Die verlorene Kindheit: Zwischen Vater und Krieg
Die verlorene Kindheit: Zwischen Vater und Krieg
Bis an mein Lebensende trage ich die Erinnerung an das erste Weihnachtsfest in mir, das ich bewusst erlebt habe. Es war vor dem Ersten Weltkrieg und ich ging damals noch nicht zur Schule. Mir schien alles von einer Glückseligkeit erfüllt, wie ich sie später nie wieder erlebte, als ich gelernt hatte, dass man im Leben nicht nur auf Rosen gebettet ist. Ich erinnere mich an einen Raum mit zugezogenen Vorhängen und dunkel glänzenden Möbeln. Der Raum strahlte trotz seiner hohen Decke Wärme und Geborgenheit aus. Zwischen den Fenstern stand ein riesiges Klavier, das ich irgendwie nicht leiden konnte. Es war teilweise mit einer Samt- oder Plüschdecke bedeckt, die es wohl vor der Sonne schützen sollte. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand stand der große, herrliche Christbaum, mit brennenden bunten Kerzen an den Zweigen und Keksen in verschiedenen Formen, die zwischen dem Lametta baumelten. Dieses prachtvolle, glitzernde Ding hatte das „Christkind“ gebracht, das ich mir als Engel im Mousselinekleid vorstellte.
Am Fuss dieses Baumes stand ein kleines Holzbettchen mit der allerschönsten Porzellanpuppe, deren Augen sich öffneten und schlossen, je nachdem, wie man die Puppe neigte. Die Puppe hatte echte Haare, die zu zwei Zöpfen geflochten waren. Sie trug ein langes weißes Nachthemd und kleine Stiefelchen, und alles konnte man an- und ausziehen, wie bei einem Menschen. Sogar die Bettwäsche konnte man abziehen und wieder überziehen. Es waren zwei Pölster und eine Decke, die mit echten Federn gefüllt waren. Es war wie ein Traum! Ich konnte nicht genug davon bekommen, dieses Bettchen abzuziehen und immer wieder frisch zu überziehen. Neben dem Bettchen fand ich noch ein kleines Kistchen mit Puppenkleidern, und nun begann ich begeistert, die Puppe an- und auszukleiden und zu waschen. Ein Märchen war wahr geworden.
Unter dem Baum gab es ausserdem für jedes Kind eine kleine Schachtel mit Schleckereien, wie wir sie nur zu besonderen Anlässen bekamen: Orangen, Nüsse, Schokolade, Feigen und Kekse, Äpfel und Bonbons… Erst viele Jahre später sollte ich erfahren, dass ich dieses Gefühl der Glückseligkeit allein meiner Mutter zu verdanken hatte: Sie hatte die Puppenkleider und das Bettzeug eigenhändig genäht.
Weniger idyllisch aber ebenso bleibend ist mir ein noch früheres Erlebnis in Erinnerung. Ich muss damals etwa zwei Jahre alt gewesen sein. Ich erinnere mich an einen nackten, dunklen Raum, im Keller, wo normalerweise die monatliche große Wäsche gemacht wurde. Ich stand vor einer Maschine mit einem großen Rad, durch das ich die weiße Wäsche sehen konnte. Auf der anderen Seite der Maschine stand jemand, der etwas einlud. Es war eine Mangel, durch die man die Wäsche drehte, um sie nach dem Waschen weich zu machen, ehe sie gebügelt wurde. Ich erinnere mich, dass ich meine Hand zwischen die Speichen des Rades steckte, das still stand. Das Nächste, das ich registrierte, waren Angstschreie, die durch die Luft gellten, und dann wurde alles schwarz. Meine Mutter erzählte mir in späteren Jahren, dass die Frau, die ihr im Haushalt half, gerade die Mangel in Betrieb genommen hatte, ohne zu bemerken, dass ich in das Rad gegriffen hatte. Sie konnte das Gerät nicht mehr zeitgerecht stoppen, und so führte meine Neugierde dazu, dass meine Hand gemangelt und ein Finger zerquetscht wurde. Es dauerte viele Monate, bis mein Finger wieder völlig verheilt war. Der Knochen war nicht verletzt worden, und alles, was heute noch daran erinnert, ist ein etwas erhabener Nagel am Mittelfinger.
Der Mittelpunkt meiner Kindheit war meine Mutter, die ich abgöttisch liebte. Sie war als Amalie Weiß in Senftenberg zur Welt gekommen. Sie erzählte mir nie viel aus ihrer Kindheit, bis auf ihre große Liebe zu ihrem Vater. Er war Gendarm und verließ die Familie jeden Montag auf seinem Pferd, mit dem er durch die Dörfer ritt, die zu seinem Revier gehörten, um erst am Freitag heimzukommen. Ihre Mutter war sehr streng und bestrafte sie wegen jeder Kleinigkeit, indem sie sie in den kalten Keller sperrte. Deshalb waren die Freitage die regelmäßigen Lichtblicke in ihrem Leben. Ihre Mutter quälte sie schließlich noch über den eigenen Tod hinaus, denn das Versprechen, dass sie Samuel Kohn, meinen Vater, heiraten würde, musste meine Mutter ihr auf dem Sterbebett geben. Samuel Kohn dürfte sich noch am Krankenbett bei der Sterbenden eingeschmeichelt und sich so seine Frau „erredet“ haben. Die Heirat meiner Eltern war jedenfalls alles andere als eine Liebesheirat.
Meine Mutter war sehr klein, mit blond gelocktem Haar, das sie nie sehr lang trug. Sie pflegte es streng zurückzubürsten und mit Nadeln oder einem hübschen Kamm irgendwie zu befestigen. Aber ihr Gesicht war immer schon nach kürzester Zeit von winzigen Löckchen umgeben, die den Nadeln entwischt waren, und wie Flämmchen wirkten, wenn das Licht aus einem bestimmten Winkel auf sie fiel. Sie hatte große, sanftbraune Augen, die immer traurig waren, und eine sehr weiße Haut. Sogar als sie bereits dünn und schwach war und im Sterben lag, war ihre Haut immer noch schön und weiß, fest gespannt über den zarten Gesichtsknochen, in denen die Augen doppelt so groß schienen. Aber das war Jahre später, als ich in der Blüte meiner fünfzehn Jahre stand. Dazwischen lagen der Erste Weltkrieg, der Hunger und die langsam wachsende Unsicherheit in bezug auf mein „Zuhause“, das nicht mehr mit meinen Kindheitserinnerungen übereinstimmte.
Aus diesen harmonischen Tagen erinnere ich mich besonders gern an das Nachmittagskleid meiner Mutter. Ich liebte dieses Kleidungsstück. Es war beige und schwarz eingefaßt, und vermutlich schwarz gemustert – aber sicher weiß ich das heute nicht mehr lang, mit einem dicht gezogenen weiten Rock, das Oberteil bis an den Hals eng anliegend, ein netter kleiner Mandarin-Stehkragen und lang anliegende Ärmel. Dieses Gewand passte perfekt zu ihrer eher zerbrechlichen Figur. Für mich war sie die schönste Frau der Welt. Wenn Besucher kamen, war es wundervoll, zur Hälfte in diesen Rock eingehüllt und daher geschützt zu sein und nur ab und zu hervorzulugen.
Ich weiß nicht, was Psychiater dazu sagen würden. Ich habe niemals die Liebe zu diesem Gewand verloren, und – unabhängig vom Diktat der Mode – immer ein ähnliches getragen, nach der Arbeit oder an freien Tagen. Ich kann mich nicht erinnern, je ohne so ein Hauskleid gewesen zu sein, seitdem ich mein eigenes Geld verdiene. Oft musste ich sehr weit gehen, um eine Schneiderin zu finden, die genau so ein Hauskleid ohne fertigen Schnitt machen konnte.
Mein Vater stammte aus einer Fleischhauerfamilie aus Schiltern und hätte eigentlich den Beruf seines Vaters erlernen sollen. Doch das scheint ihn nicht interessiert zu haben, und so riss er bereits mit zehn Jahren von zu Hause aus und fuhr als Schiffsjunge durch die Welt. Erst mit dreissig Jahren kam er nach Krems, wo eine seiner Schwestern ein Geschäft besass und er schliesslich meine Mutter fand.
Diese Bruchstücke seiner Vergangenheit konnte ich erst lange nach seinem Tod rekonstruieren, denn mit uns Kindern gab er sich kaum ab. Nur wenn Besuch bei uns war, schien er sich an uns zu erinnern. Er nahm dann eine Zeitung und zwang mich, als ich etwa fünf Jahre alt war, den Besuchern laut daraus vorzulesen, was ich hasste. Ich war schrecklich scheu und litt unter dieser Präsentation. Er benutzte meine Begabung, um aufzuschneiden.
Jahre später bekamen wir eines Tages auch ein Grammophon mit einem großen Trichter, das ebenfalls zur Unterhaltung der Besucher diente. Für mich bedeutete es eine weitere Qual, da Vater mich nun veranlasste, mit ihm vor den Leuten zu tanzen. Ich fühlte mich wie ein Tanzbär. Wenn es eine normale Beziehung zwischen Vater und Tochter gewesen wäre, hätte das ein Vergnügen sein können, aber so eine Art Vater war er nicht, wie sich noch herausstellen sollte.
Offensichtlich war er ein sehr begabter Tänzer und schaffte es irgendwie, dass ich die Tanzschritte machen konnte, indem er meine ausgestreckten Arme in seinen ausgestreckten Händen hielt. Er war einen Meter achtzig groß, gutaussehend, auf vielen Gebieten talentiert, Kletterer, Radwanderer und exzellenter Schwimmer. Als Rettungsschwimmer hatte er bereits mehrere Menschen aus der Donau herausgezogen. Er verstand sich auf Erste Hilfe und hielt sich selbst für einen Arzt, und für einen Mann, der nicht studiert hatte, waren seine medizinischen Kenntnisse tatsächlich beachtlich.
Sicherlich das Beste an meinem Vater war seine Stimme. Sie war kräftig und doch mit einem sanften Schmelz. Nach aussen war er ein Charmeur, und hätte er nicht auch ein anderes Gesicht gehabt, das nur wenige kannten, ich hätte stolz auf ihn sein müssen. Alle seine Eigenschaften waren von Gott gegebene Talente, die ihm mühelos in den Schoß gefallen waren. Das war einer der Streitpunkte, die ich mit Gott hatte; warum hatte er von Natur aus diese Talente, wenn er sich ihrer so unwürdig erwies?
