührt neben dem Bett. Ich machte eine oberflächliche Untersuchung und sagte: „Schauen Sie, Frau B., Sie haben noch nicht die leisesten Kontraktionen gehabt. Ich kann unmöglich bleiben, um Ihnen die Zeit zu verkürzen. Auch ich muss morgen zur Arbeit gehen, und es dauert nicht mehr lange bis dahin. Und dank Ihrer Gedankenlosigkeit habe ich bis jetzt noch kein Auge zugedrückt. Ich müsste Sie am Morgen ohnehin verlassen, wenn ich meine Runde beginne.“

Sie beharrte mit Unschuldsmine: „Aber bei Frau N. sind Sie die ganze Nacht geblieben! Wieso können Sie das bei mir nicht tun?“ Ich musste mich beherrschen: „Sie hatte bereits die Presswehen, und bei Ihnen hat es noch gar nicht angefangen! Ich werde bei Ihnen vorbeischauen, wenn ich meine Morgenrunde beginne, und ich gebe Ihnen dann eine Liste, damit Sie immer wissen, wo Sie mich erreichen können. Es wird aber mindestens noch 24 Stunden dauern bei Ihnen.“

Als ich um Viertel vor neun bei ihr vorbeischaute, schlief sie fest, ohne Tabletten. Ich ließ ihr die Liste mit meinen Hausbesuchen und ging hinaus, ohne sie aufzuwecken. Was für eine verpatzte Nacht, bloß weil sie Angst hatte, weniger zu bekommen als die anderen…

So ging es aufwärts und abwärts in meinem Alltagsleben. Langsam gewann meine Erfahrung als Bezirksschwester auch Konturen. Mit zunehmender Belustigung beobachtete ich die kleinen Intrigen, die unter der ruhigen Oberfläche des friedlichen Dorflebens weiterhin gewoben wurden.

Eines Tages erhielt ich einen anonymen Brief, den ein „wahrer Freund“ unterschrieben hatte. Er warnte mich davor, weiterhin in ein bestimmtes Haus zu gehen, wo ich tägliche Besuche zu machen hatte. Die Leute dort seien falsch und redeten hinter meinem Rücken schlecht von mir. Ich war alarmiert! Ich hatte noch nie zuvor so einen Brief bekommen. Nach einigem Nachdenken kam ich aber zu der Überzeugung, dass ein Freund niemals diesen Weg gewählt hätte, und ich versuchte, den Brief aus meinen Gedanken zu verdrängen. Ich war aber trotzdem besonders aufmerksam als ich meinen nächsten Besuch in besagtem Haus abstattete, auch wenn ich dort bis dahin nie irgendeine Feindseligkeit gespürt hatte.

Ich badete die Mutter, die eine Inkontinenz hatte. Während sie mir beim Überziehen des Bettes half, erzählte mir die Tochter, eine Frau mittleren Alters, dass sie eine schreckliche Auseinandersetzung mit ihrer Cousine Winnie gehabe habe, die ihr vorgeworfen hatte, sie hätte mich bestochen ihre Mutter täglich zu besuchen, während ich deren Mutter doch nur einmal in der Woche besuchte. Winnies Mutter war freilich nicht inkontinent und benötigte auch nur ein wöchentliches Wannenbad. Ich staunte. Ich nahm also den bösen Brief zu Cousine Winnie mit und hielt ihn ihr mit den Worten ins Gesicht: „Das war nicht besonders nett, was Sie da getan haben. Ich hätte auch zur Polizei gehen können, was hätten Sie dann gemacht?“ Darauf brach sie in Tränen aus. Sie war eine sehr unausgeglichene, unglücklich verheiratete Frau, die an ihren alten Vater gefesselt war, den sie nicht leiden konnte. Ich hatte die erste Lektion in Psychologie gelernt.

Ich hatte einen ruhigen Tag hinter mir, und nach Auskunft meines Registers sollten zehn Tage ohne Entbindung folgen. Ich war gerade fertig mit meinen Aufzeichnungen, als mich ein Klopfen an der Tür aufschrecken ließ. Ich sah auf die Uhr: Es war neun Uhr abends. Es muss sich um einen Herzanfall handeln, dachte ich, während ich aufsperrte. Vor der Tür stand ein derber Bursche. Er sagte: „Ich bin der Untermieter von Frau L., und Rosi, ihre Tochter, hat furchtbare Magenkrämpfe. Bitte kommen Sie schnell!“

Ich kannte Rosi, sie war ein schüchternes Mädchen und eine der zahllosen Töchter ihrer Mutter, deren jede, nach ihrer eigenen Aussage, von einem anderen Vater stammte. Ich fragte, ob sie schon länger daran leide, und ob man ihr heisses Wasser zu trinken gegeben habe? Er antwortete: „Sie will nichts, sie verlangt nur nach Ihnen!“

Er war ein durchtrieben wirkender junger Mann, mit unappetitlich gelben Zähnen und Mundgeruch. Man hielt es kaum aus, ihm gegenüber zu stehen. Er wollte ganz offensichtlich keine weitere Fragen beantworten, sprang auf sein Fahrrad und war weg. Es war nicht so weit von mir entfernt, also sattelte ich mein Fahrrad, nahm meine „allgemeine“ Tasche mit und ein Magenpulver.

