Endstation

Angelica Bäumer im März 1999 zum Projekt „Unbekannt verzogen nach Paläsina“

Das Thema, so tragisch wie alltäglich, so bekannt wie verdrängt und vergessen: Juden in Europa, in Österreich, Juden in Krems. Es waren gute Bürger, meist unauffällig. Handwerker und Arbeiter, Gastwirte und Rechtsanwälte, Unternehmer, Möbelerzeuger, Pferde- und Gemischtwarenhändler, Uhrmacher, Schneider, eine Modistin, Pharmazeuten, Sportler und Lehrer. „Plötzlich waren sie alle weg“, wie ein Buch (Picus-Verlag, Wien) von Robert Streibel heisst, das die Schicksale der jüdischen Bürger von Krems vor, während und ˆ in Interviews ˆ auch nach der Nazizeit, penibel recherchiert aufzeichnet.

Viele von den Briefen, die Robert Streibel auf der Suche nach Überlebenden verschickte, kamen zurück mit dem Postvermerk: „Unbekannt verzogen“. Ein Brief wies sogar handschriftlich den Hinweis auf: „Seinerzeit ausgewandert nach Palästina“. Die Post der neunziger Jahre, sachlich, emotionslos, Tatsachen feststellend.

So sachlich wollen es aber nicht alle sehen. Hinter jeder Adresse steht ein Schicksal, scheinbar austauschbar durch die alles gleichmachende Judenpolitik der Nazis und dennoch individuell und einzigartig. Hinter jeder Adresse steht eine Familie, stehen einzelne Menschen, geflohen nach Palästina oder Shanghai, emigriert nach England oder USA, verschleppt nach Dachau, vernichtet in Auschwitz, untergetaucht in Krems oder Wien. Manche sind auch zurückgekommen, wie im Sommer 1945 das Ehepaar Sussmann, das Auschwitz überlebt hatte und zu seiner alten Wohnung in Wien kam. Wie der Hausmeister sie sah, drehte er sich um und rief seiner Frau zu: „Jessas, de Juden san scho wieder do“. Einige kamen auch nach Krems zurück, durch Flucht und Verfolgung heimatlos geworden, versuchten sie voll Hoffnung, ihre alte Heimat wieder zu finden. Möglichst unauffällig leben heute wieder einige jüdische Bürger in Krems. Ein weiteres Mal in ihrer Geschichte wollen sie nichts anderes, als ganz normale Bürger unter anderen Bürgern sein, ihre sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse erfüllen und nützliche Mitglieder der Gemeinde sein.

Die jüdische Vergangenheit sollte allerdings ausgelöscht sein, so der mehr oder weniger stillschweigende Konsens. Weder wollte man mit der Geschichte leben, noch sich damit auseinandersetzen. So ging man zur Nachkriegstagesordnung über. Synagoge gab es keine mehr, den kleinen Friedhof überliess man der Natur, die ihn mit Pflanzen überzog, so dass man ihn kaum finden konnte. Auch hatten die Strassenbauten ihn mit ihren Asphaltbändern umschlungen, die Grabsteine waren umgefallen, die Natur hatte sich den Raum zurückgeholt, wildwachsende Bäume, Büsche und Blumen hatten alles überwuchert. Vielleicht war das gut so, denn so wurde der kleine, alte Judenfriedhof wenigstens nicht von Menschenhand verwüstet. Aber es waren nicht die Stadtväter, die den Platz rehabilitierten, es blieb engagierten Wissenschaftlern und Künstlern vorbehalten, dieses historische und kulturelle Denkmal einer langen Tradition der Vergessenheit zu entreissen und ihm wieder jenen Stellenwert zu geben, den gerade im jüdischen Leben ein Friedhof hat. Er bewahrt die Toten, er erinnert die Lebenden an die Vergänglichkeit des Daseins, er ist Stein gewordenes Leben, ganz im Sinne Platons „wir sind Söhne der Erde, verknüpft mit den Felsen“. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, den der Bildhauer Hans Kupelwieser gewann. Er liess ein schlichtes stählernes Band in den Boden ein, das die Namen aller vertriebenen und ermordeten jüdischen Bürger von Krems aufweist. Stilles, aber eindrucksvolles Gedenken.

Von Jahr zu Jahr hat Robert Streibel seine Aktion fortgesetzt, hat aufwendige zeithistorische Studien betrieben, um Fakten zu gewinnen. Er hat dokumentiert und veröffentlicht, immer mit der Absicht nicht nur über ein besonders dunkles Kapitel unserer Geschichte aufzuklären, sondern gleichzeitig aufzuwecken und zu mahnen. Die Erinnerung darf nicht verdrängt werden, damit sich Geschichte nicht wiederholt. Denn heute wie damals gilt es Vorurteile gegenüber Minderheiten, gegenüber Fremdem und Ungewohntem abzubauen, und Unrecht bewusst zu machen. Anlässe gibt es auch heute genügend.

Auch dieser Katalog ist dem Erinnern gewidmet. Mit den Mitteln der Kunst wird zusätzlich zu jenen der Wissenschaft die Geschichte der Kremser Juden erzählt.