Ich haßte ihn für seine anderen Eigenschaften, die weniger liebenswürdig waren. Er kümmerte sich nicht um seine Familie, tat nur was er wollte. Sein Motto war „Wein, Weib und Gesang“, und wenn er so sein letztes Geld durchbrachte, kümmerte es ihn nicht. Er hatte ein mörderisches Temperament, und nur Gott konnte dem helfen, der ihn darauf ansprach oder sich ihm in solchen Zeiten in den Weg stellte. Wenn alles vorbei war, tat ihm der Schaden leid, den er verursachte hatte, aber das war eben immer ein bisschen zu spät.
Arbeiten sah ich meinen Vater eigentlich vor dem Ersten Weltkrieg nie, ich wusste nur, dass er immerzu den Weinhauern fuhr. Als ich klein war, band er manchmal einen Polster auf sein Rad und nahm mich mit. Er inspizierte die Weinfässer, kostete die Weine, gab Tips und besprach die kommende Weinernte. Einen weiteren Nebenverdienst verschaffte er sich durch den Handel mit Antiquitäten.
Meine Mutter war eine Märtyrerin. Als sie mit mir schwanger war, soll eines Tages eine Frau mit vier Kindern vor unserer Tür gestanden sein – das war das Ergebnis einer Liebschaft meines Vaters in Wien. Die zwei ältesten dieser Kinder brachte der Vater in Wien unter, Otto, den Jüngsten zog meine Mutter auf. Die Zweitjüngste hieß Steffi, sie besuchte uns öfters. Überall wo mein Vater gewesen ist, hat er, glaube ich, „etwas“ zurückgelassen, er hatte zum Beispiel ein Verhältnis mit einem Mädchen, das jünger war als seine jüngste Tochter. Mit seiner späteren Wirtschafterin hatte er ebenfalls eine Tochter, die ihm auch ähnlich sah. Mich hänselten die anderen Kinder immer mit den Worten: „Da unten ist deine Schwester!“ Für mich war das ein Alptraum. Vater dürfte auch die Angewohnheit gehabt haben, allen seinen Kindern dieselben Namen zu geben. Es soll einige Annis, Hansis, Rosis und Richards gegeben haben, deren Vater er war.
Die zweite oder eigentlich dritte Stiefschwester, von der ich wusste, traf ich nach 1938 einmal zufällig auf einem Postamt. Sie erzählte mir von ihrer unglücklichen Lage. Sie liebe einen SS-Mann, trage aber den Namen Kohn. Mein Vater hatte ihre Mutter nicht geheiratet, aber in den Büchern war sein Name eingetragen. „Wenn mein Geliebter davon erfährt…“, seufzte sie mehrmals. Ich hatte zu dieser Zeit andere Sorgen mit den Nationalsozialisten und ließ sie in der Warteschlange am Postamt stehen.
Wir waren zwei Mädchen und zwei Buben. Ich war die Älteste. Wann immer wir den Vater bemerkten, ergriff uns die Angst. Wir zitterten, wenn wir seine Schritte oder Stimme hörten und wir versteckten uns hinter den langen schweren Vorhängen. Dabei beschäftigte er sich nie mit uns Kindern, nur wenn es um seine Kakteen ging, die er auf dem Blechdach züchtete, rief er mich, damit ich sie ihm hereinholte oder hinaus stellte. Das brachte mich ihm natürlich auch nicht näher.
Er pflegte meine Mutter zu quälen, mit der „nutzlosen Brut“, die sie in die Welt gesetzt habe, und mit den Erzählungen von seinen niemals endenden Affären mit anderen Frauen. Sie ertrug alles mit Würde und versuchte den Mantel des Schweigens darüber zu breiten. Erst später verstand ich, warum sie immer so traurig gewesen war.
Ich muss etwa sieben Jahre alt gewesen sein, es war kurz bevor mein Vater in den Krieg zog, als ich zufällig ins Zimmer kam und meinen Vater mit erhobener Hand vorfand, in der er etwas hielt, um meine Mutter damit zu schlagen. Ich warf mich vor sie hin und bekam etwas von dem Schlag ab. Ich hielt mich an meiner Mutter fest, schrie und weinte hysterisch. Ich drehte mich nicht um und sah auch nicht, was mein Vater tat, sondern hing nur am Hals meiner Mutter ohne auszulassen.
Wie immer hatte sie auch in diesem Augenblick ihre Fassung bewahrt, aber gerade das machte meinen Vater besonders wütend. Sie war zärtlich zu mir und es gelang ihr, mich zu beruhigen. Lange konnte ich nicht aufhören zu schluchzen. Sie setzte sich nieder und nahm mich auf den Schoß.
Ich fragte: „Mutter,…“ (das Wort Mami hatte mein Vater verboten), ,,…warum laufen wir nicht alle fort?“ Nach einiger Zeit antwortete sie: „Schau, mein Liebling, du kannst nicht vor etwas davonlaufen, das du tun musst; du wirst es verstehen, wenn du groß bist; ich muss mich um euch Kinder kümmern und brauche für euch ein Heim. Gott wird sich um uns kümmern; sorge dich nicht; alles wird gut werden.“
Ich war sehr verwirrt und begann, Gottes Intentionen und seine Fähigkeiten zu bezweifeln. Wir hatten immer wenig Geld, und viele Streitereien begannen damit, dass meine Mutter meinen Vater bat, nicht zu vergessen, etwas Geld da zu lassen. Geld von ihm zu bekommen war etwa so wie wenn man versucht hätte, aus einem Stein Blut herauszuquetschen. Wenn das Essen nicht nach seinem Geschmack war, nicht genug Fleisch da war oder was auch immer er gerade wollte, wurde die Schüssel, in der das Essen für uns alle war, mit einem Fluch an die Wand geschleudert, und er verließ den Raum. So waren unsere Mahlzeiten. Manchesmal konnte es meine Mutter nicht verhindern, dass ihr Tränen über das Gesicht liefen, wenn sie uns mit in die Küche nahm und uns belegte Brote machte, als Ersatz für das verlorene Essen.
Mutter war tief religiös, er war Atheist. Deshalb litt sie sehr, aber sie gewann Stärke aus ihrem Glauben an Gott, der ihrer Meinung nach niemals irrte und alles letztendlich richtig machte. Jung wie ich war, konnte ich das nicht so sehen. Warum schlug Gott ihn nicht nieder oder veranlasste ihn, so zu sein, wie er hätte sein sollen? Warum ließ er es zu, dass mein Vater so gemein war, wenn sie so gut war?
Ich hasste meinen Vater, solange ich denken konnte. Die anderen Geschwister kamen besser mit ihm aus, zum Beispiel meine Schwester Rosi: Sie sagte immer „Ja, ja,“ wenn der Vater mit ihr redete, „das mache ich schon“. Tatsächlich tat sie immer, was sie wollte. Sie ging ihren eigenen Weg. Mein Vater konnte es einfach nicht vertragen, dass man ihm widersprach, und ich musste ihm einfach dagegenreden, es gehörte zu meiner Natur, dass ich mich wehrte.
Eines Tages, nach einer schrecklichen Szene, als er uns alle der Reihe nach blutig geschlagen hatte, beschloss ich, ihn zu töten. Meine Mutter setzte sich jeden Abend ein paar Minuten lang an unsere Betten, der Reihe nach, unterhielt sich sanft mit jedem einzeln und sprach ein Abendgebet. Es waren nur wenige, sehr ehrliche Worte, aber sie gaben uns das Gefühl der Geborgenheit. In dieser Nacht sagte ich zu meiner Mutter: „Die einzige Person, vor der wir nicht sicher sind, ist unser Vater, und wenn ich einmal so stark bin, dass ich eine Axt heben kann, dann werde ich ihn töten.“
Meine Mutter gab einen leisen, unterdrückten Schrei von sich und richtete mich im Bett auf. Während sie mich vor ihrem Gesicht fest hielt, sagte sie in erschrecktem und eindringlichem Tonfall: „Anni, Anni! Sag oder denke niemals wieder so etwas Schreckliches! Das ist eine Todsünde, er ist dein Vater und was immer er auch tut, du darfst dich nicht gegen ihn stellen. Glaube an Gott! Versprich mir, dass du das tun wirst! Und hüte dich vor solchen furchtbaren Gedanken!“
Ich schwieg trotzig und konnte nicht verstehen, warum sie nicht auf meiner Seite war. Natürlich hätte sie zumindest jetzt sehen müssen, dass Gott sich überhaupt nicht darum kümmerte. Von diesem Tag an mochte ich Gott überhaupt nicht mehr. Ich fühlte, dass er uns alle verlassen hatte.
Als mein Vater in den Krieg ziehen musste waren wir Kinder begeistert, obwohl wir nicht wagten, es zu zeigen. Es fiel uns nur schwer, unser Gefühl nicht zu zeigen. Ich konnte den Tag kaum erwarten! Was sich meine Mutter dabei dachte, werde ich wohl nie wissen.
Mein jüngster Bruder wurde bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren, und diese Zeiten werden für immer in meinem Gedächtnis sein, wegen des schrecklichen Hungers, den wir damals litten. Ich hatte gerade mit der Schule begonnen und bestellte auf dem Weg zur Schule jeden Morgen stolz beim Bäcker eine „Mundsemmel“. Das war eine der delikaten Semmeln, die die österreichischen Bäcker so gut machen konnten, und seit damals hat mir nie wieder eine so gut geschmeckt wie diejenigen, die ich am Schulweg kaufte. Aber das blieb nicht lange so.
Mit der Fortdauer des Ersten Weltkrieges wurden unsere Unterrichtsstunden proportional zu den kleiner werdenden Essensrationen gekürzt. Anstellen um Lebensmittel war eben wichtiger. Paradoxerweise erinnere ich mich nur an den Namen einer Französischlehrerin, denn dieser Schalek habe ich ein kleines Deckerl ausgestickt: „Bon appetit“.
Am Sonntag mussten wir immer in die Kirche gehen. Am Freitag wurde vom Lehrer verlautbart, wann wir uns vor der Kirche treffen sollten. In einer Reihe aufgestellt führte man uns in die Kirche, niemand kümmerte sich darum, dass ich Jüdin war. In den Religionsunterricht durfte ich nicht gehen, in die Kirche aber wurde ich geschleppt. Ich verstand nie, was vorne passierte, wir mussten stehen, oft bin ich ohnmächtig geworden, weil ich blutarm war, dann durfte ich mich niedersetzen. Ich ertrug das nur unter innerlichem Protest, denn ein Lehrer duldete keinen Widerspruch. Da uns Gott verlassen hatte, bat ich ihn nicht mehr inbrünstig um Hilfe, sondern sprach die üblichen Worte des Gebetes automatisch und ohne Bedeutung in sie hineinzulegen, innerlich protestierend, dass ich sie überhaupt sprechen musste.