Ich hatte den Gedanken an einen angenehmen Abend bereits aufgegeben, aber ich konnte nicht mit dem rechnen, was mich erwartete. Das Haus war totenstill, es war überhaupt niemand da, ausser Rosi, die mit aller Kraft presste – sie hatte zweifellos die Presswehen. Sie hatte nichts vorbereitet, hatte bis dahin ihre Schwangerschaft verborgen gehalten, und ich weiß nicht, wie sie glaubte aus dieser Sache herauszukommen.

„Aber Rosi!“ schrie ich vorwurfsvoll. „Warum in aller Welt hast du mich nicht eingeweiht?“ Sie murmelte: „Bitte, Schwester, schimpfen Sie nicht mit mir.“

Ich rief nach ihrer Mutter, die schließlich mit einem Kessel mit heissem Wasser hereinschlurfte. Ich bat sie um einige Tücher und Babysachen und erwischte gerade noch das Kind, das ich abnabelte. Ich hatte meine Hebammentasche nicht mit und war froh, dass alles glatt gegangen war.

Das Baby war ein zauberhafter Junge, ausgewachsen und vier Kilo schwer, und nicht das schlechteste Ergebnis der Schockbehandlung, der er ausgesetzt gewesen war. Nachdem ich ihn gebadet hatte, sah ich nach der Mutter, bettete sie um und legte das Kind in ihre Arme. Ich staunte über die Willensstärke, die dieses scheue, erst 18-jährige Mädchen bewiesen hatte. Sie musste Schreckliches durchgemacht haben, während ihrer Schwangerschaft. Ich war bereits vielen jungen Frauen begegnet, die alles hatten, einen Ehemann und eine Mutter, an die sie sich lehnen hatten können, und trotzdem voll der eingebildeten Leiden und Probleme während ihrer Schwangerschaft gewesen waren.

Rosi war eine herrliche kleine Mutter. Ich erfuhr, dass der Vater des Kindes gerade dabei war, seine Scheidung zu betreiben, und glücklicherweise heiratete er sie dann tatsächlich. Sie bekamen keine weiteren Kinder.

Es war elf Uhr und eine wilde Nacht. Ich kam gerade aus dem Bad, da bildete ich mir ein, ein leises Klopfen zu hören. So ein schüchterner kleiner Laut, das musste der Wind gewesen sein. Ich blieb aber stehen und überlegte, ob ich hinunter gehen und nachsehen sollte, da hörte ich es neuerlich. Ich schnürte meinen Schlafrock fester zu und öffnete die Tür einen Spalt. Zu meiner Verblüffung sah ich ein junges Paar. Das Mädchen trat näher heran und flüsterte: „Können wir bitte hineinkommen?“

Ich bat sie herein und sah nun, dass es sich um die Tochter der Cousine von Winnie handelte. Der junge Mann war ihr Freund, und sie waren offenkundig sehr verliebt. Das Mädchen begann plötzlich zu weinen, und der junge Mann versuchte sie zu trösten. Ich fragte: „Ist deine Mutter krank, oder was ist los?“ Sie sagte nur schluchzend: „Bitte Schwester, helfen Sie mir! Ich bin im sechsten Monat schwanger und meine Mutter weiß von nichts. Wir können frühestens in einem Jahr heiraten. Was soll ich nur tun?“

Ich fragte sie, ob sie bei einem Arzt gewesen sei, aber sie schüttelte nur den Kopf. Ich machte den beiden einen Kaffee. Dann sagte ich: „Ich bin froh, dass ihr gekommen seid, ihr hättet das schon früher tun sollen, das hätte euch viel Kummer und Ängste erspart. Natürlich wirst du es deiner Mutter erzählen müssen und sie wird wahrscheinlich sehr verletzt sein, dass du das nicht früher getan hast. Aber sie wird dich verstehen.“ Das Mädchen schluchzte: „Aber sie wird mir verbieten, Willy weiter zu sehen, und deshalb werde ich sterben müssen!“…

Während sie sich bei mir ausweinte und mir von allen ihren Ängsten erzählte, überlegte ich bereits angestrengt, wie ich diese Angelegenheit am besten schaukeln sollte. Ich schlug dann vor, dass wir am nächsten Morgen zum Arzt gehen sollten, den ich vorher vorbereiten wollte. Dann würden wir alle gemeinsam zu ihrer Mutter gehen, und dort würde sie es nehmen müssen wie es kommen würde.

Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, sagte sie mir, dass sie es nicht gewagt habe, bei Tageslicht zu mir zu kommen, weil mein Tor von einer ihrer Verwandten, die gegenüber wohnte, bewacht würde. Von dieser Verwandten wisse sie immer schon lange vor allen anderen, wer ein Kind erwartete und mit mir einen Termin vereinbarte.

Glücklicherweise war die Mutter zwar wie erwartet verstört, aber sie reagierte beherzt. Sie gab dem Jungen die Einwilligung, ihre Tochter zu heiraten, sobald er dazu in der Lage sei, und kümmerte sich mit aller mütterlichen Liebe um ihre schwangere Tochter. Das Mädchen verwandelte sich von einem sprunghaften, blassen und unglücklich scheinenden Wesen zu einem strahlend glücklichen Geschöpf. Die Mutter vertraute mir später an, dass sie sich bereits Sorgen um die Gesundheit ihrer Tochter gemacht hatte, und dass sie vorgehabt hatte, sie zum Arzt zu schicken. Aber die Tochter hatte sich geweigert und nur gemeint, es gehe ihr gut. Ende gut, alles gut…

Die Frau meines zweiten Mannes, Rex Lambert, kannte ich gut, sie war eine sehr nette Dame im Komitee des Roten Kreuzes, das mich anfänglich als Bezirkskrankenschwester angestellt hatte. Nach einem Schlaganfall wurde sie in ein Heim eingeliefert. Dort fiel sie aus dem Bett und verletzte sich. Nach diesem Zwischenfall holte sie ihr Mann nach Hause und bezahlte eine private Krankenbetreuung. Ich konnte nur ein- oder zweimal am Tag bei ihr vorbeischauen, da ich für alle Patienten des Ortes und der Umgebung zuständig war. Sechs Monate lag sie zu Hause, ein Arm war zwar gelähmt, aber sprechen konnte sie noch. Eines Tages nahm sie mir ein Versprechen ab: „Passen Sie bitte auf meinen Mann auf, wenn ich gestorben bin!“ Ich gab zu bedenken: „Frau Lambert, Sie kennen doch meine Zeiteinteilung, ich kann nicht eine Person extra behandeln, aber ich verspreche Ihnen, ich schaue im Rahmen meiner Arbeitszeit auf Ihren Mann.“

Rex stammte aus Kanada und war vor dem Ersten Weltkrieg eingewandert. Er meldete sich freiwillig in den Krieg und musste sogar ein falsches Alter angegeben, da er jünger als 18 Jahre alt war. Bei einem Angriff wurde ihm die Hüfte zerschossen, und bei einem Gasangriff wäre er fast ums Leben gekommen. Seit ich ihn kannte, atmete er immer schwer, sein Hinken bemerkte man aber fast nicht. Im zerschossenen Bein hatte er viele Schrapnellöcher, die regelmässig gereinigt werden mussten.

In den letzten Tagen vor ihrem Tod hatte Frau Lambert unvorstellbare Schmerzen, sie flehte ihren Mann an, das Versprechen, dass sie sich gegeben hatten, einzulösen: Wenn es durch eine Krankheit für einen von ihnen zu viel werden würde, sollte der Partner versuchen, das Leiden zu beenden. Sie bat den Arzt um eine Injektion, um einschlafen zu können.

Ich holte den Arzt, es war ungefähr neun am Abend, und bat ihn, das Leiden der Frau abzukürzen. Er gab mir eine Injektionsspritze, die nach einer halben Stunde wirken würde. Ich nahm Rex Lambert beiseite: „Sie wissen, was sie wollte, sie hat Sie beschworen, ihr zu helfen.“ Auf seinen Wunsch hin gab ich ihr dann die Injektion, er hielt ihre Hand, und ich blieb dort, bis sie bewusstlos war. Als sie nicht mehr zu Bewusstsein kam, ging ich nach Hause. Eins halbe Stunde später klopfte der Sohn der Lamberts an meine Tür: „Die Mutter ist gerade gestorben. Danke vielmals.“ Trotzdem habe ich mich immer als Mörderin gefühlt.

Dieser Sohn hat mir Jahre später einen Brief geschrieben als er erfuhr, dass ich Rex heiraten würde: „Das ist der letzte Brief, in dem ich Sie als Nurse anspreche. Von jetzt an sind Sie meine Mutter.“ Heute hat der arme Kerl schon drei Schlaganfälle hinter sich, vor wenigen Monaten schrieb er mir wieder einen Brief, seinen ersten mit der linken Hand.

