Unbekannt verzogen
Ein unsichtbares Projekt mit einem sichtbaren Ergebnis
Robert Streibel
Denkmäler können nicht zur Erinnerung mahnen. Denkmäler müssen aufgesucht werden, um das zu tun, weswegen sie errichtet wurden. Auch an Denkmäler kann man sich gewöhnen und so an ihnen vorbeisehen. Trotzdem sind Denkmäler eine Form der Auseinandersetzung mit dem Grauen und ein Versuch gegen die Anonymisierung der Opfer. Die Erinnerung an die Vertriebenen und Ermordeten soll jedoch auch einmal einbrechen in den Alltag und plötzlich im Postkasten liegen. Zumindest ein Versuch soll gewagt werden, 60 Jahre nach dem Novemberpogrom, der einen Wendepunkt in der Geschichte des Nationalsozialismus hin zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung darstellte. In den Akten der Volksgerichtsprozesse gegen die Novemberpogrom-Täter hieß es sehr oft über die unmittelbaren Zeugen der Gewalttaten: „Aufenthalt unbekannt“; „unbekannt verzogen“. Zumindest ein aussichtsloser Versuch.
Historical Mail Research: eine Provokation Am 9. November 1998 startete die erste „Historical Mail Research“. Im November bekamen 127 Juden aus Krems Post an ihre alte Adresse. Die Vergangenheit bricht in den Alltag ein, kein Denkmal, keine Sendung, kein Bericht schaffen dies. Post im Postkasten für eine Person, die es unter dieser Adresse nicht mehr gibt. Post für eine Person, die niemand kennt, von der „man“ vielleicht aber schon gehört hat. Post als Provokation. Bei den Recherchen über die Geschichte der Juden in Krems hat mich von Anfang an die Frage fasziniert, wer lebt heute in den Wohnungen, wer betreibt heute die Geschäfte in den ehemaligen Geschäften der jüdischen Bewohner. Eine bohrende Frage, die mich um so weniger losließ, als in unmittelbarerer Nähe meines Elternhauses des Haus jenes jüdischen Rechtsanwaltes steht, bei dem meine Großmutter bis 1938 gearbeitet hat. Nur in den seltensten Fällen gelang es, zu den heutigen Bewohnern oder Geschäftsinhabern vorzudringen. Was sollte auch gefragt werden, was fragt man die dritte Generation nach der Vertreibung und Ermordung der Juden? Wenn es gelang, dann war sofort Angst in den Augenwinkeln im Aufblitzen begriffen: „Warum wollen sie fotografieren? Wollen die Erben etwas zurück? Das ist alles mit rechten Dingen vor sich gegangen.“ Manchmal sah ich auch Erschütterung, manchmal echt, manchmal gespielt, mit unverhohlenem Antisemitismus als Draufgabe: die Widerhaken in der Betroffenheit. Die Adressen aller Juden in Krems, in ihrer Heimatstadt, in ihrem Deportationsort in Wien und in den jeweiligen Orten, Gettos und Konzentrationslagern waren Teil der historischen Recherche für verschiedene Publikationen. Soweit zum einen Teil der Geschichte des Projektes. Der zweite Teil ist eng mit dem jüdischen Friedhof verknüpft, dem letzten Platz, an dem heute noch jüdische Geschichte der Stadt gezeigt werden kann. Nachdem im Jahr 1995 das Denkmal von Hans Kupelwieser enthüllt werden konnte, befindet sich auf diesem Friedhof eine über den Raum Krems hinaus bedeutende Schwelle zwischen Erinnern und Vergessen. Bis zum Jahr 1996 lebte auf dem Friedhof der betagte Friedhofswärter Michel „Fuzi“, der unter ärmlichsten Bedingungen auf dem Friedhof ein Zuhause gefunden hatte und in seinen besseren Tagen für die Pflege des Friedhofes gesorgt hatte. Er war es mit seiner Unbekümmertheit auch gewesen, der den Ausschlag für die Renovierung des Friedhofes gelegt hatte, denn seine Art, seine Unterhemden, Unterhosen und Handtücher quer über den jüdischen Grabsteinen aufzuhängen, provozierte einige Leserbriefe in den Lokalzeitungen, die letztlich den Ausschlag für die Renovierung des Friedhofes gaben. Nachdem „Fuzi“, der sich bis zuletzt geweigert hatte, in eine Ersatzwohnung zu ziehen, gestorben war, stand das Friedfhofswärterhäuschen leer und nach Absprache mit der Kultusgemeinde soll eine Renovierung und Adaptierung des Häuschens einen Gedenkraum für die Kremser Juden schaffen, um eine Dauerausstellung über die Kremser Juden präsentieren zu können und das gesammelte Material über die Geschichte der jüdischen Gemeinde ausstellen zu können. Die für die Restaurierung notwendigen Mittel sollten zum Teil aus Spenden aufgebracht werden, wobei die Bauschule Krems wesentliche Vorarbeiten in der Planung und Durchführung der Instandsetzung des Gebäudes vornehmen würde. Ein Teil dieses Projektes war die „Historical Mail Research“, das unsichtbare Denkmal. Die Juden aus Krems, sollten zumindest noch einmal an diesem Ort zusammenkommen, zumindest theoretisch, postalisch oder bürokratisch. Im Zuge der „Historical Mail Research“ bekommen die Kremser Juden Post, einen Brief abgestempelt am 9. November, an die Adresse in Krems, an die Adresse in Wien, wohin sie umziehen mußten, an die Adresse in Theresienstadt, Auschwitz oder Riga. In den Wohnungen leben heute andere Menschen, die wenigsten wissen von jenen, die hier einmal gewohnt haben. Der Brief ist nicht an sie adressiert und enthält Fragen an die Nachgeborenen. Die Briefe werden vielleicht nicht gelesen, verschwinden zwischen Krems, Wien, Tschechien, Rußland und Polen, manche werden zurückkommen: Absender Jüdischer Friedhof Krems, Wiener Straße 115. Die Briefe beschreiben eine Reise, die für die Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Weg ohne Zurück war. Die Briefe kehren vielleicht zurück, sie finden keine Adressaten mehr, keine Nachkommen.