In meiner Klasse gab es nur ein Mädchen, das noch schlechter dran war als ich: Aloisia Petersail. Sie war noch ärmlicher gekleidet als ich und war durch eine Stiefmutter gestraft. Wenn sie traurig war, lud ich sie zu uns ein. Aloisia war sehr gescheit, vielleicht die Gescheiteste in der Klasse. Weil sie so arm war und auch keine richtige Erziehung genossen hatte – sie schnäuzte sich grundsätzlich in die Hand – wollte sich auch niemand mit ihr abgeben. Mir tat sie immer leid, verglichen mit ihr ging es mir gut, ich hatte zumindest eine Mutter.
Die Hälfte der Mädchen unserer Klasse kam mir reich vor. Sie waren schön angezogen, immer lustig, immer vorlaut und hatten Selbstvertrauen. Der anderen Hälfte ging es, mit Abstufungen, so wie mir. Den besser angezogenen Mädchen, wie zum Beispiel der Radetzky, ging ich aus dem Weg, ich hatte immer das Gefühl, dass sie sich über uns lustig machte.
Die Billek Antschi, die Tochter des Besitzers des Kaffeehauses, das in „unserem“ Haus war, hatte es auch besser als ich. Eine Zeitlang war ich sogar zu ihr Puppen spielen gegangen, aber dann ließ ich das bleiben, denn meine Puppenkleider waren alt, und dafür schämte ich mich.
Als mein Bruder zur Welt kommen sollte, erzählte mir eine „Madame“, die zu uns ins Haus kam, die sonderbare Geschichte vom Storch, die mir viel Kopfzerbrechen bereitete. Ich musste bei einer Nachbarin bleiben, während die „Madame“ mit meiner Mutter auf den Storch wartete. Es handle sich dabei um eine ziemlich komplizierte Operation, da einige Fenster nicht wirklich groß genug für den Storch und das Baby seien. Aus diesem Grund müsse jemand beim Fenster stehen, für den Fall, dass er das Baby durch das Fenster hereinwerfe. Die „Madame“ wartete nach ihren Angaben hinter den Vorhängen versteckt, um den vorbeifliegenden Storch nicht zu erschrecken. Alles klang sehr geheimnisvoll, und ich ärgerte mich, dass ich nicht dabei sein konnte. Mit sieben Jahren befolgt man noch alle Anweisungen. Rückblickend bin ich überrascht, dass unsere geistige und emotionale Zurückgebliebenheit nicht länger andauerte, als sie es in Wirklichkeit getan hat. Bei mir hielt sie immerhin bis in meine ersten Ehejahre an. Und es bedurfte eines harten Kampfes, um eine halbwegs realistische Lebenseinstellung zu entwickeln.
Die Nachbarin, bei der ich in Obhut war, benahm sich für mich sehr seltsam, um es milde auszudrücken. Ich war einigermaßen verstört, als ich sah, wie sie den Kasten, der an der Wand stand, die auch zu unserer Wohnung gehörte, ausräumte. Ich befürchtete, dass sie mich vielleicht hinein-stecken wollte. Ich hatte von anderen Kindern schon schreckliche Geschichten gehört, dass sie in dunkle Keller oder Kästen gesperrt wurden, wenn sie schlimm waren. Gottseidank passierte uns das niemals; ich wurde eher geschlagen als ausgesperrt! Aber nein, sie selbst kletterte in den Kasten und lauschte angestrengt, während sie ihr Ohr an die Wand presste. Von Zeit zu Zeit wiederholte sie das, wobei sie etwas murmelte und den Kopf schüttelte.
Ich war sehr verzweifelt und wollte nach Hause gehen, und als ich es ihr sagte, antwortete sie nur: „Armes Kind! Vielleicht hast du deine Mutter nicht mehr lang.“ Ich erstarrte fast zur Salzsäule bei dieser Drohung. Der Storch würde doch nicht versuchen sie mitzunehmen? Sie wäre ihm doch sicher zu schwer, nein, das könnte es nicht sein, aber was dann? Es konnte auch nicht mit dieser Frau, dieser „Madame“ zusammenhängen, sie sah freundlich aus … Ich saß in einer Ecke und verfolgte ängstlich jeden Schritt der Nachbarin. Sie war eine alte, große und hager aussehende Frau, bis auf ihren schrecklich großen Bauch, der herausragte. Als ich älter wurde, erfuhr ich, dass sie an einem bösartigen Gewächs in ihrem Darm gestorben war.
Normalerweise war ich nicht leicht zum Weinen zu bringen – was übrigens meinen Vater manchmal wütend machte, manchmal sagte er: „Du würdest einen besseren Buben als deine weinerlichen Brüder abgeben.“ Damals, als wir auf den Storch warteten, hatte ich fast den Punkt erreicht, in eine Tränenflut auszubrechen, als es an der Tür klopfte. Die Nachbarin kam, um mir zu sagen, dass ich nach Hause gehen könne. Nichts hätte mich einen Augenblick länger halten können, ich rannte hinüber und beinahe der „Madame“ in die Arme.
„Ist meine Mutter da? Ist meine Mutter da?“ „Natürlich ist sie da, und du hast einen kleinen Bruder. Wie gefällt dir das?“ Das alles war zu viel für mich, und ich kam tränenüberströmt am Bett meiner Mutter an. „Warum bist du im Bett, wer hat dir weh getan? Hat jemand versucht, dich zu töten?“
„Du armes Kind,“ sagte meine Mutter, sehr müde, „wie kommst du auf so eine schreckliche Idee? Schau, du hast einen kleinen Bruder. Du wolltest doch immer schon ein Baby, nun hast du eines. Ich bin nur ein wenig müde, daher habe ich mich niedergelegt.“ Ich schaute sie misstrauisch an; sie legte sich niemals nieder, nicht einmal, wenn sie sich schlecht fühlte; ich konnte das Ganze nicht verstehen und mir keinen Reim darauf machen. Es war sehr seltsam.
Mein Vater kam nach Hause, und auf einmal schien er sehr menschlich zu sein. Er schaute sich das Baby an und sagte: „So, es ist ein Bub, Hurra!“, und er fragte meine Mutter: „Wie geht es dir? Fühlst du dich besser?“ Ich war erstaunt! Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er sich je nach Mutters Befinden erkundigt hatte.
Während ich versuchte, mir Klarheit zu verschaffen, schaute ich das Baby an und untersuchte seine kleinen Hände und Finger. Meine Versuche, ihm die Augen zu öffnen, scheiterten jedoch. Diese erste Begegnung nahm mich voll in Anspruch, so dass ich der weiteren Konversation nicht mehr folgen konnte.
Meine Mutter stand nicht einmal am nächsten Tag auf, auch nicht am übernächsten, der Arzt kam täglich, und ich begann wieder, mir Sorgen zu machen. Eine fremde Frau war gekommen, um sich um das Haus zu kümmern. Ich stellte keine Fragen mehr, da man offensichtlich nicht die richtigen Antworten bekam. Wir Kinder durften nicht ins Schlafzimmer, nur ab und zu für eine kleine Weile.
Meine Geschwister waren am Tag der Geburt bei einer jungen Frau gewesen, deren Kinder in denselben Kindergarten gingen wie sie. Als sie am nächsten Tag heimkamen, waren sie sehr glücklich und begeistert wegen des Babys. Sie hatten nicht wie ich unter der Angst gelitten und hatten auch keinen Kopf dafür, dass Mutter im Bett lag. Natürlich, sie waren um einiges jünger als ich. Langsam gewöhnten wir uns daran, dass jemand anderer sich um uns kümmerte, und meiner Mutter wurde es vom Arzt erlaubt, immer öfter aufzustehen, wenn sie nicht arbeitete, und jeden Tag ihre Bettruhe einhielt.
Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, fragte ich sie einmal, warum die Ankunft meines Bruders sie so krank gemacht hatte. Seit diesem Zeitpunkt war sie sehr zerbrechlich geworden. Sie antwortete mir, dass sie einen Herzinfarkt gehabt hatte, als das Baby kam.
Ich liebte das Baby, aber es hielt mich nicht davon ab, ihm die Flasche zu klauen und zu kosten, während ich hinter der Tür stand, für den Fall, dass meine Mutter herauskäme, um mich zu bitten, auf das Baby aufzupassen. Ich erinnere mich, sie gefragt zu haben, warum sie aufgehört hatte, dem Baby zu erlauben, sie zu essen. Sie erklärte mir, wenn ein Baby geschickt würde, gäbe Gott etwas Milch in die Mutter hinein, um sie warm zu halten, und dass das Baby die Milch trinkt und nicht isst. Aber die Milch sei zu Ende gegangen und so müsse das Baby die Flasche bekommen. Diese Flasche enthielt bald gefärbte Milch und sogar eine dunklere Flüssigkeit, und ich erfuhr, dass es schwacher Kaffee sei, wegen der Rationierung von Milch. Normalerweise hatten wir schwachen Tee oder Kaffee, mit einem Tropfen Milch, und dann war es nicht mehr Kaffee, sondern Zichorie, und nicht Tee, sondern ein Sud aus Kräutern. Das waren noch keine Erschwernisse, aber die Jahre vergingen, und bald war es so, dass wir den ganzen Tag über hungrig waren. Meine Mutter wurde immer dünner, genau wie wir, trotz aller ihrer Anstrengungen.
Das Schlimmste war die langsame Reduktion der Brotzuteilung. Das Brot selbst wurde fast ungenießbar, es kratzte und blieb im Hals stecken, mit all den Schalen drinnen, und wenn es aus Mais war, dann zerbröselte es in der Hand zu fast nichts, noch bevor man es essen konnte. Ein kleiner Laib, in vier Teile geschnitten. Eines dieser Stücke war die Wochenration für eine Person. Wenn ich mich für dieses Brot anstellen gehen sollte, bat mich meine Mutter inständigst, nicht der Versuchung nachzugeben, daran zu knabbern.
Das Schlimmste von allen Dingen war, wenn man sich für irgend etwas angestellt hatte, was fast den ganzen Tag dauerte, und es dann aus war, wenn man an die Reihe kam. Und man musste sich für alles anstellen. Die Kohlenration war so klein, dass man die Kohlen in einer Einkaufstasche heimtragen konnte.
Ich erinnere mich, dass ich, während die Jahre verflossen, den größten Teil des Tages damit zubrachte, in einer langen Schlange in der Kälte zu stehen und auf die Kohlen zu warten, die der Kaufmann bekam; wenn sie dann da waren, musste immer ein großer Teil der wartenden Leute enttäuscht heimgehen. Meine Anwesenheit in der Schule war nur mehr sporadisch, sich anstellen war eine Sache auf Leben oder Tod geworden. Es gab niemals genug von irgend etwas.