In seinem Haus habe auch ich meinen Herzanfall bekommen, als ich nochmals meinen Freunden in St. Osyth einer Besuch abstattete. Ich wollte nach dem Mittagessen noch kurz einen Blick auf die Ortschaft werfen, da wurde mir plötzlich so komisch. Meine Stieftochter führte mich zu. rück ins Zimmer, weiter weiß ich nichts mehr. Der Arzt kam und meinte, es sei ein Herzschlag gewesen. Für sechs Wochen musste ich im Bett bleiben, das war mein Urlaub.

Wie es der Wunsch der verstorbenen Frau gewesen war, besuchte ich Rex regelmässig. Er neigte zu Lungenentzündungen, und ich musste ihn oft wochenlang pflegen. Eines Tages kam er zu mir und erklärte mir, wie dankbar er sei, und ob er mich nicht manchmal am Abend ausführen dürfte. Das erschreckte mich, ich sollte vielleicht ins Theater oder Essen gehen? „Andere tun das auch, aber Sie sind es nicht gewöhnt. Ich bin ein Gentleman, Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten.“

Ich kannte Herrn Lambert gut genug, es war nur dieses Ansinnen, dass mich erschreckte. Ich musste ihm versprechen, eines Abends mit ihm auszugehen. Ich hatte eine Scheu davor, wegzugehen und bat ihn: „Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, führen Sie mich ans Meer.“

Es gab ganz in der Nähe von St. Osyth eine Stelle, von der man die Fährschiffe beobachten konnte, wie sie anlegten und beladen wurden. Ich liebte es, dort zu sitzen und zuzuschauen. Bei unserem ersten privaten Treffen betrachteten wir die Fährschiffe. Wir sprachen viel miteinander und ich fand es ganz unterhaltsam. Einige Zeit später rief er wieder einmal an und lud mich in ein feines Restaurant ein. Ich stellte von Anfang an klar: Keine Ketten, keine Verpflichtung. Ich wollte zuerst meine Söhne fragen, sie sollten wissen, was ich tat. Freddy war noch im Gymnasium und Kurt bereits in Cambridge. Ich erzählte ihnen alles, und sie wurden furchtbar wütend. Sie empfanden den Wunsch nach Rat als eine Beleidigung gegenüber dem alten Lambert. „Wenn er ausgehen will, sei froh, dass er dich mitnimmt.“ So gewöhnte ich mich an unsere regelmäßigen Treffen.

Eines Tages wollte ich im Auto nach Lancashire fahren. Als ich bei der Garage von Rex Lambert tankte, kam er zufällig vorbei. Er wollte natürlich wissen, wohin ich unterwegs war, und plötzlich wollte er auch nach Lancashire fahren, weil er dort ohnehin etwas zu tun habe. Also fuhren wir in seinem Auto. Während der Fahrt begann er ein Gespräch mit der Bemerkung, ich sollte bei seinen folgenden Ausführungen nicht erschrecken. Dann zog er wortlos einen Ring aus der Tasche und reichte ihn mir. Ein Ring? „Wofür ist denn das?“ Es sollte ein Freundschaftsring sein. Man könne doch eine Freundschaft auch ohne einen Ring haben, entgegnete ich ihm. Rex war gekränkt: „Warum wollen Sie nie etwas von mir annehmen? Warum hassen Sie mich so?“ Ich musste ihm erst erklären, dass ich einfach nicht gewöhnt war, Geschenke anzunehmen. Er bat mich, eine Ausnahme zu machen, und ich bat um Bedenkzeit.

In Lancashire fuhren wir viel herum und hielten an einem sehr träumerischen Platz. „Es ist wirklich schrecklich mit Ihnen. Sie sagen immer, Sie haben es nicht gerne, dass jemand Sie berührt, ich fürchte mich fast davor, Ihre Hand zu schütteln!“ seufzte Lambert. Gegen das Handschütteln hatte ich nichts.

„Ich kann es nur nicht leiden, wenn die Hände nicht am richtigen Platz sind.“ Er ließ nicht locker: „Was würden Sie dazu sagen, wenn ich Sie fragen würde, ob Sie mit mir verreisen wollen, als meine Krankenschwester?“

„Sie könnten das nicht bezahlen“, war meine Antwort. Damals wusste ich nicht, wie reich er war. Ausserdem konnte ich doch nicht meine Patienten im Stich lassen.

Aber er ließ nicht locker: „Würden Sie mich als meine Frau begleiten?“ Nach dieser Frage drängte ich zum raschen Aufbruch, und auf der Rückfahrt schnitten wir dieses Thema nicht mehr an.