In zwanzig Bildern haben die beiden Künstler Christine Pirker und Reinhold Egerth das Thema aufgegriffen. „Unbekannt verzogen“ “ „Seinerzeit ausgewandert nach Palästina“ – wie kann man solch wertneutralen postalischen Vermerk, der keinerlei Schluss zulässt auf die ungeheuerlichen Folgen, in Bilder umsetzen? Wo ist der Ansatz die persönliche Betroffenheit in ein visuelles Ereignis zu verwandeln, in Kunst auszudrücken? Kann die Kunst das Grauen vermitteln, aber dennoch die Hoffnung lassen, diese merkwürdige menschliche Eigenschaft, die das Überleben ermöglicht? Können junge Menschen, Christine Pirker ist 1964, Reinhold Egerth 1966 geboren, derart Grauenhaftes nachvollziehen?

Die Künstler haben sich ehrlich, spontan und vorurteilslos dem Thema genähert. Sie haben den Weg gesucht, und das zunächst ganz praktisch. Sie wollten da beginnen, wo das Leben endet und wollten den Friedhof sehen, haben ihn aber nicht gefunden. Niemand in Krems wusste, wo der Friedhof ist, bis sie ihn dann selbst entdeckten, verschlossen und eingesperrt in die Verkehrsschleife. Sie haben aber auch künstlerisch einen Weg gesucht, um ihre eigenen Eindrücke und Gedanken zu vermitteln. So haben sie Fotos gemacht, haben den verlassenen Ort beobachtet, haben die Stille, aber auch die Einsamkeit erfahren, die dieser vom Verkehr umrundete Platz der Toten ausstrahlt. Diese Eindrücke wurden die Grundlage der grafischen Arbeiten, die in einer Auflage von jeweils 3 Stück in der Technik der Radierung und Alugraphie geschaffen wurden.

Wie ein roter Faden ziehen sich bildhafte Eindrücke aus dem Friedhof durch alle zwanzig Blätter, wie eingewoben erscheinen immer wieder Teile von Grabsteinen, ein Baum, Gestrüpp, Weinstöcke aus dem nahen Weingarten, das Gitter, die Namen. Die vergilbten Fotos der Verstorbenen sind ebenso verstecktes Motiv wie das stählerne Band von Hans Kupelwieser oder die alte Ziegelmauer. Wichtig war den beiden Künstlern, dass ihre Arbeit die Poesie und Stille des Friedhofes vermittelt als Symbol für das, was den Juden – nicht nur, aber auch – in Krems angetan wurde. Jede Art von realistischer Darstellung verbot sich von selbst, dazu war das Thema zu ernst, aber auch zu vielschichtig. Und neben allem Bedürfnis offen zu legen und aufzuklären, galt es auch das Geheimnis zu wahren. Das Geheimnis von Leben und Tod genauso wie das Geheimnis der künstlerischen Umsetzung. Die Wahl der Mittel war nicht einfach. Malerei oder Fotografie erschien den Künstlern zu plakativ, zu effektvoll, zu eindeutig erzählerisch. Die Geschichte der verloren gegangenen Menschen musste anders erfasst werden, musste eine neue Form haben, um dem ungeheuren Thema gerecht zu werden. In der Kombination der direkten Pinselätzung auf Aluminium und der Alugraphie haben Christine Pirker und Reinhold Egerth ihr grafisches Darstellungsmittel gefunden, in dem sie die Verwirrung des Lebens und des Todes am ehesten auszudrücken vermochten. Die Bilder auf schmucklosem braunen Karton gedruckt, haben wenig Farbe und wenn, dann ergab sie sich mehr zufällig als absichtsvoll, sie ist nie Selbstzweck, sondern höchstens Unterstützung und Ergänzung. Die Geschichte wird durch die Dichte der Bilder deutlich, das Spiel von Hell und Dunkel verleitet dazu, sich in den Bildern zu verlieren. Man geht förmlich in sie hinein und entdeckt nicht nur die zahlreichen versteckten Details, sondern erlebt unerwartete Begegnungen, die eigene Erinnerungen und Assoziationen wecken.

Wie soll man historische Kunst heute betreiben? Die Schlachtenmalerei hat ausgedient, die heroische Pose ist vom Sockel gefallen und das Genrebild ist längst obsolet. Aber auch heute gibt es die Auseinandersetzung mit der Gegenwart, gibt es den gesellschaftlichen Bezug in der Kunst, das „Bild“ der Zeit, das dargestellt und vermittelt werden will. In dem Mass, in dem der offizielle Auftraggeber verloren ging und der Künstler mehr als früher sich sein eigenes Ziel sucht, hat sich die Kunst einer bisher nicht geforderten Verantwortung zu stellen. Neue technische und mediale Entwicklungen haben ebenso die Ateliers erobert, wie neue intellektuelle und philosophische Diskussionen. Wenn auch immer noch der sensitive und – im unmittelbar schöpferischen Tun – der unbewusste Akt waltet, verlangt der künstlerische Prozess doch vermehrt die abstrakte Erkenntnis.

Christine Pirker und Reinhold Egerth haben mit ihrer Arbeit ein nachdenkliches Werk geschaffen, das nicht unbedingt als ein Mahnwerk verstanden werden muss, sondern als das Ergebnis der persönlichen Betroffenheit mit dem Erlebnis der Geschichte. Was sie in Bilder umsetzten ist ihr ganz persönlicher Weg zu einem Thema, das in seiner Komplexität hohe Anforderungen in vielerlei Weise stellt. Die Endstation Friedhof wurde so zu einem neuen Anfang in menschlicher, philosophischer und künstlerischer Hinsicht.