Der Wunsch nach Frieden brannte in uns Kindern; wir interessierten uns nicht für Märchen, sondern hörten mit angehaltenem Atem den Versprechungen unserer Mutter zu, um nur ja kein Wort zu überhören, wenn sie davon sprach, wann der Frieden kommen sollte. Zuerst hieß es, wir würden dann die Kirchenglocken fröhlich läuten hören; später, als die Glocken denselben Weg gingen wie alles andere verwertbare Metall, als sie geschmolzen und zu immer neuen Waffen gegossen wurden, verloren wir die Hoffnung. Oft ging ich zum Kirchenplatz, schaute hinauf zu dem stillen, glockenlosen Glockenturm, und suchte Anschläge am Kirchentor, in der Hoffnung die Verkündigung des Friedens zu finden, um mit dieser Botschaft nach Hause zu Mutter laufen zu können. Die Sehnsucht nach Frieden wurde zu einer Besessenheit. In meinen Träumen war ich die erste, die nach Hause flog und schrie: „Mutter, Mutter, es ist Frieden! Endlich ist Frieden!“
Aber es kam anders. Als der Frieden wirklich kam, bekam ich es gar nicht richtig mit; wir waren lethargisch, niedergeschlagen und völlig entkräftet. Alles, an das ich mich erinnere, war, dass ich wieder in einer Schlange stand, aber mit einer Schüssel in meinen Händen, tief den quälenden Duft einer heißen Suppe und sogar von Fleisch einzog, an das gierige Schnüffeln danach, das mich fast ohnmächtig werden ließ. Es war nur die Angst, das Drankommen zu verpassen, die mich auf meinen spindeldürren Beinen hielt. Als ich dann die Suppe wirklich bekam und sie hungrig auslöffelte, vertrug mein Magen sie nicht und sie kam wieder hoch. Diese amerikanischen Küchen, mit heisser Suppe und Rindfleisch, retteten unser Leben. Für uns war es fünf vor zwölf gewesen. Meine Schwester und meine beiden Brüder standen vor mir in der Reihe, saßen auf einer kleinen Steinmauer und genossen besonders den Duft und die Wärme der Schüssel mit dem Essen, die sie in ihren kleinen Händen hielten. Sie waren viel disziplinierter, und es schien, als seien sie sich dessen bewusst, etwas zu essen, von dem sie sich nicht erinnern konnten, es je gegessen zu haben. Natürlich unterbrachen sie das Essen, als ich mich übergeben hatte, und sie trugen den Rest ihrer Ration sehr sorgfältig nach Hause. Eine der Rot-Kreuz-Schwestern bemerkte mich und erklärte mir verständnisvoll und freundlich, dass ich sehr langsam essen müsse, da mein Magen nicht daran gewöhnt sei. Ich fragte sie, ob ich etwas für meine Mutter haben könne, die sich nicht gut genug fühlte, um selbst zu kommen; sie nahm mich und eine Schüssel heisser Suppe mit nach Hause, da wir in der Nähe wohnten. Sie glaubte mir nicht, dass ich schon elf Jahre sei. Ich muss körperlich sehr unterentwickelt gewesen sein.
Wie meine Geschwister in diesen Zeiten zurechtkamen, kann ich nicht sagen, ich bekam nicht viel davon mit. Meine Mutter kränkelte, und ich verbrachte die meiste Freizeit in irgendeiner Warteschlange, während meine Schwester in einer anderen stand, und wenn ich heim kam, erfolgreich oder nicht, musste ich sie beruhigen. Sie war achtzehn Monate jünger als ich, und mein Bruder war ungefähr weitere achtzehn Monate jünger als sie. Mein jüngster Bruder, das Baby, war so alt wie der Krieg selbst, am Ende vier Jahre. Er hatte nie etwas anderes kennengelernt, hatte überhaupt nie weiße Semmeln, echtes Brot oder normales Essen gesehen oder gekostet. Er und ich litten an Rachitis und Anämie, mein anderer Bruder an Drüsentuberkulose, und nur meine Schwester schien den Härten des Krieges ohne sichtbare Schäden widerstanden zu haben. Meine Mutter starb letztlich an den Folgen der langen Hungersnot, wie der Arzt sagte, einige Jahre nach dem Krieg. Sie hatte sich niemals mehr erholt und lebte nicht lange genug, um das Wiederaufkommen von weißem Brot mitzuerleben.
So sind jene Jahre unauslöschlich in meinem Leben geworden, und sogar heute, mehr als 70 Jahre danach, kann ich es nicht ertragen, eine Brotkrume zu verschwenden. Im ersten und zweiten Kriegsjahr hatte es noch immer Möglichkeiten gegeben, Essen auf dem Schwarzmarkt zu bekommen, im Austausch eigener Besitztümer für etwas Milch, Brot oder Erdäpfel, ein paar Eier und ein Stück Butter. Aber als die Bettwäsche, das Besteck und die Töpfe und alle beweglichen Einrichtungsgegenstände weg waren, gab es für uns nichts mehr.
Während des ersten Kriegsjahres mussten meine Schwester und ich jeden Tag nach der Schule etwa fünf Kilometer laufen, um eine kleine Schale Milch zu bekommen. Das bedeutete, dass wir eine Brücke über die Donau überqueren mussten. Die Brücke war so konstruiert, dass man durch die Zwischenräume der Bretter tief unten den reissenden Fluss sah. Das übte eine morbide Faszination auf mich aus. Ich stellte mir vor, dass ich eines Tages durch einen dieser Zwischenräume fallen und im Strom versinken würde. Ich hielt die Hand meiner kleinen Schwester fest, als ob ich damit das Schreckliche verhindern könnte. Diese idiotische Angst ist mir geblieben, und Jahre später hatte ich manchesmal noch immer diese Alpträume, in denen ich ausrutschte und fiel und fiel und fiel, bis ich im Bett erwachte.
Nach ein paar Monaten wurde uns gesagt, dass es keine Milch mehr gäbe, und so war es dann auch. Als die russische Front zerschlagen war, wurden viele Gefangene gemacht. Es gab ein Kriegsgefangenenlager in unserer Stadt, und während des letzten Kriegsjahres streiften diese armen Teufel um Essen bettelnd durch die Straßen. Sie hatten keine Schuhe und waren in Lumpen gekleidet. Sie schauten traurig, hoffnungslos und hungrig aus. Genauso wie wir. Für meine Mutter war es schrecklich, „Nein“ sagen zu müssen, wenn sie an die Tür klopften. Sie zeigte auf uns dünne Kreaturen, zeigte ihre leeren Hände und schüttelte den Kopf. Wenn sie dann gegangen waren, weinte sie: „Auch sie sind Kinder einer Mutter.“
Bevor es so weit war, wurden wir immer wieder in Schrecken und Panik und in eine hoffnungslose Angst durch Gerüchte versetzt, dass die Russen durch die Front gebrochen seien und das Land besetzen würden. Die grauenvollsten Geschichten ihrer Brutalitäten wurden von Tür zu Tür erzählt, und ich erinnere mich gut an meine arme Mutter, die immer wieder darum bat, auf die Kinder, die mit weit geöffneten Augen und höchstem Schrecken im Gesicht herumstanden, Rücksicht zu nehmen. Sie selbst konnte die Furcht in ihren Augen nicht verbergen. Ich quälte sie mit den ständigen Vorschlägen, wegzulaufen und uns zu verstecken und so weiter. Jede Nacht wurden überall die Türen und Fenster verbarrikadiert. Es gab kaum Männer in der Stadt, ausser alten und kranken. Meine Mutter erklärte, dass, wo immer wir uns auch befänden, wir in den Händen Gottes seien, und was immer uns geschähe, sei sein Wille. Wir müssten an ihn glauben und dürften keine Angst haben. Und häufiger als sonst, schlang sie ihre Arme um uns und erzählte uns von den Dingen, die auf uns warteten, wenn alles vorüber sei. Sie erzählte uns viele Geschichten, in denen Gott immer half, wo es gerade notwendig war, wo man es sich verdient hatte, und so schaffte sie es irgendwie, unser Vertrauen wieder herzustellen.
Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam, erkannte ihn meine Mutter nicht wieder und wollte vor ihm die Tür verschließen. Sie hielt ihn für einen Gefangenen aus dem Krieg, seine Uniform hing in Fetzen an ihm herunter, er war schmutzig, hatte einen dicken Bart und war dünn und hager. Wir erschraken vor seinem Aussehen, das Baby kreischte und klammerte sich an Mutter. Sie wandte sich ihm zu und erklärte mit bittender Stimme: „Du musst verstehen, sie kennen dich nicht.“
Während des Krieges hatten wir zwei Mal übersiedeln müssen, jedes Mal in eine kleinere Wohnung. Das Leben war sehr schwierig, und ich fand es sehr hart, mit dem Eindringen meines Vaters fertig zu werden. Meine Mutter war schon krank, und er empfand alles als Last. Er war nie ein guter Vater gewesen, aber unter diesen misslichen Umständen wurde er endgültig zum Despoten und Tyrannen. Abgesehen davon, dass er die Familie unter seinen schlechten Launen leiden ließ, wenn etwas für ihn schief gelaufen war, gab es nur wenig Kommunikation zwischen ihm und uns Kindern.
Meine Mutter starb, als ich fünfzehn war, an den Folgen des Hungerleidens und ihrer Anstrengungen während dieser schrecklichen Jahre, uns vier Kinder am Leben zu erhalten. Es gab noch immer wenig zu essen und es war schwierig, damals zurecht zu kommen. Für sie kamen die langsamen Erleichterungen der Nachkriegsjahre zu spät, sie war zum Skelett abgemagert.
Wenn mich damals auf der Straße jemand nach meiner Mutter fragte, gab ich nie zu, wie es ihr wirklich ging, sondern sagte immer: „Es geht ihr gut“, und lief weiter.
Eines Tages war meine Mutter sehr schwach und ich musste zum Doktor laufen, um eine Medizin zu besorgen. „Der Mutter ist so elend, sie schaut so schlecht aus und hat solche Schmerzen, können Sie ihr nicht helfen?“ Der Arzt sah mich an und sagte: „Anni, du weißt doch, es ist nur mehr eine Frage von Tagen.“ Mir war es, als ob mir jemand mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen hätte. Wie konnte sie denn sterben, wenn vier kleine Kinder da waren, mit so einem Vater? Wie konnte sie uns mit ihm allein lassen?
Ich sagte nicht einmal „Guten Tag“ und rannte nach Hause, in die Kaserne, wo wir in einer Notwohnung wohnten. Mein Vater war ein führender Funktionär in der Mietervereinigung, allen Bittstellern versuchte er nun bessere Wohnungen zu besorgen, nur auf unsere Familie hatte er vergessen, wir mussten in einem Loch in der Kaserne wohnen.