Eines Tages brach er schließlich sein Versprechen, nicht mehr darüber zu reden, und fragte mich gerade heraus: „Wollen Sie mich heiraten oder wollen Sie nicht? Sie haben mich jetzt schon gut kennengelernt. Sie wissen alles über mich, Sie kennen mich. Ich weiß, ich bin kein guter Fang, ich bin ein alter Krüppel, aber ich würde Sie sehr gut behandeln, ich könnte Ihnen ein besseres Leben bieten.“

Diesen Heiratsantrag wollte ich nicht ausschlagen. Aber vorher wollte ich doch noch meine Söhne fragen, und Rex musste warten, bis Freddy aus Deutschland zurückkam. Rex war damals 66 Jahre alt, und an meinem 54. Geburtstag haben wir geheiratet.

Er war ein sehr netter Mann und ich war sehr glücklich mit ihm. Leider hat er nicht lang genug gelebt. Sieben Jahre sind uns geblieben. Ich war sehr verbittert, als er starb, denn wenn ich gewusst hätte, dass er so bald sterben würde, wäre ich bereits früher in Pension gegangen. Ich hatte jedoch meine Jahre fertigmachen wollen: was ich anfange, möchte ich gerne fertig machen. Ich war kaum 60, als er starb. Mit einem Schlag waren unsere gemeinsamen Pläne und Reisen für die Zukunft dahin.

Es war der letzte Sonntag des Jahres 1975, der Sonntag zwischen Weihnachten und Neujahr. Ich war in Frankreich, wo ich die Wintermonate verbrachte, und kam gerade von einem Spaziergang zurück. Ich hatte das Labyrinth kleiner Gässchen durchquert, das so typisch für La Baule ist. Es war ein milder und friedlicher Tag. Es gab keine Sonne, ein leichter Dunst lag auf der Esplanade, und das Meer schimmerte glatt.

Der Ort ist für seinen sieben Kilometer langen Sandstrand berühmt. Zwei Segelboote tauchten anmutig am dunklen Horizont auf und glitten über die spiegelartige Meeresoberfläche. Eine Handvoll Menschen standen unten am Wasser, mit ihren kleinen Kindern oder ihren Hunden, doch sie schienen woanders zu sein als ich. Ich war allein. Das rhythmische Gemurmel der Wellen ließ mich träumen, und ich begann, „über meine Schulter“ zu schauen. Ja, ich blickte zurück, aber weder im Zorn noch mit Wehmut. Immer wieder fragte ich mich. „Warum bin ich immer noch hier?“ Es schien keinen Grund dafür zu geben. Es gibt keine Aufgabe mehr, die darauf wartet, von mir gemeistert zu werden, keine Herausforderung, ich werde von niemandem mehr gebraucht. Ich bin überflüssig.

Ach, natürlich weiß ich, dass es viel zu tun gibt, für Leute, die Zeit haben. Aber ich bin keine „Wohltäterin“. Wenn es keine persönliche Herausforderung ist, so habe ich kein Talent, Almosen zu verteilen, weder physisch noch emotional. Ich schrecke davor zurück, in das Leben anderer Leute einzugreifen, wenn es nicht eine direkte Aufgabe ist. Ich würde jede Fremde hassen, auch jede wohlmeinende, die ungeladen zu mir käme und mir mitteilen würde, sie wolle mir eine nette Tasse Tee machen, oder mir etwas vorlesen, oder einfach mit mir reden, bloß weil ich allein bin. Ich hielte das für einen unerträglichen Eingriff in mein Leben und würde das auch keinem anderen zumuten wollen. Nur weil man allein ist, will man doch nicht „irgendwen“, schon gar nicht ein herzliches Weibchen, das einem nichtssagende Freundlichkeiten anbietet. Ich nehme an, dass diese Leute notwendig sind und gebraucht werden, ich unterschätze ihre Nützlichkeit nicht, aber sie können einem mit einem nichts sagenden kleinen Schwätzchen ja doch nicht geben, wonach man sich sehnt. Man sehnt sich nach dem Zusammensein mit dem Ehemann, der gestorben ist, mit den Kindern und deren Kindern, die aber alle weit weg sind, wie das Leben so spielt, oder nach den Freunden, die gestorben oder übersiedelt sind. Bücher helfen da schon mehr, oder „Rückblicke“, aber das Leben selbst scheint doch immer häufiger ohne jeden Sinn.

Ein fernes Quietschen von Bremsen reisst mich plötzlich aus meinen Träumereien. Der aggressive Schrei einer Möwe über meinem Kopf bringt mich zurück in die Gegenwart. Weit weg weint ein Kind, trotz aller Friedlichkeit. Die Sonne unternimmt einen tapferen Versuch, durchzubrechen. Es ist nicht gut, Fragen zu stellen, die nie eine Antwort finden werden….

