Nachgeborene, unschuldige Täter und verdrängte Spuren Auf den Spuren der Kremser Juden in Wien
Ich beginne meinen Lokalaugenschein im zweiten Wiener Gemeindebezirk in der Lilien-brunngasse 13, gleich hinter dem Dianabad. Es sind geographisch-organisatorische Gründe, die meine Route bestimmen, große Wegstrecken habe ich nicht zurückzulegen, den Kremser Juden wurde als Aufenthaltsort in Wien die Leopoldstadt zugewiesen. Das Ghetto von Wien. Ich habe die Adressen von rund 27 jüdischen Familien erhoben. Für diesen Lokalaugenschein gibt es keinen Jahrestag, deportiert wurden die Familien am 26. Jänner 1942, am 12. März 1941, am 23. Oktober 1941 und … Würde es etwas ändern, die Häuser genau an diesem Tag aufzusuchen, vielleicht war der Himmel ähnlich verschmiert, die Luft zu rauh oder zu mild für diese Jahreszeit. Ein Kalender für diesen Lokalaugenschein, einige Termine hätte ich schon verpaßt, auf andere müßte ich zu lange warten. Die Lilienbrunngasse ist der Beginn. Das Haus Nummer 11 wurde im Krieg zerstört, wie die Tafel am Hauseingang vermeldet. Die Bomben sollten nicht gleich am Beginn dieser Gedenkwanderung ganze Arbeit geleistet haben. Im Nebenhaus ist das Christian College, das sich um Flüchtlinge annimmt, untergebracht. Ich stehe vor dem Haus, zwei Straßenkehrer arbeiten sich zwischen den Autos in meine Richtung vor, im Hauseingang gegenüber steht eine Gruppe Juden, kommen Sie aus der Sowjetunion, oder aus dem Iran?
KEINE ZEIT FÜR FRAGEN
Zweiter Stock. Ich läute. So muß sich ein Zettelverteiler fühlen. "Guten Tag, ich bin Historiker und schreibe über Juden, die 1939 in diesen Bezirk übersiedeln mußten", eine Erklärung durch die geschlossene Tür, nicht einmal ein Guckloch wird geöffnet. "Ich habe keine Zeit für Fragen." Das schlapfende Geräusch muß mir Indikator dafür sein, daß meine Suche an dieser Tür als beendet zu erklären ist. In der Nebenwohnung öffnet sich das Gangfenster. Eine Unterhaltung durch die Gitterstäbe. "Guten Tag, wohnen Sie schon lange hier. Ich frage deswegen, weil ich…" Das "Ja" ist für mich ein Hoffnungsschimmer. Ja, Juden hätten hier gelebt, Kontakt hätte Sie schon gehabt, an David und Erna Bass kann Sie sich nicht erinnern, meint Frau A.H., die trotz ihrer frisch gewaschenen Haare zu einem kurzen Gespräch bereit ist. "Wäre ja auch Zufall gewesen." Der Zufall will es, daß die Frau, wie Herr und Frau Bass im Dezember 1938 in das Haus eingezogen ist. Wenn die Familien abtransportiert wurden, "wurde die ganze Gasse abgesperrt, alle Wohnungen wurden systematisch durchsucht. Wir haben uns nicht viel rühren dürfen, denn wissen sie, ich bin ein ‚Mischling‘." Die zugeknöpfte Nachbarin hat gute Gründe für ihr Verhalten, meint Frau M.H.: "Eine Parteigenossin, sie wissen schon." Wieder auf der Gasse, die Straßenkehrer haben den Platz, wo auch am 19. Februar 1941 die Straße abgesperrt worden sein dürfte, als David und Erna Bass geholt wurden, hinter sich gelassen und widmen sich gerade einem Hundstrümmerl. Mit einem Hundebesitzer kommen die beiden Männer in ihren orangefarbenen Uniformen ins Gespräch. "Lauter Juden da, naja, früher waren das Einheimische, aber jetzt sind’s alle Ausländer." Jude und Ausländer, ein doppeltes Stigma. Oder sind Juden nicht ohnehin Ausländer für viele Österreicher? Hinterlistig sind sie auf jeden Fall für den Mann mit dem Pintscher, der sein Hemd offen trägt und das Goldkreuz offenbar als Wertanlage auf der behaarten Brust verstanden wissen will, denn letztens hat doch so ein Judenbub dem Hund einen Tritt gegeben. "Was sagen’s da dazu." Einige Gassen weiter, die Sperlgasse mit dem obligaten Polizisten lasse ich hinter mir. Die Haidgasse 10, ein mächtiges Haus, ein imposanter runder Erker. Im Erdgeschoß wird gerade ein Geschäft renoviert. Der Mann, der das Portal streicht, weiß von nichts, er ist selbst nur ein Lakai. Ein rüstiger Pensionist, graumeliert, vertrauenswürdig, bleibt stehen, schnappt einige Fetzen des Gespräches auf und versichert, er sei auch erst lange nach 45 hierher gekommen, leider könne er nichts sagen. Nach fünf Minuten treffen wir uns im Hausflur wieder. Die Hürde der Gegensprechanlage ist für diesmal gemeistert worden.