Als ich das Bett der Mutter sah, brach ich in Tränen aus, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich überhaupt nichts gefühlt. Mutter sagte, O Anni“, ich aber warf mich nur auf den alten Diwan und weinte und weinte. Ich hörte, wie sie mir sagte, „Aber schau, es macht ja nichts aus, wenn Gott das so will, der weiß, was er macht“. Diese Beschwörungsformeln wiederholte sie immer wieder. Ihre Betrachtungsweise unserer Situation empörte mich nur noch mehr, aber in diesem Moment war ich zu unglücklich, um dagegen zu reden. Ich hörte auf zu schluchzen, und Mutter gestand mir, dass sie schon wusste, dass sie sterben müsste. „Ich habe alles vorbereitet für mein Begräbnis, in dieser Lade ist der schwarze Stoff. Du gehst zu jener Frau, die wird dir die Kleider machen.“
So tat ich es. Zum Begräbnis wollte ich nicht gehen, ich versuchte, keinen Widerstand zu leisten, aber ich kämpfte innerlich mit mir. Die Augen auf den Boden gerichtet, nicht nach links oder rechts blickend, ging ich zum jüdischen Friedhof. Ich wollte niemanden sehen, ich hasste alle, alle waren für den Tod meiner Mutter verantwortlich. Es war ein sehr kalter Novembermorgen, und wir waren dünn bekleidet, es schüttelte mich vor Frost, aber ich dachte immer nur, wenn ich nur sterben könnte auf diesem Weg – ich will nicht zurück nach Hause gehen. Die ganze Zeit sagte ich mir das vor. Das Hinunterlassen des Sargs ins Grab, war für mich das schrecklichste Erlebnis.
Nach dem Begräbnis ging ich einige Mal auf den Friedhof und weinte. Einmal sprach mich eine Frau mit einem Mädchen an, die verstanden hatten, dass ich so traurig war. Es war die Frau des sozialdemokratischen Abgeordneten Lindner; sie lud mich zu sich nach Hause ein und Mutz, die Tochter, wurde meine beste Freundin. Bei den Lindners gab es häufig Musikabende. Mutz spielte wunderschön auf dem Piano, dann war da noch ein Hermann Resch, der sang, Geige und Mandoline spielte. Diese Abende waren meine Seligkeit, ich fühlte mich wie im Paradies, ich war aus der Notwohnung herausgekommen, war in einem warmen Zimmer, umgeben von schönen Dingen, und dann diese Musik.
Als ich das erste Mal nach dem Krieg 1955 wieder nach Krems kam, suchte ich den jüdischen Friedhof auf, das Grab meiner Mutter konnte ich aber nicht finden, kein Grabstein, nichts, es sah schrecklich aus, alles verheert, ich wünschte, ich hätte den Friedhof nie mehr besucht.
Mein vermutlich erster Schwarm war der Kantor, der hatte eine so schöne Stimme, wenn er sang, schmolz mir das Herz. Unsere Familie ging nicht sehr oft in den Tempel, mein Vater war bekannt als Jude, aber gläubig war er nicht. Das Pessach-Fest, die Zeremonien zu Hause, der gedeckte Tisch und die Kerzen, feierten wir vielleicht nur zwei-, dreimal, ich habe daran nur eine sehr schwache Erinnerung. Obwohl ich nur selten im Tempel war und auch den Religionsunterricht im Tempel nicht besuchte, war mir der Kantor ein Begriff. Ich verstand nicht, was er sang, es war auch eine fremde Melodie, aber als kleines Mädchen liebte ich ihn immer heimlich. Weil ich in ihn so verliebt war, kam mir seine Frau hässlich vor. Sie trug immer eine Perücke, die sie viel zu weit ins Gesicht gezogen hatte. Meine Mutter erklärte mir, dass es ein jüdischer Brauch sei, dass den Frauen nach der Hochzeit die Haare geschoren werden. Ich wollte das nie mit mir geschehen lassen. Gut, eine Perücke, aber warum musste sie die Perücke so tief ins Gesicht gezogen tragen? Am liebsten hätte ich sie ihr aus dem Gesicht geschoben.
In Krems gab es die Tradition des Bummels um sechs Uhr abends. Der Bummel: Da gingen die Leute die Landstraße hinauf und hinunter. Damals verliebte sich ein Soldat namens Joachim, groß, dünn und melancholisch dreinschauend, in mich. Meine Freundin, die Schmoll, berichtete mir, dass Joachim davon träumte, dass ich eines Tages mit ihm ausgehen würde. Wenn man jemanden nicht leiden kann, kann man wirklich grausam sein. Um ihn abzuschrecken, ließ ich ihm ausrichten, wenn ich jemals einen Mann heiraten sollte, dann müsse er unter dem Tisch leben, und wenn ich ausgehen würde, müsste er mir ein Körbchen mit den Einkäufen nachtragen. Ich würde ihm nie erlauben, neben mir zu gehen. Die Schmoll richtete Joachim das aus, und tatsächlich ging er einige Tage um sechs Uhr abends hinter mir her und rannte mir nach wie ein Hund. Wenn ich mich umdrehte, schaute er schnell weg. Meine Schwester Rosi mochte ihn sehr gern, und sie behauptete auch, er sei ganz lustig. Ich habe ihn überhaupt nie lustig gesehen, aber vielleicht, weil er unglücklich in mich verliebt war.
Der erste richtige Mann war für mich Hans Hagen, ein guter Freund meines Vaters, der sehr aktiv in der Tagesheimstätte war und ein guter Tischler bei Otto Adler. Immer wenn Vater beim Billek im Café saß, kam Hans zu mir hinauf. Ich war damals vielleicht 14 Jahre, er sicherlich schon an die 30, groß und blond. Er wollte mit mir reden, ich wollte aber keinen Streit mit meinem Vater. Er wischte meine Angst immer weg: „Der Vater hat nichts dagegen, der Vater mag mich.“
Hans Hagen war damals schon verlobt. Allerdings konnte er sich gar nicht an seine Verlobung erinnern, er war bei einer Gesellschaft eingeladen gewesen, hatte einiges getrunken und musste am nächsten Tag erfahren, dass Poldi Endl seine Verlobte sei. Poldi ließ nicht von ihm, obwohl er sie nicht als seine Verlobte anerkennen wollte. Ein Freund von ihm sagte zu mir: „Oh, der Hans liebt Sie so, Sie sollten ihn wirklich annehmen, der liebt Sie wirklich.“
Ich hatte aber sehr strenge sittliche Vorstellungen, vielleicht ein bisschen viktorianisch. „Wenn du so in mich verliebt bist, dann musst du dich von der Poldi lossagen. Wenn du dazu nicht fähig bist, dann bist du überhaupt nichts wert.“ Wir haben uns auch nie geküsst, weil für mich immer klar war, er gehört zur Poldi. Das war meine erste und zugleich unglückliche Liebe, die mir für eine lange Zeit großes Herzweh bereitet hat.
Mit Mutters Tod gab es niemanden mehr, der sich um das Familienleben kümmerte, wie sie das getan hatte. Ich hätte gerne studiert, aber natürlich kam das gar nicht in Frage. Mein jüngerer Bruder wurde in ein Waisenhaus nach Wien geschickt, mein anderer Bruder musste als Lehrling zu einer illegitimen Tochter meines Vaters, deren Mann Goldschmied war, ziehen. Meine Schwester wurde Kindermädchen, und ich fand einen Sekretärinnenjob beim Rechtsanwalt Dr. Otto Mitterbauer in Krems. Er war ein großer Verehrer meiner Mutter gewesen, mit der er in die Schule gegangen war. Oft erzählte er mir, was sie für ein schönes Mädchen gewesen sei und fügte hinzu, „Du bist genau wie dein Vater“. Ich hasste mich dafür. Nach einigen Monaten konnte ich eine bessere Stelle beim Rechtsanwalt Dr. Adler in Krems finden.
Ich war die einzige im Haushalt, die regelmäßig Geld verdiente und musste jeden Monat mein Geld abliefern, von dem ich nur einige wenige Münzen für das Nötigste erhielt. Bald nahm sich mein Vater eine Wirtschafterin, die natürlich seine Geliebte wurde. Damals hatten wir schon eine größere Wohnung, und ich hatte ein eigenes Zimmer, aber ich hielt die ganze Situation für unerträglich und war sehr unglücklich. Trotzdem konnte ich keinen Ausweg aus diesem Gefängnis finden. Ich durfte nie am Abend ausgehen oder an irgendwelchen Unterhaltungen teilnehmen.
Als ich bei Dr. Adler zu arbeiten begann, war ich zumindest für einige Stunden meinem Gefängnis entronnen. In der Kanzlei arbeiteten neben mir noch drei Mädchen. Emmi sah aus wie ein Engel, ein süßes Mädel, als ob sie nicht bis fünf zählen könnte, in Wirklichkeit war sie aber sehr raffiniert. Frau Göbel war bereits verheiratet, hatte aber ein Verhältnis mit dem Partner von Dr. Adler, Dr. Haas, was ihr natürlich alle Vorzüge in der Kanzlei eintrug. Als ich anfing, arbeitete neben Dr. Haas noch Dr. Brüll als Rechtsanwalt in der Kanzlei. Dr. Brüll war sehr klug, aber er konnte sich nicht präsentieren, er legte vielleicht zu wenig Wert auf sein Äusseres. Dr. Haas war sehr selbstsicher und von sich eingenommen, bei uns war er der beliebteste. Umso mehr hat es mich dann getroffen, als ich erfuhr, dass er bereits ein illegaler Nazi gewesen war.
Unser Chef, Dr. Adler, war ein sehr geschickter und guter Anwalt und verdiente auch viel. Über seine Geschäftstüchtigkeit machten wir uns immer lustig. Wenn er hereinkam, erteilte er schon bei der Tür seine Anordnungen. Wir haben damals ein Gedicht auf ihn gemacht: „In der Nacht aufgewacht und nachgedacht…“ Es reimte sich alles und handelte von seiner Geldgier. Uns blieb immer schleierhaft, wie er eine Frau finden hatte können, denn für uns sah er aus wie ein Affe, er wiegte sich und schlenkerte mit seinen langen Armen. Die Leute lachten über ihn, aber wenn sie ihn brauchten, dann kamen sie, denn er boxte sie alle heraus. Vielleicht hatte er nicht das Wesen, um beliebt zu sein.
Neben uns Frauen waren noch zwei Männer beschäftigt. Der jüngste von uns war Karl Ziegler, der gerade in dem Alter war, in dem die Wimmerl sprießen. Mit seiner roten Nase kam er gerne zu mir: „Anni, was glaubst du, soll ich dagegen machen.“ Wegen jeder Kleinigkeit stand er bei mir, es störte ihn nicht, dass ich Jüdin war. Dabei brüstete er sich immer damit, ein Hakenkreuzler zu sein. Zuerst wussten alle nur von seiner deutschnationalen Gesinnung, aber schon bald fand er nichts dabei, wenn er als Hakenkreuzler tituliert wurde. Für mich war klar, dumme Leute gibt es genug, aber die Gefahr habe ich nicht erkannt, damals.