Die Briefe an 73 Adressen von Juden (einer Auswahl aus dem bestehenden Datenmaterial, das mehr als doppelt so viele Briefe möglich gemacht hätte) sollten, falls „unzustellbar“, an den jüdischen Friedhof in Krems geschickt werden. Was würde geschehen? Würden die Juden nochmals heimkehren? Wie viele Briefe würden verschwinden? Die Briefe waren nicht nur leere Umschläge sondern enthielten Fragen, Fragen gerichtet an niemanden, der sie beantworten könnte, Fragen, die trotzdem gestellt werden, Fragen mit ungewissen Antworten.
Ein Brief mit Fragen
Was wurde aus den Erinnerungen, aus den Büchern und den Fotos in der hintersten Schublade? Führt der Handlauf Besucher noch in den ersten Stock blank poliert von den Seufzern? Hängen Träume noch in den Ritzen der Mauern, oder hält die zwölfte Schicht Tapeten das Haus fest umklammert? Sind die Lieder und das Klirren der Scheiben verklungen, oder tönt noch das Echo der Erinnerung?
Kratzt das schlechte Gewissen am Türstock, oder ist die Falle leer und der Speck längst gegessen? Beschlägt Unverständnis die Fensterscheiben, oder tauen wir vergebliche Löcher in die wuchernden Eisblumen? Wer läutet noch und wer öffnet die Türen?
Keine Antworten, nur verschwundene Briefe Antworten auf die Fragen trafen keine ein, wie sollten sie auch, da es für die Briefe doch keine Adressaten mehr gab. Das Ergebnis dieser Historical Mail Research war doch überraschend und verblüffend zugleich, denn das Ergebnis dieser „Nachforschung“ ergab: Die jüdische Gemeinde von Krems besteht auch 1998 noch aus mehreren Dutzend Personen. Am 9. November hatten 73 Jüdinnen und Juden, Mitglieder der Kremser Kultusgemeinde Briefe geschickt bekommen an ihre Adresse, an ihre Wohnadresse in Krems und Umgebung, an ihr Quartier in Wien, in das sie nach 1938 vertrieben wurden und an ihren letzten bekannten Aufenthaltsort. Bislang sind nur 16 Briefe, die an Wiener Adressen oder ins Ausland geschickt wurden und lediglich ein Brief, der an eine Kremser Adresse gegangen ist, zurückgekommen. Was geschah mit den restlichen Briefen? Wieviele sind noch unterwegs? Wieviele wurden geöffnet? Das Ergebnis bislang muß lauten: In Krems, Hadersdorf, Brunn, Etsdorf, Spitz und Langenlois leben demnach noch Juden, denn die Briefe haben offenbar ihre Adressaten erreicht.
Mit Briefen und amtlichen Schriftstücken, die den Jüdinnen und Juden im Jahr 1938 und in den folgenden Jahren zugestellt wurden, begann deren Ende. Nach mehr als 60 Jahren sollten Briefe nochmals diese Reise aufnehmen, um zurückzukehren. Diese Rückkehr wurde zum Teil verhindert. Hatte das schlechte Gewissen Briefe geöffnet, wurde nicht einmal ein Zustellversuch unternommen, hatte Achtlosigkeit diese Boten zwischen Werbesendungen und Zeitungen verkommen lassen? Ungeklärte Fragen. Hätte das Zusammenspiel von so viel Schlamperei, und Gleichgültigkeit vor mehr als 60 Jahren nicht mehr Leben retten können, wenn wir schon nicht Mut, Menschlichkeit und den Anstand ins Spiel bringen wollen? Das ernüchternde Ergebnis der „Historical Mail Research“ entspricht letztlich auch der historischen Realität: ein Großteil der Briefe ist verschwunden und nur die wenigsten kehrten in die Heimat zurück.