"Wo sollen denn die neun Kinder mit dem Vater gelebt haben.", fragt mich der graumelierte Herr. Auf meiner Liste steht Emil, Siegfried, Erna, Irma, Otto, Erwin, Inge, Johanna, Albert und Bella Blau: Haidgasse 10, Tür Nummer 4. "Eine Nummer vier gibt es in dem Haus gar nicht." Zwei Pensionistinnen kommen vorbei. Ich habe einen Fürsprecher gefunden. "Der Herr ist ein Doktor und schreibt über Juden, stellen Sie sich vor, auf Tür Nummer vier soll ein Vater mit zehn Kindern gelebt haben. Aber Sie sind ja auch erst 45 eingezogen." "Na, Tür Nummer vier, das ist ja das Knöpferlgeschäft, aber da können doch nicht soviele Leute gewohnt haben, die haben ja nicht einmal Wasser g’habt", meint eine der Damen. Die drei Herrschaften gehen die Treppen hinauf und diskutieren weiter "Zeiten waren das". Das Fotografieren des Hausflures dauert länger, als von oben eine andere Frau herunterkommt, ist sie bereits informiert: "Gehört das auch für ihre Arbeit?" Ich betrete das "Knöpferlgeschäft" durch den Gasseneingang. Ein Mann kauft einen Zippverschluß, weiß aber nicht wie lange er sein muß, damit er auch in den Polster für den Kinderwagen paßt. Ich warte. Der Dackel hinter der Holzverschalung bellt unaufhörlich. Meine Erklärungen werden dennoch verstanden. "In diesem Raum sollen in der Zeit zwischen August 1940 und März 1941 zehn Personen gewohnt haben. Darf ich hier fotografieren?" Das Zögern dauert lange. Wer hat die besseren Nerven. "Aber was hat das mit mir zu tun. Das will ich nicht." Ich habe die besseren Nerven, zwei Fotos werden mir gestattet. Selbst die Nachgeborenen haben ein schlechtes Gewissen. Die letzte Reise der Familie Emil Blau endete in Lagow-Opatow in Polen.
