Sippenhaftung: Eine versuchte und eine verhinderte ‚Arisierung‘

In der Liste der jüdischen Gewerbebetriebe von Krems scheinen wie bereits erwähnt, drei Geschäfte auf, bei denen jeweils nur der Ehepartner als Jude/Jüdin galt. Ludwig Radel führte einen Gemischtwarenhandel in der Göglstraße 7 und arbeitete nebenbei als Vertragsbediensteter beim Kreisgericht Krems. Da seine Frau den national-sozialistischen Gesetzen nach Jüdin war, verlor Ludwig Radel seinen Posten bei Gericht.1 In der Liste der jüdischen Gewerbebetriebe wird der 1. September 1939 als jener Termin angegeben, an dem das Gemischtwarengeschäft Radel als gelöscht galt.23 Vor der Schließung des Geschäftes waren die Glasscheiben und Auslagenregale zertrümmert worden.‘ In einem Schreiben des Polizeiamtes Krems heißt es sogar: „Die Demolierung und Sperre erfolgte durch zwei Beamte der seinerzeitigen Polizei in Krems.“5 Gleichzeitig mit der Sperre des Geschäftes verloren Ludwig und Margit Radel ihre Wohnung in der Gögelstraße 2. Sieben Jahre hindurch mußte Ludwig Radel nun in einem kleinen feuchten Loch ohne Fenster (ein Fenster wurde erst nachträglich ausgebrochen) hausen, das vorher als Lager gedient hatte. Margit Radel konnte sich zu dieser Zeit in Krems nicht sicher fühlen, („selbst unsere Wohnung (…) wurde eines Tages nächtlicherweise durch das geschlossene Fenster mit leeren Bierflaschen beschossen“)6, floh nach Wien, wo sie bis Mai 1940 als „U-Boot“ lebte. Als Aufenthaltsorte in Wien, die sie mehrmals wechselte gibt sie an: Jakob Kovacs, Rotenkreuzgasse 5/11, 1020 Wien, Ida Maurer, Lustkandlgasse 35/20, 1090 Wien (zwischen November 1938 und April 1939.), Frau Weißkopf, Fasangasse 36/4/11, 1030 Wien (in der Zeit zwischen 16.11.1939 und 14.5.1940). Bereits aus den Daten der Niederschriften und Eingaben um Wiedergutmachung, die sich bis in die 60-er Jahre ziehen, wird deutlich, wie lange sich die zuständigen Behörden Zeit gelassen haben, um die Ansuchen der Opfer zu behandeln. Die österreichische Beamtenschaft wollte es nach 1945 genau wissen. Von den Opfern wurde verlangt, auf ein, zwei Seiten ihre Ängste, Qualen und Leiden aufzulisten, um sie nachher sachlich bewerten zu können.7 Margit Radel lebte in der Zeit in Wien von Almosen. Als weitere Aufenthaltsorte dienten ihr Keller beziehungsweise Kirchen. Nachdem die letzte Quartiergeberin, Frau Weißkopf, von der Gestapo geholt worden war, stand sie ohne Anlaufstelle da. Als einziger Ausweg blieb ihr der Weg zurück nach Krems, wo sie mit ihrem Mann bis zum Jahr 1945 überlebte. Auf Besuch war Frau Radel bereits vorher nach Krems gefahren. Bei einem derartigen Besuch im Mai 1939 wurde sie beim Aufgeben eines Briefes an ihre Schwester in Paris von einer Postbeamtin angezeigt und als Spionin verhaftet. Der Arbeitgeber von Ludwig Radel, die Firma Ludwig Zafouk, bestätigte, daß die Kreisleitung mehrmals interveniert habe, da ein Mann, der mit einer Jüdin verheiratet sei, als potentieller Saboteur in einem Rüstungsbetrieb nicht tragbar sei.8 Die Opferfürsorgeakten über Margit und Ludwig Radel enthalten jedoch auch einen Beleg der innerparteilichen Bürokratie der NSDAP, in dem ein Blockleiter zumindest vorsichtig die Gerüchte über die rassische Abstammung von Frau Margit Radel in Frage stellte. Der Anlaßfall des Schreibens an die Gestapo in St. Pölten war der Entzug des Radioapparates von Ludwig Radel durch die Staatspolizei Krems. „R. ist Arier, seine Ehefrau gilt als Jüdin. Ob sie Volljüdin ist, ist nicht erwiesen. Die Ahnen der Fr. stammen aus Ungarn und dorthin sind bisher diesbezügliche Anfragen unbeantwortet geblieben. Wenn auch die Ehefrau Volljüdin wäre, gilt doch der Haushalt nach Aussage des hiesigen Kreisleiters als arisch.“9