Ich hatte schon seit zehn Jahren tot sein wollen. Ich habe es versucht, wurde aber in der letzten Stunde gerettet. Damals war meine Arthritis so schlecht, dass ich nicht mehr gehen konnte, meistens saß ich oder rutschte ich am Boden, ich konnte mich nicht mehr alleine anziehen. Zum Examen des Französischkurses, den ich zu dieser Zeit besuchte, trat ich zwar an, man musste mir aber Kissen bringen, sonst hätte ich nicht mehr sitzen können, so sehr schmerzte mein Bein. Die Prüfung schaffte ich, aber den Kurs für die nächste Stufe konnte ich nicht mehr besuchen.

Mein Arzt schickte mich zu einem Physiotherapeuten, bei dem ich eine spezielle Behandlung bekommen sollte. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes „am Boden“, zum Physiotherapeuten fuhr ich jedoch noch alleine mit dem Auto.

Nach einer halben Stunde kam eine Physiotherapeutin in das Behandlungszimmer und erklärt mir ohne Umschweife: „Sie werden ein Korsett bekommen“. Von einem Korsett war nie die Rede gewesen, ich war gekommen, um mich einer Behandlung zu unterziehen.

„Ihr Rückgrat ist im Eimer, es zerkrümelt sich, was glauben Sie denn, was man da noch machen kann?“ Das hörte ich zum ersten Mal, „Wo ist denn eigentlich mein Arzt?“ Die junge Frau war seine Stellvertreterin, sie hatte die Patienten meines Arztes übernommen – aber mich bekam sie nicht als Patientin. An der Wand entlang hantelte ich mich zu meinem Auto und fuhr heim.

„Mit diesen Leuten will ich wirklich nicht mehr leben. Ich mache Schluss damit!“ Auf dem Heimweg fasste ich meinen Entschluss, und bis zum Abend hatte ich alles arrangiert. Als ich um halb acht Uhr wie immer mit meinem Sohn Freddy telefonierte, hatte ich schon alles vor mir ausgebreitet.

Für den Notfall hatte ich mir schon längst von meinen Patienten, die gestorben waren, die schweren Medikamente zurückbehalten. Diese Pillen hatte ich für den Ernstfall gesammelt, wenn ich zum Beispiel Krebs bekommen sollte. Krebs hatte ich nicht bekommen. Aber trotzdem war jetzt der Zeitpunkt gekommen, Schluss zu machen.

Ich warf alle Pillen in ein mit Rum gefülltes Glas. Meine Kleider hatte ich zurechtgelegt und mir gedacht, die würde ich morgen nicht mehr brauchen. Freddy sagte ich, dass ich schon im Bett läge. Sofort nachdem ich den Telefonhörer aufgelegt hatte, spritzte ich mir Morphium in beide Schenkel und trank das Glas vorsichtig aus. Die Kehle hielt ich mir zu, um ja nicht zu erbrechen. Es war schrecklich, aber ich schaffte es. Das Buch, das ich mir auf meinen Nachttisch gelegt hatte, konnte ich nicht mehr lesen.

Meine erste Erinnerung danach waren das Tätscheln und die Stimme einer Frau: „Frau Lambert, Frau Lambert“. Ich dachte mir nur: „Was ist denn los, um Gottes willen? Bin ich noch immer hier?“ Es war schrecklich. Man pumpte mir den Magen aus, ich war bewusstlos, kam zu mir und verlor dann wieder das Bewusstsein. Einmal vernahm ich eine Stimme – ich konnte nur: „Ach diese Schmerzen!“ wimmern, und hörte von ganz ferne: „Natürlich! Warum haben Sie das denn getan?“

Diese Stimme erkannte ich, es war der Arzt, den ich jeden Tag beim Schwimmen getroffen hatte. Ich hatte ihn nie leiden können und hatte ihn richtig eingeschätzt. Ich wollte antworten: „Zum Vergnügen“, schlief aber wieder ein.

Zwei Tage war ich bewusstlos, meine Buben kamen ins Spital. Es sei das Schrecklichste in ihrem Leben gewesen, sagten sie mir nachher, als die Tomographie gemacht wurde. Der Arzt war der Meinung, ich müsste sehr, sehr viel Glück gehabt haben, wenn ich ohne Gehirnschaden davonkommen würde. Es sei fast unmöglich, dass ein Gehirn das aushalte, denn die Männer von der Ambulanz hätten gesehen, welche Medikamente ich geschluckt hätte.