Theodor Zeh, der zweite Mann unter den Bürokräften, ärgerte sich oft über Ziegler und stichelte, aber er war zu gutmütig, um wirklichen Streit anzufangen. Wenn es wieder einmal so weit war, nahm ich Karl in Schutz: „Lassen Sie ihn in Ruhe, er ist ja noch so klein.“ Während Karl mit seiner Politik prahlte, sprach Theodor Zeh, ein großer vierschrötiger Kerl, im Winter vom Schi fahren, erzählte, wo er gefahren war, welche Sprünge er wieder gemacht hatte. Dr. Haas gab uns Mädchen Kosenamen, mich nannte er Köhnchen, die Schmoll war das Schmollchen und nur die Göbel sprach er auf jeden Fall nur mit dem Vornamen an. Im Büro war eine nette Stimmung, ich ging gerne arbeiten.
Rückblickend war es eine selige Zeit, unschuldig verliebt zu sein. Die Mädchen, die ich kannte, hatten viele Abenteuer, ich hatte keine Erfahrung in Liebessachen. Die Schmoll kam mit dem Zug an und ging zu Fuß zur Kanzlei von Dr. Adler, ihr Mann war Gendarm am Bahnhof und hatte einen Berufskollegen, namens Franz Ertl. Dieser Gendarm wollte mich immer nach Hause begleiten. Das störte mich nicht weiter, aber er wollte unbedingt näher mit mir bekannt werden und konnte seine Hände nicht bei sich behalten. Ich schlug ihm auf die Hände, denn ich wollte nicht abgetatscht werden. Wenn er mich schon nicht halten durfte, so wollte er zumindest einen Kuss. Natürlich wollte ich auch keinen Kuss, man geht doch nicht küssend durch die Stadt. So musste Franz Ertl meiner Freundin, der Schmoll, bald resignierend erklären: „Das gebe ich auf mit der Anni. Sie will überhaupt nichts haben. Man darf sie nicht angreifen und sie will nicht küssen, was soll ich dann mit ihr machen?“ Dieser Mann interessierte mich wirklich nicht, aber geschmeichelt war ich natürlich, dass mich ein Gendarm heimbegleiten wollte. Schließlich heiratete er die Tochter eines Fleischhauers, die nicht besonders schön, aber reich war.
Mein Mann war dann der erste, mit dem ich richtig ausgegangen bin, er war auch der erste, den ich küsste. Er wusste von meiner ersten unglücklichen Liebe zu Hans Hagen nichts. Das hätte ich ihm auch nie gesagt, weil es wirklich eine tiefe Neigung gewesen war. Wenn es eine Liebelei gewesen wäre, hätte ich es ihm schon erzählt und vielleicht Witze darüber gemacht.
Mein Vater war als Jude in Krems bekannt und trotzdem beliebt, so weit ich das als Mädchen beurteilen konnte. Sami hin, Sami her, hiess es, er hatte viele Freunde und ständig suchte ihn jemand. Er war häufig irgendwo eingeladen und nur selten zu Hause anzutreffen. Die Abende verbrachte er im Café Billek. Mein Vater war eine Leuchte in der sozialdemokratischen Bewegung und gründete den Kremser Mieterverein zum Schutz von Wohnungssuchenden und Mietern. Er gehörte auch dem Männergesangsverein an und hatte verschiedene andere Funktionen. Als ein Klub für Gymnastik und Akrobatik entstand, wurde ich zur Teilnahme eingeladen, und natürlich konnte er unter diesen Umständen seine Zustimmung nicht versagen, denn es hätte sein Image als Sozialdemokrat gestört! Er war immer unterwegs bei Komiteesitzungen, aber ich musste, sobald die Turnstunde vorüber war, nach Hause gehen.
Gelegentlich durfte ich auch zu Veranstaltungen in der Tagesheimstätte der Sozialdemokraten gehen. So kam es, dass man mich eines Tages fragte, ob ich nicht im Theaterverein mitspielen wolle. Auf der Bühne stand ich allerdings nur einmal. Ich spielte eine Dame in einem Salon und musste etwas vorsingen, obwohl ich das doch schon als Kind gehasst hatte – noch dazu hatte ich ein Lied vorzutragen, bei dem ich mich bereits bei den Proben vor den hohen Noten gefürchtet hatte. Als Kostüm trug ich ein dunkelblaues Seidenkleid. Es dürfte wohl die Nervosität gewesen sein, aber bei der Aufführung hatte ich vergessen meinen Rock auszuziehen. Nach dem Krieg gab es keine Stoffe, und so trugen wir Röcke, die aus Brennesseln gemacht waren, ein billiges Material, das sich anfühlte wie ein Panzer. Schrecklich, ich trug das schöne Kleid über meinem Panzer, und einigen Zuschauern fiel das natürlich auf, ich schämte mich fürchterlich. Das war mein erster und letzter Auftritt auf der Bühne.
Mein Vater hoffte und plante, mich mit einem seiner Geschäftspartner zu verheiraten, die zwar finanziell gut gestellt, meist aber im fortgeschrittenen Alter und körperlich weniger gut beisammen waren. Er pflegte sie nach Hause einzuladen, aber ich ahnte seine Absichten und war nicht ansprechbar.
Eines Abends gab es einen Streit, und er sagte zu mir: „Du brauchst nicht glauben, dass du noch länger mit mir spielen kannst, du wirst Herrn X heiraten. Er ist reich, hat ein großes Haus und ist ein guter Kunde von mir. Du solltest froh sein, dass er dich heiraten möchte.“ Im Gegenzug schrie ich ihn an: „Du kannst dir deine unguten Freunde behalten oder deine Geliebte veranlassen, sie zu heiraten. Ich werde heiraten, wen ich will und wann ich will und keinen alten Knacker von fast fünfzig!“ Er schäumte: „Wir werden schon noch sehen, wir werden schon noch sehen! Du wirst tun, was ich dir sage oder ich werde dir jeden Knochen in deinem Körper einzeln brechen!“ Er ging hinaus und schlug die Tür zu.
Die Wirtschafterin war weg. Ich packte eine winzige Tasche und verließ das Haus. Ich ging zum Bahnhof, nahm den letzten Zug und fuhr zu einer entfernten Cousine meiner Mutter. Sie war eine unverheiratete Frau in mittleren Jahren, die ihr bescheidenes Leben als Schneiderin fristete. Wir nannten sie Tante. Sie lag bereits im Bett, als ich anklopfte, und wir sprachen bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages. Sie bereitete mir ein Bett. „Sorge dich nicht, ich werde alles mit deinem Vater klären, ein für alle Mal. Die Zeiten haben sich geändert und er kann nicht mehr alles machen, was er will.“ Sie wusste, wie lange meine Mutter gelitten hatte.
Natürlich konnte ich am nächsten Tag nicht ins Büro gehen, und ich befolgte den Rat meiner Tante, standhaft zu bleiben. Am nächsten Abend kam mein Vater. Meine Tante ließ ihn nicht in die Wohnung und sprach mit ihm nur durch das Fenster zur Straße hinunter. Er drohte, dass mich die Polizei gewaltsam nach Hause bringen würde. Zur Sicherheit sperrte ich mich ein und konnte so das folgende Gespräch nicht mitverfolgen. Ich weiß nicht, womit die Tante ihm gedroht hat, aber ich durfte schließlich einige Tage bei ihr bleiben und kam erst nach Hause, nachdem sich die Situation beruhigt hatte.
Etwa zu dieser Zeit trug sich eine Begebenheit zu, die zu einem Wendepunkt in meinem Leben werden sollte. Als ich begonnen hatte, den Arbeiterturnverein zu besuchen, freundete ich mich mit dem Trainer unserer Gruppe an. Es begann damit, dass ich ihm mit solcher Wucht praktisch um den Hals fiel, dass ich ihn fast niedergestreckt hätte, wäre er nicht so leichtfüßig gewesen. Ich hatte den so genannten „Hechtsprung“ gemacht. Ich weiß nicht, wie es geschehen war. Nachdem ich vom Sprungbrett weggesprungen war, hatte ich die Nerven verloren, war mit ausgestreckten Armen durch die Luft gesegelt und schließlich glücklicherweise an seinen Schultern gelandet. Statt hinzufallen machte er ein paar leichte und rasche Schritte nach hinten, fing mich sicher auf und half mir, auf meinen Füßen zu landen. Es war unerträglich peinlich. Dass mir so etwas dummes, ausgerechnet mit ihm hatte passieren müssen, wo doch alle miteinander wetteiferten, bei ihm ihr Bestes zu geben, war wirklich demütigend. Jedes weibliche Wesen war „verrückt“ nach unserem Vorturner, sogar Verheiratete schmachteten vergeblich. Er war neu in der Stadt und trotz seiner Reserviertheit der „Hit“ im Klub. Ein ausgezeichneter Akrobat mit einer exzellenten Figur, nicht groß, aber perfekt proportioniert. Er hatte dunkelbraunes gewelltes Haar, wunderschöne Zähne und zwei Grübchen, eines in einer Wange und eines an seinem Kinn. Sie zeigten sich teilweise, wenn er lächelte, was er aber sehr selten tat. Er hieß Franz und leistete seinen Militärdienst in unserer Stadt ab.
Er bemerkte, wie peinlich mir das ganze war, aber er lachte nur und sagte: „Ist ja nichts passiert“. Ich wünschte, der Boden hätte sich aufgetan, um mich zu verschlucken. Und meine Kolleginnen ließen mir keine Chance, die Sache zu vergessen. Bemerkungen wie, „Es geht doch nichts darüber, den Stier bei den Hörnern zu packen!“ oder „So schnell kann das gehen!“ oder „K.O.-Technik“ oder „Überraschungstaktik!“ oder „Das bedeutet es also, wenn man sagt: Leute im Sturm nehmen!“ schwirrten durch die Luft.
Nach der Stunde sagte er: „Nun, da wir uns schon einmal so nahe gekommen sind, kann ich Sie nach Hause begleiten, wir wohnen doch in derselben Gegend?“ Ich wollte das um keinen Preis. Er hatte noch nie jemanden von der Stunde nach Hause begleitet, soweit ich wusste, und ich fürchtete die bösen Zungen meiner Mitturnerinnen. Wenn irgend jemand meinem Vater davon erzählen würde, dass ich in männlicher Begleitung nach Einbruch der Dunkelheit gesehen worden war! Daher redete ich mich auf meinen Vater aus: „Ich fürchte, mein Vater würde es nicht erlauben“. Er schaute mich erstaunt an und sagte: „Meine Güte, er wird Sie schon nicht beissen, einmal muss man ja beginnen!“ Als ich aus der Halle herauskam, wartete er. Ich glaube nicht, dass ich auf dem Heimweg mehr als ein halbes Dutzend Worte von mir gegeben habe; es konnte mir gar nicht schnell genug gehen. Als wir zu meiner Straße kamen, sagte ich „Gute Nacht‘ und lief auf unsere Haustür zu, den Schlüssel in der Hand. Ich muss ihn etwas verwirrt zurückgelassen haben. Ich lief zu unserer Wohnung hinauf und schaute aus dem Fenster, aber er war schon weg. Franz sollte mein Ehemann werden.