DAS HUTGESCHÄFT NEUBERGER

Im Fall der Modistin Marie Neuberger war der Mann nach den Rassegesetzen Jude. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen kennzeichnet Marie Neuberger ihr Geschäft mit einer Tafel als arisches Geschäft. Als ihr das verboten wird, geht sie zum Ortsgruppenleiter der NSDAP, „Binder“, um sich zu beschweren, da erstens ihr Mann nicht auf das Geschäft angeschrieben sei und sich zweitens in der Straße ein Geschäft befände, dessen Besitzer ebenfalls in einer „Mischehe“ lebten.` „Er (der Ortgruppenleiter, Anm. R. St.) sagte mir hierauf: `Ja für dieses Geschäft interessiert sich auch niemand. Kennen Sie einen gewissen Dworak?‘ Nun habe ich gewußt, von welcher Seite das alles ausging.““ Rudolf Dworak war der Lebensgefährte der Modistin Hermine Dragon, einer Verwandten von Marie Neuberger, illegales Parteimitglied und überdies mit dem SA-Standartenführer Leo Pilz befreundet. In der Zeugenaussage vor Gericht will Dworak diese Freundschaft jedoch nur auf einige Sportplatzbesuche beschränkt wissen. Mit der versuchten „Arisierung“ des Geschäftes von Marie Neuberger hatte er nichts zu tun. „Ich

weg S 69:

Das Objekt der Begierde:
Das Geschäft von Marie Neuberger vor dem Jahr 1924

 

weg S 70:

Marie und Fritz Neuberger 1927

habe dann einmal gehört, daß Herr Neuberger nicht mehr hier ist. Ich nahm darauf an, daß er wie alle anderen Juden abgeschoben ist. Soviel ich weiß, wurden fast alle Juden in Krems abgeschoben.“ Der Hinweis des Ortsgruppenleiters, daß sich für das Geschäft von Marie Neuberger bereits jemand interessiere, daher diesem Geschäft eine „Sonderstellung“ zukomme, hat sich für die Besitzerin während des Novemberpogroms bewahrheitet: „Interessant war auch, daß, als anläßlich der Rath-Affäre die jüdischen und jüdisch-versippten Geschäfte zerschlagen und demoliert wurden, das in unserer Nähe befindliche Geschäft, das immer die Aufschrift `Arisches Geschäft‘ tragen durfte, ganz ruiniert wurde, während mein Geschäft tadellos erhalten blieb und nicht im mindesten beschädigt war.““ Rund drei Wochen nach dem Pogrom wurde das Geschäft von Marie Neuberger trotzdem gesperrt, aber durch Beziehungen „nach Wien“, die für Frau Neuberger beim Kreisleiter Hans Heinz Dum intervenierten, wurde die Sperre aufgehoben. Hermine Dragon, die die Anzeige ihrer Schwägerin 1946 als bloßes „Weibergeklatsch“ abtun will,14 hat „einmal gehört, daß das Geschäft Neuberger gesperrt wurde“ und daß sich bereits eine Menge Bewerber dafür interessierten. Während Alarich Zumpfe, wie berichtet, lediglich der Schutz der heimischen Betriebe vor den Parteigenossen aus dem Altreich zur Arisierung getrieben hat, kann Hermine Dragon angebliche Familienrücksichten anführen. (Obwohl sie an anderer Stelle die Zerstrittenheit mit ihrer Verwandten zugibt.). In einer solchen schwierigen Lage will Hermine Dragon nur gedacht haben: „(…) bevor es in andere Hände kommt, werde ich es versuchen, vielleicht habe ich Glück und kann es erwerben. Ich habe mich zum Kreisleiter Thun (Dum, Anm. R. St.) begeben, um in dieser Sache vorzusprechen, da aber so viele Leute dort waren und ich nicht vorkommen konnte, ging ich nach Hause.““ Nach diesem mißglückten Versuch, es mag dahingestellt bleiben, ob die zu lange Warteschlange von Interessenten für „Arisierungen“ oder die erfolgreichere Intervention von Marie Neuberger den Ausschlag für das Mißglücken gegeben hatte, stichelte Hermine Dragon, so Zeugenaussagen, weiter. Sie erklärte zum Beispiel einem Lieferanten, er dürfe das Geschäft Neuberger nicht mehr beliefern, da „das“ Juden seien.16 Die Kreisleitung, die ja nach Angaben von Hans Heinz Dum, mit „Arisierungen“ und derartigen Dingen nie befaßt wurde, interessierte sich auch weiterhin für die Familienverhältnisse von Marie Neuberger. „Ich habe auch zur Kreisleitung Krems eine Vorladung bekommen, wo man mir die heftigsten Vorwürfe machte, weil mein Mann mir in Wien die geschäftlichen Besorgungen machte und weil ich ihn in Wien immer getroffen habe.““ Hier wie in allen anderen Fällen, lassen sich die Denunzianten nicht mehr ausfindig machen.

ANMERKUNGEN

1 OF 1125 DÖW. Dem Ansuchen vom 1. Juli 1938 „um ausnahmsweise Belassung im Dienst“ wird mit dem Schreiben vom 1. März 1939 nicht stattgegeben.
2 Tatsächlich war das Geschäft jedoch bereits schon 1938 gesperrt worden, wie Ludwig Radel in einer Zeugenaussage angibt, denn ab Ende 1938 arbeitete Radel bereits als Arbeiter im Rüstungsbetrieb der Firma Zafouk in Krems.
3 Ebd. Niederschrift aufgenommen mit Ludwig Radel am 21.4.1953
4 Siehe Seite
5 Ebd. Schreiben des Magistrats Krems, Polizeiamt an die Magistratsabteilung 1 vom 24.4.1953
6 Ebd. Margit Radel in einem Schreiben vom 12.12.1962 an den Magistrat Krems
7 Aus diesen Gründen ist es verständlich, daß es Frau Margit Radel ablehnte, weder brieflich noch in einem Gespräch mit dem Verfasser über ihr Leben zu berichten. Die Mutter von Frau Margit Radel war nach Angaben von Frau Josefa Unzeitig aus Wien/Meidling im Juni 1942 im 84. Lebensjahr verschleppt worden.
8 Ebd. Vgl. Schreiben der Firma Ludwig Zafouk an Ludwig Radel vom 14.5.1952
9 Ebd. Abschrift eines Schreibens an die Gestapo vom 17.12.1943
10 Vgl. Vg lh Vr 1894/45 gegen Hermine Dragon. Marie Neuberger in der Hauptverhandlung vom 7.11.1946
11 Ebd.
12 Ebd. Zeugenaussage von Rudolf Dworak vom 20.3.1946
13 Siehe Anm. 9
14 Ebd. Schreiben von Hermine Dragon an den Staatsanwalt
15 Ebd. Hermine Dragon in der Hauptverhandlung
16 Ebd. Zeugenaussage von Johanna Feltzer
17 Siehe Anm. 9