Mein Nachbar sagte mir nachher, ich sei in der Ambulanz gesessen, mit geschlossenen Augen, als ob mir überhaupt nichts fehlen würde. Ich war einige Zeit auf der Intensivstation, und als ich wieder zu mir gekommen war, fragte mich eine Schwester, warum ich das gemacht hätte. Nachdem sie meine Geschichte gehörte hatte, riet mir das Spital, diese Physiotherapeutin anzuzeigen; aber ich konnte es nicht tun, ich wollte nicht, dass jemand meinetwegen seinen Posten verliert.

Ich konnte es meinen Freunden nicht vergeben, dass sie mich gerettet hatten. Den ganzen Tag über waren sie immer wieder zu meinem Haus gekommen und hatten geläutet, obwohl ich meiner Nachbarin wohlweislich gesagt hatte, dass ich einen Rasttag einlegen wolle und den ganzen Tag im Bett bleiben würde. Meine Freunde gaben aber nicht auf und kamen immer wieder. Eine Bekannte erzählte ihrem Mann, der im Dorf Polizist war, von meinem sonderbaren „Rasttag“. Das kam ihm verdächtig vor, und so drangen sie in meine Wohnung ein und fanden mich. Eine Stunde später, und ich hätte es geschafft gehabt.

War das nicht ungerecht, ich hatte so einen starken Willen zu sterben gehabt! Diesen Willen habe ich nie verloren, aber ich fand keine Gelegenheit mehr. Früher hatte ich immer Angst, Krebs zu bekommen. Als ich 80 war, dachte ich mir, diese Gefahr sei nun vorbei, an Krebs würde ich nicht sterben. Mit 84 bekam ich dann Krebs.

Ich hatte bemerkt, dass sich neben meinem Herzschrittmacher ein kleines Knöpfchen gebildet hatte. Ich beobachtete das mehrere Wochen hindurch, und dann wusste ich es: Das war Krebs. Vielleicht war das der Ausweg? Aber ich würde vielleicht bettlägerig sein, würde nicht auf meinen Füßen stehen können. Ich wollte mein Ziel schneller erreichen. So ging ich zu meinem Arzt und sagte ihm, dass ich operiert werden wolle. Er schickte mich zu einem Spezialisten, ich könnte mich ja geirrt haben. Ich war mir aber sicher, ich hatte das Wachstum des Gewächses ja vier Monate lang beobachtet. Den Spezialisten sollte ich trotzdem besuchen. Es war Zeitverschwendung, denn nach der Untersuchung bestätigte er mir nur, was ich schon gewusst hatte.

Für den nächsten Tag bestellte er mich zu einer Behandlung. Ich wollte aber keine Behandlung: „Ich will die Operation.“ Es kam zu einem heftigen Wortwechsel. „Ausgeschlossen, das ist zu nahe am Schrittmacher, das kann ich nicht machen, das ist zu riskant“, erklärte mir der Arzt. Wenn hier jemand von einem Risiko sprechen durfte, dann war ich es, und mir machte es nichts aus. Nachdem sich der Arzt weiterhin weigerte, stellte ich ihn vor die Alternative: „Operation oder gar nichts.“ Ich stand auf und wollte hinausgehen. Er starrte mich an, und ich dachte, er würde mir eine Ohrfeige geben. Diese großen Männer sind es nicht gewöhnt, dass man ihnen widerspricht. Ich ließ ihm aber keine Wahl.

„Ich fürchte mich nicht, und Sie brauchen sich auch nicht zu fürchten, ich gebe es Ihnen schriftlich, dass Sie keine Schuld trifft, wenn etwas schief geht.“ So unterzeichnete ich in der Ordination ein Schriftstück, dass es mein letzter Wille sei, dass keine Versuche gemacht würden, mich künstlich am Leben zu erhalten. Ich hinterlegte diesen letzten Willen bei zwei Nachbarn und bei meinen Söhnen, die darüber sehr wütend waren. Der Arzt hatte sich geweigert, dieses Schreiben bei sich aufzubewahren. Ich stellte ihn neuerlich vor die Alternative: „Wenn Sie mir nicht versprechen, dass Sie diesen Wunsch respektieren, werden Sie mich auch nicht operieren.“ Er warf mir noch einen Blick zu, der töten konnte, und bestellte mich für Donnerstag zur Operation.

Um acht Uhr in der Früh war ich dort. Ich wurde auf eine Bahre gelegt, der Anästhesist kam und gab mir eine kleine Spritze in den Handrücken. Ich hielt das für die Vorbereitung auf die Narkose. Ich wartete und wartete, plötzlich wurde eine Bahre mit einem bewusstlosen Mann, der noch den Schlauch im Mund hatte, aus dem Operationssaal gerollt und neben meiner Bahre hingeschoben. Das musste ein Notfall sein. Ich wartete. Niemand kam. Plötzlich wurde ein anderer Mann herausgeschoben, noch schläfrig, mit dem Schlauch im Mund. Da hielt ich einen Vorbeikommenden auf.