Nach dem fürchterlichen Streit mit meinem Vater blieb ich wenige Tage bei meiner Tante und verließ sie eines Morgens, früh genug, um ins Büro zu gehen. Ich hatte meinen Chef schon vorher informiert, dass ich auf Grund von Familienangelegenheiten ein paar Tage wegbleiben würde. Zu Mittag ging ich nach Hause, mein Vater war weg und ich nahm mir mein Essen aufs Zimmer. Am Abend ignorierten wir einander. Seitdem ich diesen Schritt gewagt hatte, fürchtete ich mich etwas weniger vor ihm, und er spürte, dass seine Macht über mich nachgelassen hatte. Trotzdem fühlte ich mich schlecht. Nach dem nächsten Gymnastikabend wartete Franz wieder auf mich, was mich sehr überraschte. Aber dieses Mal benahm ich mich normaler und tratschte und schüttelte ihm die Hand, als die Haustür in Sicht kam.
Einige Zeit verging, und ich hatte mich daran gewöhnt, mich von Franz nach Hause begleiten zu lassen. Eines Abends fragte er mich direkt, aus heiterem Himmel heraus: „Warum sind Sie so unglücklich?“ Ich stotterte und fragte: „Wie kommen Sie auf die Idee?“ Er sagte, dass es für ein junges Mädchen ziemlich abnormal sei, niemals mit den anderen Mädchen zu lachen. Da gab ich plötzlich nach und sagte, dass ich keinen Grund dazu hätte, da ich zu Hause sehr unglücklich sei, seit meine Mutter gestorben wäre und dass ich am liebsten fort von hier ginge. Danach war er sehr still dann sagte er plötzlich: „Bis Morgen“.
Als wir uns das nächste Mal trafen, war Franz sehr gesprächig. Er erzählte mir von seiner Schwester, die mit einem Regierungsmitglied in Wien verheiratet war, dass sie eine große Wohnung hätte und dass er normalerweise seine Freizeit mit ihrer Familie verbringe, die aus vier kleinen Kindern bestehe. Plötzlich platzte er heraus: „Sie bietet Ihnen ein eigenes Zimmer in ihrer Wohnung an, solange, bis Sie auf eigenen Füßen stehen oder solange Sie bleiben möchten.“ Ich war fassungslos! Nach Wien fahren, in die große Stadt! Es war eine wundervolle Idee, aber auch erschreckend! Ich war niemals von zu Hause weg gewesen, ausser bei meiner Tante auf dem Land. Wie verlockend und doch beängstigend für ein unreifes Mädchen. Ich war völlig durcheinander! Er sagte: „Ich werde gehen und mit Ihrem Vater reden, wenn Sie wollen.“ Rasch wehrte ich ab: „Oh nein, tun Sie das nicht!“ Dann sagte ich: „Danke, ich danke Ihnen sehr, aber ich muss erst darüber nachdenken.“ Ich lief davon, ohne mich zu verabschieden. Ich musste allein sein. Am nächsten Tag gab mir ein Kollege im Büro einen Brief, der von Franz war. Er schrieb, dass wir etwas Wichtiges zu besprechen hätten, etwas das mir helfen würde, meine Entscheidung zu treffen, wenn ich ihn am Abend treffen könnte, würde er vor dem Büro auf mich warten.
Ich war sehr aufgeregt. Wir schienen beide etwas verlegen angesichts dieses ungewöhnlichen Treffens. Erst schwieg er betroffen, dann platzte es aus ihm heraus: „Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Sie liebe, aber ich darf während meines 3-jährigen Militärdienstes nicht heiraten. Danach könnten wir heiraten, aber ich muss die Schneiderei meines Vaters übernehmen, was, für die nächsten Jahre Existenzkampf bedeutet. Sie werden nicht auf Rosen gebettet sein.“ Dann sah er mich direkt an und sagte: „Ich dachte, wenn Sie das wissen, werden Sie sich in Wien weniger verloren fühlen, und ausserdem würde es Ihnen helfen, Ihre Entscheidung zu treffen.“ Wegen der Heirat könne ich es mir noch später überlegen, nur damit ich wisse, dass da jemand hinter mir stehe. Wir saßen auf einer Bank im Park. Während er sprach, blickte er so ernst, und seine Worte waren so aufrichtig, das verwirrte mich. Jemand, der für mich einstand, mir zur Seite stand, jemand, der mich liebte! Meine Gefühle waren so widersprüchlich. Ich mochte ihn sehr, ich war geschmeichelt, ich war aufgeregt bei dem Gedanken, dass ich jemandem etwas bedeutete, und ich war besorgt, wir waren beide so jung.
Ich erwachte wieder aus dieser Traumwelt und sagte: „Ich muss gehen, mein Vater wird jetzt zu Hause sein, und ich muss diese Gelegenheit nützen, um ihm von meinem Plan, nach Wien zu gehen, zu erzählen.“ Er bot mir an, mit mir zu kommen, aber ich wies das heftig zurück. Ich musste das ganz alleine tun, er kannte meinen Vater nicht. Er bat mich, danach herunter zu kommen, um ihm zu berichten, er würde auf der anderen Straßenseite warten.
Ich ging also hinauf, voll der bösen Vorahnungen. Ich konnte sofort sehen, dass mein Vater besonders schlecht gelaunt war. Er flog auf mich zu, richtete sich turmhoch vor mir auf und schrie mit glitzernden Augen: „Ich möchte wissen, wo du gewesen bist!“ Ich aber ging weiter zu meinem Zimmer, ohne ihm zu antworten. Allerdings blieb ich stehen, als ich ihn sagen hörte: „Glaub‘ nur nicht, dass ich nicht weiß, dass du mit einem Soldaten herumziehst; damit ist Schluss! Ich werde ihn versetzen lassen! Auf den Knien wirst du vor mir liegen, du Hure!“ Ich verlor fast die Besinnung. Ich drehte mich um, sah ihn an und schrie: „Du Ungeheuer, du bist schuld, dass sich deine Kinder vor dir fürchten und dich verabscheuen. Du hast meine Mutter kaputt gemacht. Aber ich sage dir, mein Leben wirst du nicht zugrunde richten.“
Wir standen Kopf an Kopf, mit flammenden Augen, triefend vor Hass. Er hob gerade seine Hand, um mich zu schlagen, als eine donnernde Stimme von der Tür her klang: „Wenn Sie ihr nur einen Finger krümmen, werden Sie meinen Ledergürtel zu spüren bekommen.“
Er fiel zurück, wie vom Blitz getroffen. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, schrie er: „Hinaus, hinaus mit Ihnen! Dafür werden Sie im Gefängnis landen, ich werde Ihren Vorgesetzten veranlassen, Sie einzusperren.“ Franz schaute ihn nicht mehr an, sondern sagte zu mir: „Kommen Sie weg von hier, in diesem Haus, mit diesem Irren sind Sie nicht mehr sicher.“
Ich war fassungslos und beschämt. Ich wusste nicht, wie lange er schon dort gestanden hatte und wieviel er gehört hatte. Ich zitterte noch immer vor Empörung über die Anschuldigungen und die schmutzigen Worte meines Vaters, ich wäre imstande gewesen, ihn umzubringen. Ich sagte zu Franz: „Danke, dass Sie mir zu Hilfe gekommen sind“, und setzte in frostigem Ton fort: „Wenn er mich geschlagen hätte, hätte ich ihn umgebracht. Ich werde dieses Haus verlassen, aber nicht aus Angst vor ihm, sondern wegen mir selbst. Ich muss mich noch um einiges kümmern. Ich werde Sie morgen nach dem Büro treffen und Ihnen dann sagen, was ich machen werde.“
Ich begleitete Franz hinaus und kam zurück, ohne meinen Vater eines Blickes zu würdigen. Ungefähr eine Stunde später ging ich in das Wohnzimmer, um einige meiner Sachen und Bücher zu holen. Ich hatte gehofft, dass er ausgegangen sein würde, aber er saß kauernd in einer Ecke des Sofas. Er sagte: „Du gehst nicht wirklich?“ Ich gab keine Antwort. Er begann zu weinen. „Mein eigenes Kind, meine eigene Tochter. Das habe ich nicht verdient. Ich mag vielleicht kein guter Vater gewesen sein, aber ich habe das nicht verdient, dass mein eigenes Kind mir mit Umbringen droht. Ich könnte mich genauso gut selbst umbringen, es gibt keinen Grund weiter zu machen!“
Ich ging in mein Zimmer zurück, als hätte ich ihn nicht gehört, und verschloss die Tür. Diese Nacht konnte ich keinen Schlaf finden. Nachdem meine Wut abgeklungen war, fiel mir sein Weinen ein, etwas absolut Unglaubliches. Plötzlich machte ich mir Sorgen. Ich schaute auf die Uhr, es war vier Uhr früh. Ich hatte ihn nicht in sein Zimmer gehen gehört. Ich ging ins Wohnzimmer, nein, dort war er auch nicht, und ich sah seine Schlafzimmertür weit offen, daher war er nicht zu Hause. Ich machte mir Vorwürfe, dass ich so mit ihm gesprochen hatte, aber schließlich hatte er jedes einzelne Wort verdient, wenn ich an die Jahre des Elends dachte. Wie hatte meine Mutter unter ihm leiden müssen, und erst wir Kinder. Vier Schicksale ohne Recht auf eine glückliche Kindheit. Warum sollte ich mich sorgen, er hatte sich selbst auch nie darum gesorgt, was er uns angetan hatte.
Ich habe es auch später nie fertiggebracht, meinem Vater zu verzeihen. Als ich bereits in England war, erhielt ich eines Tages eine kurze Rot-Kreuz-Nachricht von meiner Schwester Rosi aus Wien: „Vater heute friedlich im Schlaf gestorben“. Es muss ein Herzanfall gewesen sein, er war nur einen Tag im Spital gewesen.