WOHNRAUMBESCHAFFUNG
In der Haidgasse 7 wird die Geschichte lebendig, im dritten Stock öffnet eine Frau, die laut Aussagen ihrer Nachbarn bereits seit den vierziger Jahren im Haus wohnt. "Als wir eingezogen sind, da waren keine Juden mehr im Haus, da waren die Wohnungen schon leer. Wir haben die Zuweisung für die Wohnung im Herbst 1941 gekriegt, wissen’s mein Mann war bei der Finanz, im Oktober ist unsere Tochter da schon auf die Welt gekommen." Philipp und Anna Schafranek müßten nach den Angaben der Meldekartei noch einige Monate mit den neuen Mietern im Haus gewohnt haben, bevor sie sich im Mai 1942 nach "Minsk abmeldeten". "Nein, Juden waren keine mehr im Haus." Tatsache oder Verdrängung, in die Wohnung der Schafraneks ist ja dann auch ein Finanzbeamter eingezogen, der ist aber schon lang wieder weg. Die "Rassenpolitik" des "Dritten Reiches" schaffte Wohnraum, sicher kein angenehmes Gefühl. Nach dem dritten Haus ist der Blick bereits geschult, die Gestaltung der Namensschilder und das Arrangement aus Blumen, Fußmatte, Schuhen und/oder Gerümpel vor der Haustür läßt mit Sicherheit auf mögliche Zeitzeugen – zumindest was ihr Alter betrifft – schließen, wenn sie zu Hause sind. In der Großen Mohrengasse 20, dem Haus mit Schneiderei, Putzerei, einem Geschäft mit Damenkonfektion und verschiedenen Höfen hätte im letzten Stock, im Hof, gleich neben dem Haupteingang, das Arrangement gepaßt: die Türe schält sich aus dem Ölanstrich, das Namensschild in Fraktur, der Namenszug mit einem geschliffenen Glas geschützt. Kurz nach dem Läuten öffnet ein älterer Mann, aufgestört von seiner Eierspeise. Mit meinen Erklärungen komme ich nur bis zum Wort "Juden". Die abschätzige Handbewegung ist so heftig, daß ich mich fast ducke. Die Mühe bei der alten Frau im Erdgeschoß ist vergeblich, zwischen den Zeitungsstößen und den verschiedenen Stoffetzen hebt sich ihre kleine Gestalt im Gegenlicht der Tür nur bei näherem Hinsehen ab, wie bei manchen Fixierbildern erst eine längere Betrachtung die Frauengestalt oder den Blumenstrauß freigibt. Als hätte sie hier zwischen diesem Gerümpel überlebt, vergessen. Sie beteuert immer wieder nichts kaufen zu wollen. Alle Versuche bleiben vergeblich. Keine Auskunft über die beiden alten Damen Pauline Glaser und Henriette Jilka, die in Mautem ein kleines Stoffgeschäft betrieben haben. Es ist sicher kein Zufall, daß sie in diesem Haus für etwas mehr als ein Jahr Zuflucht gefunden haben, vielleicht eine Geschäftsbeziehung, am 23. Oktober wurden beide abgeholt: Endstation Litzmannstadt. Vor dem Ausgang die Begegnung mit einer Frau, die gerade von ihrem Vormittagseinkauf nach Hause kommt. Die letzte Gewißheit: die einzige Jüdin, die in diesem Haus noch gewohnt hat, ist vor zwei Monaten gestorben, tut mir leid. Leopold Schlesinger ist aus der Wohnung in der Zirkusgasse 21, einem Jugendstilhaus, in dem auch 1990 die Orginallampen noch nicht abmontiert sind, verschwunden; im November 1939 eingezogen, dann versagt die Bürokratie: vielleicht ist ihm die Ausreise geglückt. Als die Frau, die keine Zeit hat, "weil Sie den Mann im Spital besuchen muß" 1941 hier einzog, hat es "keine Juden im Haus mehr gegeben." Sie ist die letzte aus dieser Generation, unschuldige Täter, indirekte Profiteure der Judenvernichtung.
WAS INTERESSIEREN MICH DIE JUDEN
Joel Hirsch, der Pferdehändler aus Krems, gegen den 1938 eine Kampagne in den Lokalzeitungen von Krems geführt wurde, die selbst den "Stürmer" zu einem Bericht über den "Frauenschänder" anregte, hat mehr als drei Jahre in der Zirkusgasse 25 überlebt, bevor ihn die Nazis 1942 nach Theresienstadt deportierten. Zirkusgasse 1990. Lange Vorrede, die von einer grellgeschminkten Dame in der durch eine Kette gesicherten Tür geduldig ertragen wird, als ob sich ein Boiler aufladen würde: "Was gehn mich die Juden an, mich interessiert das ja alles nicht, Sie sind gut, das ist ja eine Zumutung. Mir ist das doch gleich, ob einer Jud‘ oder Christ oder Mohammedaner ist." Ich will das Gespräch nicht abreißen lassen: "Ja Ihnen mag es gleich sein ob Jude oder nicht, aber damals war das eine Überlebensfrage." Der Überdruck wird abgelassen: "Mir ist der Glaube wurscht, wann’s damals anders war, kann ich nur sagen: Pech gehabt, daß er ein Jud‘ war."