„Was ist nun los, ich sollte um acht Uhr operiert werden, wann komme ich dran?“ „Aber Sie waren doch schon an der Reihe“, erklärte mir der Mann.

Ich konnte es einfach nicht glauben, ich hätte schwören können, dass ich die ganze Zeit im Vorraum auf meiner Bahre gelegen war, ich war nicht schläfrig, ich fühlte mich nicht, als hätte ich eine Operation hinter mir, es tat mir auch nichts weh.

Nie in meinem Leben habe ich so etwas Komisches erlebt! Ich hatte schon mehrere Operationen hinter mir, aber das war meine schönste und leichteste Operation.

Am nächsten Tag kam der Arzt, setzte sich auf mein Bett und lachte. „Glauben Sie nur nicht, dass ich nicht gewusst habe, was Sie wollten. Sie wollten, dass ich Sie umbringe.“ „Seien Sie doch nicht so grob. Das hätte ich nie so gesagt, aber ich habe gehofft, dass mein Herz aufgibt. Ich habe mir große Hoffnungen gemacht.“

Zu Hause hatte ich alles für meinen Tod vorbereitet gehabt, alles richtig gelegt, dass man alles leicht finden konnte, was notwendig war. Aber ich kam zurück, ich hatte mich vergeblich auf die Schwäche meines Herzens verlassen.

Am Tag, an dem ich entlassen werden sollte, bekam ich eine Infektion, alles schwoll an und schmerzte. Drei Wochen musste ich Antibiotika nehmen, in diesen drei Wochen litt ich dann wirklich.

Es ist kein Leben für mich, wenn ich nicht tun kann, was ich will, wenn ich nicht reisen kann. Ich kann nicht einmal allein in einen Zug einsteigen, ich muss immer jemanden um mich haben. Wenn ich sitze, ist alles in Ordnung, aber in meinen Beinen, da habe ich keine Kraft. Ich kann dem aber kein Ende machen, weil ich ein Feigling bin. Ich kann mir keinen gewalttätigen Tod vorstellen, es muss ein sanfter Tod sein, ich will im Bett sterben. Unten, bei meinem Haus, queren Geleise die Straße. Ich bin oft dort gestanden und habe mit dem Gedanken gespielt, mich vor den Zug zu werfen. Jetzt weiß ich jedoch, für das Sterben gibt es keine Sicherheit, vielleicht bin ich dann verstümmelt und schlechter beisammen als jetzt. Ich bin zu feig.

Gut, ich gehe über die Kreuzungen und meine Nachbarin bezeichnet mich als Selbstmörderin. „Warum gehst du immer an dieser Stelle über die Straße? Du wartest nie.“ Um die Kurve kann ich nicht sehen, und wenn mich die Autos niederfahren wollen, soll es mir ein Vergnügen sein. Aber eigentlich will ich das nicht wirklich, weil es ja andere Leute in Schwierigkeiten bringen würde. Ich gebe acht, dass so etwas nicht geschieht.

Jetzt gibt es für mich einfach keine Möglichkeit mehr, um schmerzlos wegzugehen. Das ist sehr, sehr hart. Meine Kinder wissen, wie ich fühle. Aber sie können es nicht verstehen, sie fühlen die Schmerzen nicht. Sie wissen nicht, wieviel Kraft ich brauche, um kleine Dinge zu tun. Ich habe nur einen letzten Wunsch, der mich aufrechthält: Einmal möchte ich noch mit meinen beiden Söhnen Schritt für Schritt alle jene Plätze besuchen, wo alles begonnen hat. Ich war so blödsinnig gewesen zu glauben, dass ich Österreich nie verlassen würde, ich hatte nie geglaubt, dass ein Land schöner sein konnte als Österreich. Als ich das erstemal nach London kam, wäre ich fast gestorben vor Schreck. Das war ja nicht möglich, dass es eine Stadt gab, die größer war als Wien, wo doch Wien die größte und schönste Stadt für mich war.

Heute bin ich englische Staatsbürgerin, aber im Grunde bin ich immer Österreicherin geblieben, ich will nur nichts mehr zu tun haben mit den Österreichern. Ich weiß nicht, warum ich so mit Österreich verbunden war, ich hätte es mit meinem Leben verteidigt. Aber ich konnte es den Österreichern nie vergeben, dass sie so etwas wie die Nazis zugelassen haben. In Österreich würde ich nicht mehr leben wollen, nie mehr, aber es zog mich doch immer wieder hin. Ich bin in Österreich geboren und ich kann das einfach nicht „ablegen“, ich erinnere mich mit Wehmut, nicht mit Stolz.