Ich lag also weiter in meinem Bett, die Zeit verging, und meine Angst um meinen Vater wurde immer größer, auch wenn ich mich dafür tadelte. Es war nun bereits fast sechs Uhr früh, und Zeit aufzustehen. Normalerweise war er zu dieser Zeit immer schon auf und machte seinen Morgenspaziergang. Da hörte ich etwas … es waren Schritte, die die Stufen heraufkamen, seine Schritte, er sperrte auf und ging direkt in sein Schlafzimmer. Es war alles nur geschmackloses Theater gewesen. Er hatte die Komödie bis zum Ende durchgespielt und wohl gehofft, mich in Tränen aufgelöst und tief besorgt vorzufinden, nach seinem verabscheuungswürdigen Auftritt.
Aber in Wirklichkeit machte er mir damit alles noch viel einfacher. Ich benachrichtigte das Büro und vereinbarte, dass ich die noch verbleibenden drei Wochen bei einer Kollegin verbringen würde. Ich besuchte mit Franz meine Tante, die sich sehr über die Entwicklung freute. Drei Jahre später heirateten wir in Wien.
Ich habe in meinem Leben mehrere Heiratsanträge bekommen, den ungewöhnlichsten machte mir jener Pfarrer, bei dem ich in die Brautlehre in der Pfarre St. Othmar, im dritten Bezirk in Wien gegangen bin. Der Pfarrer, ein ganz netter Kerl, wollte, dass ich mit ihm die Stadt verlasse. „Kommen Sie mit mir“, forderte er mich immer wieder auf. Für mich war das natürlich verrückt, ich konnte doch nicht meinen Mann, meinen zukünftigen Mann, im Stich zu lassen.
Als ich bereits verheiratet war, schrieb mir der Pfarrer weiterhin Briefe. Ich tat sie alle in eine kleine Lade, irgendwie war ich stolz darauf. Eines Tages entdeckte mein Mann sie. Er war natürlich verwundert, ich erklärte ihm aber, dass er sich keine Gedanken darüber machen müsse, ich sei ja bei ihm und nur darauf käme es an. Ich musste ihm allerdings versprechen, die Briefe wegzuwerfen, und das tat ich auch.
Von Seiten des Pfarrers war das ein wirklich tiefes Gefühl. Er schrieb mir, er hätte nie Pfarrer werden wollen, aber für seine Mutter sei das die einzige Möglichkeit gewesen, ihn studieren zu lassen. Er sprach vom Auswandern und davon, dass er mich darum beneide, dass ich so glücklich verheiratet sei, dass er aber überzeugt sei, dass ich auch mit ihm glücklich geworden wäre. Ich war jung und fühlte mich sehr geschmeichelt.
Ich lebte mit meinem Ehemann im Hause meines Schwiegervaters. Die Mutter meines Mannes war einige Jahre vor dem Tod meiner Mutter verstorben, und so wurde der Haushalt von einer Haushälterin besorgt, die gehen musste, als ich kam, was sie nicht gerade für mich einnahm. Aber das ging mich nichts an, sie sollte nicht neben einer anderen Frau im Hause bleiben.
Wie Franz angekündigt hatte, wurde es ein Lebenskampf. Oft mussten wir die ganze Nacht durcharbeiten, immer vor den großen Feiertagen, wie Ostern, Pfingsten, Weihnachten. Da Franz für den Erwerb des Geschäftes seinem Vater monatliche Raten zu zahlen hatte, mussten wir soviel Arbeit wie möglich selbst verrichten.
Als ich nach Wien kam, fand ich sehr bald eine Arbeit als Sekretärin bei Dr. Hans Wantuch, einem ziemlich angesehenen Rechtsanwalt, der sich auf Strafverteidigung spezialisiert hatte. Es war eine interessante Tätigkeit, und ich hatte mich bald hochgearbeitet und stand den anderen Mädchen im Büro vor. Ich begleitete meinen Chef zu den Verhandlungen, um alles, was er wollte, mitzustenographieren. Ich kam mir sehr wichtig vor, wenn ich ganz vorne saß, von wo ich nicht nur die Geschworenen, sondern auch die Angeklagten und die Richter sehen konnte. Ich musste oft bis in die Nacht arbeiten, aber ich liebte meinen Beruf und hatte mich mit meinem Arbeitgeber und dessen Frau angefreundet, die die Nachmittage im Büro zu verbringen pflegte.
Wenn wir die Zeit dafür aufbringen konnten, waren mein Mann und ich im Sommer im Wochenendhaus meines Chefs an der Donau, ausserhalb von Wien, gern gesehene Gäste. Mein Chef hatte nur ein Bein, ein Andenken an den Ersten Weltkrieg, trotzdem war er ein sportlicher Schwimmer. Er pflegte seine Prothese zusammenzulegen, tat sie in eine wasserdichte Tasche, die er sich umhängte und die hinter ihm an einer langen Leine schwamm. So war es ihm möglich, sofort wieder auf die Beine zu kommen, wo immer er auch landete. Ich pflegte mit ihm die Donau hinunterzuschwimmen, aber er bestand immer darauf, dass ich mich an seine Leine hielt, nur für den Fall, dass ich in Schwierigkeiten geraten sollte. Es war nicht nur erfrischend, sondern auch eine ausgesprochen fröhliche Angelegenheit. Mein Mann, der regelmäßig seine akrobatischen Übungen auf dem Sprungbrett machte, zog das Schwimmbecken vor; ausserdem ertrug er das eiskalte Wasser des Flusses nicht. Es waren besonders glückliche Zeiten, ich hatte ein Zuhause und einen liebevollen Mann.
Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, so fällt mir auf, dass meine Geschwister in meiner Erinnerung daran überhaupt nicht vorkommen. Tatsächlich hatten wir damals praktisch keinen Kontakt. Meine Schwester Rosi arbeitete als Kindermädchen in Ungarn, mein Bruder Richard war im Waisenhaus, und Hans war in Wien und später auf der Walz. Ich hatte keine Adresse Rosis in Ungarn und an einen Briefkontakt mit meinem Bruder Richard kann ich mich erst erinnern, als ich schwanger war.
Die Ärzte hatten mir gesagt, ich würde als Spätfolge der Hungerwinter kein Kind bekommen können. Es muss im Sommer 1934 gewesen sein, als ich mich einige Wochen hindurch schlecht fühlte. Mein Mann verlor die Geduld: „Bist du jetzt krank oder nicht? Wenn du krank bist, dann musst du zum Arzt gehen.“ Nach fünf Jahren Ehe rechneten wir damals nicht mehr mit einem Kind. Ich wollte keinen Arzt, ich wollte nach Krems fahren – mit dem Rad. Was spielte es für eine Rolle, dass ich noch nie auf einem Rad gesessen war. Franz kaufte mir ein Rad und gab mir den ersten Unterricht auf einem Feldweg, wobei ich mehrmals auf dem Bauch landete. Wenn ein Ochsenwagen vorbeikam, warf ich mich einfach in die Büsche, da ich nicht anders ausweichen konnte.
Nach einigen Tagen Training fühlte ich mich gewappnet. In der Früh fuhren wir los, und am Nachmittag erreichten wir Krems. Gegen sechs Uhr bummelte ich bereits in der Landstraße. Am nächsten Tag war mir speiübel, meine Schwester war besorgt und rief einen Arzt, der ganz trocken feststellte: „No, sie wird ein Baby bekommen.“
Das kam für uns wirklich unerwartet! Ausgerechnet in Krems erfuhr ich, dass ich ein Kind bekommen sollte. Mein Vater war ganz gerührt darüber, und es war das erste und einzige Mal, dass er mich wie einen Menschen behandelte. Aus diesen glücklichen Tagen stammt auch das einzige Foto von uns beiden: die schwangere Tochter hält den Vater am Donauufer an der Hand – als wäre es eine Idylle.
Ich hatte große Angst vor dieser Schwangerschaft, und mehr noch vor der Geburt. So schrieb ich meinem Bruder Richard einen Brief, in dem ich ihm glücklich von der Schwangerschaft berichtete, allerdings auch von meiner Angst, ich würde die Geburt nicht überleben. Aus dem Waisenhaus kam dann ein sehr, sehr langer Brief zurück, viele Seiten lang, auf denen mir Richi schrieb: „Das ist für die Reise in den Himmel, damit du etwas zum Lesen hast.“
Zu Hause durfte ich dann überhaupt nichts mehr anrühren, Franz war sehr genau. Nicht einmal eine Pfanne durfte ich heben, also half mein Mann im Haushalt, und das war nicht leicht für ihn, denn er wusste nicht einmal, wie man Kakao macht.
Als ich dann einen kleinen Buben zur Welt brachte und alles gut gegangen war, war ich überglücklich. In meiner Mutterrolle ging ich vollständig auf.
Da ich meine Arbeit bei dem Anwalt aufgegeben hatte, erhielt ich eine schöne Summe als Gratifikation, und Franz und ich beschlossen, von diesem Geld ein eigenes Haus zu kaufen und das Geschäft zu erweitern. Wir fanden, was wir suchten. Auf einer Auktion auf dem Lande erstanden wir ein Haus, inmitten von Weingärten am Fuß eines bewaldeten Hügels in Bad Vöslau. Franz machte es nichts aus, jeden Morgen und spät abends in der Nacht so weit mit dem Fahrrad zu fahren – dafür war es unser eigenes Heim. Abgesehen von geschäftlichen Schwierigkeiten waren wir glücklich.
Täglich ging ich nun im Kurpark der nahen Kleinstadt mit meinem kleinen Sohn Kurt spazieren, den ich im Kinderwagen vor mir herschob. Einmal, als ich auf der Parkbank saß und Kurt im Kies spielte, kam ein vornehm gekleideter Mann vorbei und setzte sich neben mich. Es störte ihn nicht, dass Kurt sich seine schmutzigen Finger an seiner Hose abwischte, er spielt sogar mit ihm und begann zu reden. Er sprach ein sehr gepflegtes Deutsch mit einem leicht fremdländischen Akzent. Als plötzlich ein Flugzeug sehr tief über uns flog, zeigte ich es Kurt. Für den vornehmen Herrn schien dieses „Luftschiff“ kein gutes Zeichen.
„Das bedeutet Krieg,“ meinte er. Ich war überrascht. Wie konnte er vom Krieg reden? Er beharrte darauf: „Es wird Krieg geben und je mehr Flugzeuge sie sehen, um so näher rückt der Krieg.“ Er stand auf, verabschiedete sich und meinte zuletzt noch: „Mein Name ist Locker-Lampson, ich komme aus England. Wenn der Krieg kommt und Sie nicht in Österreich bleiben wollen, kommen Sie zu mir, ich habe ein großes Haus.“ Ich sah ihn später vielleicht noch ein-, zweimal in der Schneiderei bei meinem Mann, wo er sich etwas anfertigen ließ, aber dann hörte ich für lange Zeit nichts mehr von ihm. Er hatte seinen Kuraufenthalt wohl beendet.